So gehen Kinder gerne in die Schule
Viele Kinder starten mit grosser Freude in die erste Klasse. Damit sich nach dem Abflachen der Anfangseuphorie eine dauerhaft positive Haltung der Schule gegenüber etablieren kann, müssen indes drei psychologische Grundbedürfnisse befriedigt sein.
Viel zu früh, ein wenig aufgeregt und mit leuchtenden Augen spaziert das Kind am ersten Schultag los. Vergnügt und mit roten Bäckchen kommt es am Mittag zurück: Viele Erstklässler lieben es, endlich ein Schulkind zu sein. Und viele Eltern hoffen, dass diese Lust auf Schule ihre Kinder möglichst bis zum Abschluss begleitet. «Mein Kind soll Freude am Lernen haben und gern zur Schule gehen» ist so auch der zentrale Wunsch, den die rund 7700 Befragten bei einer aktuellen Studie der Stiftung Mercator Schweiz mit dem Titel «Welche Schule will die Schweiz?» äussern.
Der Alltag vieler Familien mit Schulkindern sieht dennoch anders aus. Da wird über die Hausaufgaben geschimpft, über die blöden Lehrpersonen, über nervende Mitschüler. Und das Lernen auf die Prüfungen ist eh eine Qual. Etwa zehn Prozent der Schülerinnen und Schüler in der Schweiz leiden gar unter Schulabsentismus, bleiben also der Schule fern, ohne krank zu sein. Einer der häufigsten Gründe: Angst. «Gern zur Schule gehen» sieht anders aus – aber wie? Wie muss eine Schule sein, in der sich Kinder wohlfühlen? Und gibt es überhaupt ein Patentrezept, das für alle Schüler gleichermassen funktioniert?
Fortschritte sehen, mitbestimmen und eingebunden sein
«Es gibt zumindest drei psychologische Grundbedürfnisse, die alle Menschen haben, damit sie etwas gern tun. Sie gelten auch für Schüler, damit sie sich in der Schule wohlfühlen», sagt Tina Hascher, Professorin für Schul- und Unterrichtsforschung an der Universität Bern. Einmal sei da das Bedürfnis nach Kompetenzerleben. «Wir alle möchten etwas dazulernen und diese Lernfortschritte sehen», meint die Erziehungswissenschaftlerin.
Bei den gängigen Leistungskontrollen in der Schule, bei denen es Noten gibt, passiere jedoch häufig das Gegenteil: Kindern wird vor Augen geführt, was sie noch nicht können. «Besser geeignet sind da persönliche, mündliche Rückmeldungen sowie Selbsteinschätzungen der Kinder», so Hascher. Kompetenzerleben bedeutet auch: Schülerinnen werden weder unter- noch überfordert. «Ist das der Fall, kann ich meine Kompetenz nicht zeigen und dann schalte ich als Schüler ab, fange an zu träumen oder zu stören», sagt Katrin Tovote, Dozentin für Entwicklungspsychologie an der Fachhochschule Nordwestschweiz.
Wir alle möchten etwas dazulernen und diese Lernfortschritte sehen.
Tina Hascher, Erziehungswissenschaftlerin
Ein zweites zentrales Grundbedürfnis ist das nach Autonomie und Mitbestimmung. «Hierunter fallen Dinge wie selbstreguliertes Lernen, Projekte, Gruppenarbeiten, jahrgangsgemischte Klassen und Lehrpersonen, die sich als Unterstützer dieser Selbständigkeit sehen», sagt Tina Hascher. So kann ein Klassenrat beispielsweise dazu beitragen, sich aktiv für die Klasse und die Schule einzusetzen und sich als Teil der Gemeinschaft zu verstehen. Oder Lehrpersonen arbeiten mit Wahlmöglichkeiten bei Themen, um sich an den Interessen der Kinder zu orientieren, nennt Iris Dinkelmann, Dozentin für Pädagogik und Psychologie an der Pädagogischen Hochschule Thurgau, ein weiteres Beispiel.
Das dritte Bedürfnis ist die soziale Eingebundenheit – also Freunde in der Klasse, Lehrpersonen, die einen schätzen, eine Klassengemeinschaft, die niemanden ausschliesst. «All das gibt mir die emotionale Sicherheit, zu wissen: Wenn ich morgens zur Schule gehe, passiert mir dort nichts Schlimmes», sagt Tina Hascher. Fehlt es dagegen an einem guten Klassengefühl, sind Schüler gar nicht erst in der Lage, sich auf die Schule einzulassen. «Wer Angst hat, ist mit seiner Angst beschäftigt und nicht damit, etwas zu lernen», sagt Katrin Tovote. Sie weist auch auf die Verantwortung der Eltern hin, das soziale Miteinander in der Schule zu unterstützen. «Dazu gehört beispielsweise, dass man nicht über eine Lehrperson schimpft, sonst kommt das Kind in Loyalitätskonflikte. Passt einem etwas nicht, klärt man das direkt mit der Schule und nicht über das Kind», sagt Katrin Tovote.
Ist ein Kind in der Schule sozial eingebunden, weder unter- noch überfordert und kann es dort auch selbstbestimmte Entscheidungen treffen, wird es in aller Regel eine positive Grundhaltung zur Schule entwickeln. «Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass das im Grossen und Ganzen gegeben ist. Die meisten Kinder gehen gern zur Schule und sind motiviert, zu lernen», sagt Iris Dinkelmann.
Beobachten Lehrer oder Eltern jedoch über einen längeren Zeitraum, dass die Schule keinen Spass macht, ist meist eines der drei aufgeführten Grundbedürfnisse nicht erfüllt. «Oft ist es auch ein Mix aus mehreren Dingen und die Kinder können gar nicht so genau sagen, woran es liegt», so Tina Hascher. Dann seien Eltern und Lehrpersonen als Beobachter gefragt.
Wenn der Misserfolg ein anderes Gesicht bekommt
Auch entwicklungsbedingte Veränderungen während der Schulzeit haben Einfluss auf die Erfüllung der Grundbedürfnisse, beispielsweise auf das Kompetenzerleben. «Zu Beginn der Primarschulzeit gehen Kinder in der Regel noch mit hohem Selbstvertrauen in die Schule. Ihr Bedürfnis nach Kompetenzerleben ist befriedigt, weil sie sich schulische Misserfolge oft damit erklären, dass sie sich einfach zu wenig angestrengt haben», sagt Iris Dinkelmann. Mit der Zeit werde diese Sicht aber differenzierter. «Fritz merkt plötzlich: Ich strenge mich zwar an in Mathe, aber Fränzi ist trotzdem besser als ich. Das kann natürlich zu Frust und Selbstzweifeln führen», so Iris Dinkelmann. Fritz läuft nun Gefahr, nicht mehr die fehlende Anstrengung, sondern seine fehlende Begabung oder Fähigkeit als Grund für seinen Misserfolg zu sehen, sein Kompetenzerleben leidet.
«Damit Fritz nicht aufgibt, ist es wichtig, dass Lehrpersonen andere Erklärungen anbieten und ihm aufzeigen, wie er es beim nächsten Mal besser machen kann.» Mit dem Übertritt in die Sekundarstufe I kann sich das Empfinden nach fehlendem Kompetenzerleben verstärken – vor allem bei den Kindern, für welche die Anforderungen steigen und die Notenpraxis strenger wird. Hinzu kommt, dass während der Pubertät die Freunde zur zentralen Bezugsgruppe werden und die Jugendlichen sich zunehmend von Eltern und Lehrpersonen abgrenzen. «Aushandlungsprozesse und Mitbestimmung spielen eine ganz besonders wichtige Rolle für das Autonomieerleben der Jugendlichen», sagt Iris Dinkelmann.
Für eine Zeugnisnote braucht man keine Teilnoten, die am Schluss zu einem Durchschnitt verrechnet werden.
Der Wunsch vieler Eltern, die Kinder mögen möglichst jeden Tag so euphorisch zur Schule gehen wie in ihren ersten Schultagen – er wird sich aus den verschiedenen aufgeführten Gründen also meist nicht täglich erfüllen. Muss er aber auch gar nicht, findet Tina Hascher. «Erwachsene gehen ja auch nicht jeden Tag mit einer wahnsinnig grossen Freude zur Arbeit. Es ist ganz normal, dass man dabei unterschiedliche Emotionen erlebt.» Wichtig sei, dass die positive Grundhaltung gegenüber der Schule stimme: Es ist okay, dahin zu gehen – und es ist wichtig.
Die Stiftung Mercator Schweiz hat gemeinsam mit dem Forschungsinstitut Sotomo Ende 2022 landesweit rund 7700 Erwachsene – ein Drittel davon Eltern von schulpflichtigen Kindern – gefragt, wie deren ideale Schule aussieht. Am wichtigsten ist den Befragten demnach, dass die Kinder gern zur Schule gehen, Freude am Lernen haben und in ihrem eigenen Tempo sowie individuell gefördert lernen können. Diesen Wunschvorstellungen stehen Dinge wie Prüfungen und Hausaufgaben als wichtigste Belastungsfaktoren gegenüber.
Mercator ist eine private, unabhängige Stiftung, die Handlungsalternativen in der Gesellschaft aufzeigen möchte, unter anderem im Bereich Bildung und Chancengleichheit.