Das alte Lied von den Noten
Bild: Paolo Dutto / 13 Photo
Die Leistungsbewertung von Schülerinnen und Schülern mittels Noten ist verzerrend und schon lange umstritten. Höchste Zeit, dass sich die Schule hin zu einem zeitgemässen, fairen und am Kind orientierten System der Beurteilung weiterentwickelt. Hierzu braucht es auch das Vertrauen der Eltern.
Die Bewertung von Leistungen unserer Schülerinnen und Schüler durch Noten ist wahrscheinlich so alt wie die Schule selbst und nicht erst seit heute umstritten. Schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts untersuchten Studien systematisch die Prüfungs- und Beurteilungspraxis an öffentlichen Schulen. Diese stellten schon damals die Legitimation der Bewertungen grundsätzlich infrage. Spätestens ab den 1950er-Jahren wurden die wissenschaftlichen Bedenken dann auch in der Praxis diskutiert.
Dass die Notenthematik bis heute immer wieder hochkocht, hat sicherlich auch mit der Existenz Dutzender unwiderlegter Untersuchungen zu tun. Diese zeigen, dass herkömmliche Leistungsurteile sehr anfällig für eine Reihe von Verzerrungen sind und deshalb an der eigentlichen Leistung unserer Kinder vorbeiurteilen. Denn Noten vermitteln eine Scheingenauigkeit. Die Lernfortschritte der einzelnen Schülerinnen und Schüler sind weder erfasst noch sichtbar gemacht, und ausschliesslich mit Noten können Leistungen nicht adäquat abgebildet werden.
Ungleiche Voraussetzungen
Zur Veranschaulichung: Stellen Sie sich vor, Sie müssten Ihren Kindern, während diese das Fahrradfahren erlernen, Noten geben. Wie und was würden Sie beurteilen? Die Schnelligkeit, wie das vonstattengeht? Hätte die Tatsache, dass Ihr Kind hinfällt und wie oft das geschieht, auch Einfluss auf Ihre Note? Ein Kind, das die Möglichkeit hat, ein Laufrad zu benutzen, bevor es auf ein richtiges Velo umsteigt, geniesst mit Bestimmtheit den Vorteil, das Gleichgewicht auf einem Zweirad bereits halten zu können. Es ist folglich viel schneller fähig, auf ein Velo zu steigen und loszupedalen als eines, das noch nie auf einem zweirädrigen Gefährt sass und sich diese Balancefähigkeit zuvor nicht aneignen konnte.
Lernfortschritte sind in Noten weder erfasst noch sichtbar gemacht, und Leistungen können mit Noten allein nicht angemessen abgebildet werden.
Wie sollen diese Kinder nun bewertet werden? Das Kind mit dem Laufrad lernt logischerweise schneller und mit weniger Unfällen Velo zu fahren als jenes, das das erste Mal mit einem Zweirad unterwegs ist. Demzufolge müsste das zweite Kind die schlechtere Note bekommen, auch wenn es gar nicht die gleichen Voraussetzungen und Chancen hatte wie unser erstes Kind. Kann dann schlussendlich die gesetzte Zahl aufzeigen, wie und was das Kind gelernt hat und wo es noch üben sollte?
Was sich hier wie eine Posse liest, ist für Lehrerinnen und Lehrer eine tägliche Gratwanderung und ein Leben mit Widersprüchen. Vor allem in den ersten Schuljahren tummeln sich in den Klassen Kinder mit verschiedenen Leistungsniveaus, ungleichen Voraussetzungen und in ganz unterschiedlichen Entwicklungsstadien. Aus diesem Grund haben Lehrerinnen und Lehrer ja auch den berechtigten Auftrag, innerhalb der Klasse nach Möglichkeit differenziert zu unterrichten. Das heisst, die Schülerinnen und Schüler dort abzuholen, zu fordern und zu fördern, wo sie sich in ihrem Leistungsstand gerade befinden.
Nur, bei der Notengebung hat dann diese Differenzierung des kindlichen Entwicklungsstandes aufzuhören. Am Ende einer Lerneinheit werden alle wieder mit der gleichen Elle gemessen, und es muss meist anhand von Tests in einer Momentaufnahme festgehalten werden, wie viele Aufgaben richtig gelöst oder wie viele Fragen richtig beantwortet worden sind. Anhand eines bestechend einfachen Systems (Zahlen von 1 bis 6), welches Schülerinnen und Schüler wie auch Eltern in unserem Land seit Generationen prägt, wird also der Lernstand unserer Kinder festgehalten.
Denken Sie bitte wieder an das Beispiel mit dem Erlernen des Velofahrens. Noten haben den trügerischen Vorteil, dass sie einfach aufzuzeigen scheinen, wie das Kind in einem bestimmten Thema abgeschnitten hat. Sie sind ein altbewährtes Mittel, Leistungen und vielleicht auch Anstrengungen von Schülerinnen und Schülern zu etikettieren. Noten sind aber kein taugliches Mittel, um einen Lernprozess oder eine Lernentwicklung aufzuzeigen. Deshalb hat die Schule schon seit mehreren Jahren den Auftrag, nicht nur summative (bilanzierend mittels Noten), sondern auch formative (förderorientierte) und prognostische Beurteilungen vorzunehmen.
Letztere basieren auf einer engen Kommunikation zwischen Lehrerinnen und Lehrern und ihren Schülerinnen und Schülern und sollen ebenfalls Einfluss auf die Zeugnisnote des Schülers oder der Schülerin haben. Sie geben Lehrerinnen und Lehrern die Möglichkeit, jenseits eines starren Zahlensystems auf die Lernprozesse der Kinder einzugehen. So weit, so gut. In der Praxis wird es dann schwierig, wenn Zeugnisnoten als reine Durchschnittsrechnungen von geschriebenen Schulprüfungen gesehen werden. Vielerorts geraten Lehrerinnen und Lehrer unter Druck, wenn die Zeugnisnoten nicht dem errechneten Durchschnitt entsprechen.
Fürs Leben statt für Noten lernen
Auch wenn der Abschied von Althergebrachtem und Bekanntem nicht leicht ist, das Ziel der Schule muss langfristig sein, neue Wege der Leistungsbegleitung und -bewertung zu suchen und zu erproben. So, dass Können, Querdenken, Kreativität, Fantasie, aber auch Fähigkeiten wie Durchhaltewillen, Zusammenarbeit mit anderen, Teamgeist, Anstrengungsbereitschaft und Frustrationstoleranz besser berücksichtigt werden können. Denn wenn schulisches Streben nur auf «Notenerwerb» zielt, Unterricht zum «teaching to the test» oder «learning for the test» mutiert, lernen wir alle an dem vorbei, was in Zukunft immer wichtiger wird: Kreativität, soziales Lernen und die Fähigkeit, mit Fantasie Probleme zu lösen.
Die Noten wie einen heiligen Gral zu behandeln, ist nicht mehr zeitgemäss und bremst die Schule in ihrer Entwicklung aus.
Um es ganz sachlich auf den Punkt zu bringen: Mit dem Wandel in unserer Gesellschaft – der fortschreitenden Digitalisierung, der Kompetenzbeurteilung in Verbindung mit dem Lehrplan 21, der schulischen Integration und der Anerkennung der Unterschiedlichkeit unserer Kinder – muss das Bewertungssystem in unserer Schule ebenfalls einen Wandel erfahren. Dies kann nur mit einem transparenten Bewertungssystem und einem klaren, interkantonalen Konzept erfolgreich sein, welches nebst oder anstelle von Noten auch das professionelle Ermessen von Lehrerinnen und Lehrern zulässt. Vonseiten der Eltern wiederum braucht es Vertrauen in die Professionalität von Lehrerinnen und Lehrern, damit diese die Schülerinnen und Schüler in die Zukunft führen können. Schliesslich sollte es sowohl Eltern als auch Lehrerinnen und Lehrern in der Sache ja nur um eines gehen: eine faire, zeitgerechte und am Kind orientierte Beurteilung, die es dort abholt, wo es gerade steht.
In der heutigen Schule, wo Schülerinnen und Schüler mit verschiedenen Leistungsniveaus in einer Klasse sitzen, wo es um die Kompetenzorientierung geht, wo man ins digitale Zeitalter aufbricht, ist es auch höchste Zeit, das Bewertungssystem zu modernisieren. Die Noten dabei wie einen heiligen Gral zu behandeln, ist nicht mehr zeitgemäss und bremst die Schule in ihrer Entwicklung aus.