Schulnoten unter der Lupe
Das Thema Schulnoten polarisiert. Wir haben Expertinnen und Experten gebeten, gängige Meinungen dazu einzuordnen.
Noten sind für das Kind ein Ansporn, sich Mühe zu geben.
«Das sind sie vor allem in den Jahren der schulischen Selektion. Untersuchungen zeigen, dass Schülerinnen und Schüler vor Übertritten sehr viel lernen – weil dann der Druck, gute Noten zu schreiben, sehr hoch ist. Was leider dazu führt, dass die Lernmotivation mittelfristig eher sinkt. Das ist die Kehrseite der Medaille.»
Philipp Bucher, Dozent für Schul und Unterrichtsentwicklung an der Pädagogischen Hochschule FHNW, ehemaliger Primarlehrer
Ohne Noten wissen Eltern nicht, wo ihr Kind schulisch steht.
«Eine bare Zahl sagt über den Lernstand des Kindes relativ wenig aus, sie zeigt nur, wie es im Vergleich zum Rest der Klasse abschneidet. Und aus Untersuchungen wissen wir, dass Kinder für die gleiche Leistung anders benotet werden: Je nach Zusammensetzung der Klasse, in der sie sitzen, schneiden sie bei gleichen Resultaten gut oder ungenügend ab. Um zu wissen, wo ein Kind schulisch steht, brauchen Eltern – und Kinder – nachvollziehbare Informationen dazu, was das Kind schon gut kann und wo es noch üben muss. Dahingehend ist der Informationswert von Noten sehr beschränkt.»
Katharina Maag Merki, Professorin für Theorie und Empirie schulischer Bildungsprozesse an der Universität Zürich
Lehrbetriebe legen viel Wert auf überfachliche Kompetenzen, Noten sind oft zweitrangig.
Markus Neuenschwander, Lernexperte
Spätestens Lehrbetriebe wollen Notenzeugnisse sehen.
«Was unsere Befunde deutlich zeigen: Lehrbetriebe legen viel Wert auf überfachliche Kompetenzen. Dabei gilt ihr Augenmerk klassischen Arbeitertugenden wie Anstand, Motivation, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit oder Teamfähigkeit. Sie sind matchentscheidend. Noten spielen bei der Auswahl auch eine Rolle, für kleinere Unternehmen sind sie aber oft zweitrangig. Das Zeugnis hilft Betrieben abzuschätzen, ob Lernende die Anforderungen der Berufsschule erfüllen können. Dass dafür immer mehr Unternehmen auf das Angebot privater Testanbieter zurückgreifen und Bewerbende zu deren Checks schicken, beobachte ich mit Unbehagen. Die ‹Hoheit› über die Beurteilung sollte bei den Lehrpersonen bleiben – sie kennen die Jugendlichen am besten.»
Markus Neuenschwander, Leiter des Zentrums Lernen und Sozialisation an der Pädagogischen Hochschule FHNW
Mit Noten macht Lernen keinen Spass.
«Die Frage, ob Lernen Spass machen muss, geht über das Notenthema hinaus. Sicher: Ein einfaches Rezept, Kinder zum Lernen zu bringen, ist, sie lernen zu lassen, was sie interessiert. Leider ist dieses Rezept begrenzt anwendbar, denn häufig fehlt das Interesse am Stoff oder sind andere Dinge spannender. Der Vorteil am Lernen aus Spass: Es erfolgt selbstbestimmt. Die Motivationspsychologie zeigt: Kinder wollen sich als selbstbestimmt erleben, aber auch Teil der Gemeinschaft sein. Um diese Bedürfnisse zu verbinden, werden Ziele und Normen, die ursprünglich ausserhalb der eigenen Interessen lagen, verinnerlicht und damit zu eigenen Zielen und Normen. Lernen kann also auch durch äussere Faktoren angeregt werden, ohne dass Kinder sich fremdbestimmt fühlen. Es setzt folglich nicht zwingend Spass voraus. Sicher ist aber auch: Druck und Zwang, bedingt wodurch auch immer, erschweren das Lernen.»
Urs Moser, Leiter des Instituts für Bildungsevaluation an der Universität Zürich
Andere Beurteilungsinstrumente sind auch fehleranfällig. Dann kann man genauso gut bei den Noten bleiben.
«Das ist keine gute Begründung dafür, ein schlechtes Prognoseinstrument weiterhin zu verwenden. Angenommen, wir hätten Wetter-Apps, die so ungenau sind, dass es an Tagen, die als sonnig vorausgesagt wurden, oft regnet, und an voraussichtlich bewölkten Tagen häufig die Sonne scheint: Würden wir dann nicht einfach lieber aus dem Fenster schauen? Genauso sollten sich auch Schulen an dem orientieren, was Schülerinnen und Schüler machen, nicht fehleranfällige Prognosen verabsolutieren.»
Philippe Wampfler, Gymnasiallehrer und Universitätsdozent für Fachdidaktik Deutsch
Ganz ohne Noten geht es nicht.
«Das stimmt vermutlich. Schule findet nicht allein im Klassenzimmer statt, sie kollidiert mit gesellschaftlichen Realitäten – den Ansprüchen von Lehrbetrieben, Universitäten und so weiter. Dennoch sollten wir darum besorgt sein, dass die Folgen von Selektionsentscheidungen nicht ganz so hart sind, wie es hierzulande der Fall ist. Wir wissen zum Beispiel, dass sich die Leistungen von Jugendlichen aus den unterschiedlichen Sekundarniveaus in vielen Fächern stark überschneiden. Wir haben es also nicht selten mit schulisch ähnlich starken Jugendlichen zu tun, von denen die einen aber deutlich schlechtere Bildungsperspektiven haben – weil unser System sich auf ein Selektionsinstrument stützt, das Leistung nicht sauber abbildet.»
Winfried Kronig, Professor für Heil- und Sonderpädagogik an der Universität Freiburg
Noten lassen weder klassen- noch schulübergreifende Aussagen zu.
Urs Moser, Bildungsforscher
Die Abschaffung der Noten meint eigentlich die Abkehr vom Leistungsprinzip.
«Lernen ohne Noten führt nicht zwingend zu einem Schonraum ohne Leistungsanforderungen und ohne Beurteilung. Die Kritik an Noten zielt nicht auf die Abschaffung des Leistungsprinzips. Sie richtet sich vielmehr an die Konsequenzen, die an eine Zahl gebunden sind, von der nicht immer transparent ist, wie sie zustande kommt. Noten beziehen sich auf den Unterricht der jeweiligen Lehrperson und die Gesamtleistung der Klasse. Sie lassen weder klassen- noch schulübergreifende Aussagen zu und sind letztlich nur beschränkt geeignet, um über die erreichten Kompetenzen zu informieren. Die Forschung hat gezeigt, dass Noten nicht objektiv sind, dass sie ungenau messen und häufig nicht nur Leistungen, sondern auch andere Aspekte wie Herkunft oder Verhalten abbilden.»
Urs Moser