«Beim Lernen zählen die eigenen Fortschritte»
Philippe Villiger ist Schulleiter der Gesamtschule Schüpberg in Schüpfen BE. Er erzählt, warum die Schule seit acht Jahren auf Notenzeugnisse verzichtet und welche Erfahrungen sie damit macht.
Unsere Schule – sie besteht aus einer einzigen Klasse – besuchen 17 Kinder und Jugendliche von 6 bis 15 Jahren. Da eignen sich Noten als Beurteilungsinstrument schlecht. Sie erfassen nicht den Lernstand des einzelnen Kindes, sondern stellen eine Rangordnung innerhalb der Klasse her.
In unserem Fall wäre dies erst recht absurd. 2015 reichten wir bei der kantonalen Erziehungsdirektion ein Gesuch für eine erweiterte notenfreie Beurteilung ein. Diese hat zum Ziel, Kinder durch unterschiedliche Formen der Rückmeldung optimal beim Lernen zu unterstützen. Dafür verzichten wir gänzlich auf Noten.
Statt des Jahreszeugnisses erhalten die Schülerinnen und Schüler einen Beurteilungsbericht, der ihre fachlichen und überfachlichen Kompetenzen beschreibt. Wir versuchen ihren Kompetenzstand in wenigen Sätzen zu erfassen. Das ist aufwendig, aber ich bin sicher: Mit Worten gelingt dies besser als mit einer Note. Wenn ich schreibe, dass eine Schülerin ‹einfache Texte fliessend lesen kann›, lässt sich dies überprüfen. Sicher, man kann diskutieren, was ein einfacher Text ist – während eine Fünf in Deutsch nichts darüber aussagt, wie gut die Schülerin liest.
Damit Lehrbetriebe einschätzen können, ob Jugendliche den Anforderungen der Berufsschule gewachsen sind, stellen wir Lernenden zum Ende der achten Klasse zudem ein Kompetenzprofil aus. Es basiert auf der Vorlage von Anforderungsprofile.ch, einer Initiative von Arbeitgebern und Berufsexpertinnen aus Praxis und Schule. Bisher machten wir nie die Erfahrung, dass unsere Schülerinnen und Schüler bei der Berufswahl benachteiligt waren, weil sie keine Zeugnisnoten vorweisen konnten.
Mit Worten kann man die Kompetenzen eines Schülers besser erfassen als mit einer Note.
Eltern standen damals unserem Entscheid, auf Noten zu verzichten, positiv gegenüber. Wir hatten uns viel Zeit genommen, ihnen alles zu erklären. Manche äusserten die Sorge, ohne Noten nicht zu wissen, wo ihr Kind schulisch steht. So haben wir unser Rückmeldesystem verbessert und erweitert.
Heute sind die Eltern über das Lernen ihrer Kinder gut im Bilde. Einerseits erhalten sie regelmässig Rückmeldungen über das Lernheft, in dem die Kinder ihre Lernziele und Rückmeldungen von uns Lehrpersonen festhalten. Andererseits können Eltern Ende Jahr das Portfolio ihres Kindes einsehen, das besonders gelungene Arbeiten, aber auch Beurteilungen von uns Lehrpersonen umfasst.
Die Kinder erlebe ich motivierter, seitdem wir auf Noten verzichten. Bei denen, die aus anderen Schulen zu uns kommen, heisst es manchmal: Das kann ich nicht! Oft haben schlechte Noten diese Überzeugung so gefestigt, dass manche Kinder sich anfangs weigern, zu rechnen oder gar zu singen, weil sie ‹es› nicht können. Wir versuchen dem entgegenzuwirken und ihnen klarzumachen, dass beim Lernen vor allem die eigenen Fortschritte zählen.