Wer kann was am besten?
Sei es in der Schule oder auf Social Media: Kinder und Jugendliche (und nicht nur sie) vergleichen sich ständig. Sie gewinnen damit wichtige Informationen über sich selbst. Doch nicht allen gelingt das gleich gut.
Als Kind wollte ich wie meine Cousine sein. Sie hatte tolle Haare, ein cooles Zimmer, modische Kleider und weibliche Kurven. Wenn ich sie sah, überkam mich oft eine quälende Eifersucht. Warum empfand ich damals so? Und wie geht es den Kindern und Jugendlichen heute, wenn sie sich nicht nur mit Cousinen und Nachbarskindern vergleichen, sondern mit Influencern auf der ganzen Welt?
Anruf bei Katja Corcoran, Professorin für Sozialpsychologie an der Universität Graz. Sie forscht zu sozialen Vergleichen und räumt gleich zu Beginn unseres Telefongesprächs mit einem Missverständnis auf: Sich mit anderen zu vergleichen, ist nicht per se schädlich. Indem wir uns vergleichen, lernten wir unsere Umwelt und uns selbst kennen, sagt sie. Bei Kindern fängt das schon im Alter von ein oder zwei Jahren an.
Wir tendieren dazu, uns mit Menschen zu vergleichen, die leicht besser sind als wir.
Katja Corcoran, Sozialpsychologin
Realistisches Selbstbild entwickeln
Ob der soziale Vergleich uns motiviert und inspiriert oder neidisch und mutlos macht, hängt laut Corcoran davon ab, welches Bild wir von uns selbst haben und was wir uns zutrauen. Aber auch das Umfeld – etwa eine kompetitive Branche oder Klassengemeinschaft – spielt eine Rolle.
Junge Menschen vergleichen sich besonders stark, weil sie noch kein gefestigtes Selbstbild haben. Sie sind also, noch mehr als Erwachsene, darauf angewiesen, sich mit anderen zu vergleichen, um ein realistisches Selbstbild zu entwickeln. Durch Vergleiche finden sie heraus, welche Talente sie haben und welche Herausforderungen für sie machbar sind.
Katja Corcoran sagt: «Wir tendieren dazu, uns mit Menschen zu vergleichen, die leicht besser sind als wir selbst.» Wahrscheinlich weil uns das motiviert und wir gerne jemandem nacheifern wollen. Hingegen meiden wir den Vergleich mit Menschen, deren Talent, Aussehen, Intellekt oder Reichtum jenseits unserer Möglichkeiten liegt. Das passiert mehr oder weniger unbewusst. Aber offenbar funktioniert dieser Mechanismus auf Social Media weniger gut.
Das bestätigt Stefanie Schmidt, Professorin für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie an der Universität Bern. Sie sagt: «In den sozialen Medien vergleichen sich die Jugendlichen mit Leuten, die sehr weit weg sind von ihnen. Das führt dann häufig zu einer Abwertung der eigenen Person, weil man nicht die Ähnlichkeiten, sondern nur die Unterschiede wahrnimmt.»
Der Vergleich auf Social Media
Forschende sind sich einig: Menschen, die sich viel in den sozialen Medien aufhalten, sind psychisch belasteter als andere. Unklar ist die Kausalität. Werden Menschen depressiv wegen Social Media oder sind sie öfter auf Social Media, weil es ihnen nicht gut geht?
Dass es die Aufwärtsvergleiche in den sozialen Medien sind, welche das Selbstwertgefühl der Kinder und Jugendlichen beeinträchtigen, belegt nun eine Studie des Leibniz-Instituts für Bildungsforschung in Frankfurt am Main. Auch wenn die Forscherinnen und Forscher einräumen, dass weitere Studien notwendig sind, um die Ergebnisse zu erhärten und die Zusammenhänge besser zu verstehen.
Man kann den Effekt aber auch bei sich selbst beobachten: Wenn ich auf Instagram sehe, dass Menschen, die mit mir studiert haben, tolle Filme machen, freue ich mich zwar, aber ich frage mich auch, warum nicht ich es bin, die diese tollen Filme macht. Davon kriege ich – meist mit einer gewissen Verzögerung – schlechte Laune.
Glücklicherweise gelinge es uns mit zunehmendem Alter besser, unsere Gefühle zu regulieren, sagt Katja Corcoran. «Auch Erwachsene empfinden Neid, aber sie können diese Emotion besser einordnen und mit rationalen Argumenten relativieren.» So kann ich mir bewusst machen, dass es auch mit sehr viel Stress und Arbeit verbunden ist, Filme zu machen, und dass ich meinen entschleunigten Alltag vorziehe.
Mädchen sind anfälliger
Aber die eigenen Gefühle zu rationalisieren, kostet Energie und gelingt nicht allen gleich gut. Heranwachsende geraten eher in eine Negativspirale, weil ihre Emotionsregulierung noch nicht vollständig entwickelt ist. Ausserdem ist es für Erwachsene einfacher, die sozialen Medien zu meiden, während für Kinder und Jugendliche ein Teil ihres realen Soziallebens auf diesen Kanälen stattfindet.
Besorgniserregend findet Stefanie Schmidt, dass bei Jugendlichen insgesamt, aber vor allem bei jungen Frauen die psychischen Belastungen zugenommen haben. In der Wissenschaft gehe man davon aus, dass sich junge Frauen stärker vergleichen, auch auf Social Media, sagt die Professorin. So zeigen Studien, dass Mädchen mehr Zeit in den sozialen Medien verbringen als Jungs, die dafür mehr gamen. Vermutlich ist das so, weil für Mädchen soziale Beziehungen einen höheren Stellenwert haben.
Mädchen bewerten sich oft schlechter, als sie sind. Jungs sind realistischer oder überschätzen sich.
Philipp Bucher, Dozent für Schul- und Unterrichtsentwicklung
Vielleicht suchen Mädchen den sozialen Vergleich aber auch eher, weil ihr Selbstbild weniger präzise ist als das von Jungs. Zumindest scheint das bei schulischen Leistungen der Fall zu sein. «Mädchen schätzen ihre Leistungen oft schlechter ein, als sie in Wirklichkeit sind, während bei Jungs die Einschätzung eher mit der Realität übereinstimmt oder die eigenen Fähigkeiten überschätzt werden», sagt Philipp Bucher, Dozent für Schul- und Unterrichtsentwicklung an der Pädagogischen Hochschule FHNW, über den sozialen Vergleich in der Schule.
Ausserdem würden Mädchen von Lehrpersonen eher für Fleiss und Anstrengung gelobt, während Jungs für die gleiche Leistung das Prädikat «begabt» umgehängt bekämen. Was es den Mädchen erschwere, sich verlässlich einzuschätzen.
Leider eignen sich die sozialen Medien besonders schlecht für die Entwicklung eines realistischen Selbstbildes. Stefanie Schmidt rät, mit Jugendlichen darüber zu sprechen, dass Menschen auf Social Media immer nur ein vorteilhaftes und nie ein realistisches Bild von sich selbst präsentieren. Und natürlich ist es auch gut, den Gebrauch von Social Media zeitlich zu begrenzen.
- Lehrpersonen und Eltern können Kindern, wenn es um Leistung geht, temporale Vergleiche nahelegen. Wie hat sich jemand innerhalb einer gewissen Zeitspanne verbessert?
- Eltern sollten mit ihren Kindern darüber reden, dass Menschen sich auf Social Media immer vorteilhaft präsentieren und nie ein realistisches Bild von sich zeigen. Deswegen ergibt es keinen Sinn, sich mit ihnen zu vergleichen. Für einen realistischen Vergleich fehlt uns das Hintergrundwissen. Welche Opfer hat die Person auf Social Media für ihren Erfolg oder ihre Schönheit erbracht?
- Eltern können ihre Kinder dazu ermutigen, zu reflektieren, ob sie oberflächlichen Dingen wie Aussehen oder Karriere überhaupt so viel Bedeutung einräumen wollen.
- Mit unterschiedlichen Hobbys und sozialen Aktivitäten speist sich das Selbstwertgefühl der Jugendlichen aus verschiedenen Bereichen.
Noten – kein geeignetes Instrument
Vor Kurzem fragte ich den Sohn meiner Cousine (ja genau: dieselbe Cousine), wie es ihm in der Sek gefalle. Er korrigierte sofort, dass er in die Realschule gehe, und fügte vorauseilend an, dass er eben dumm sei. Und nein, es gefalle ihm nicht in der Schule.
Wenn eine Leistung benotet und ins Verhältnis zur restlichen Klasse gesetzt wird, ist das für all jene demotivierend, die im Vergleich schlecht abschneiden. Das heisst aber nicht, dass sie tatsächlich schlecht sind. Philipp Bucher sagt, es wäre hilfreicher, wenn die Lehrperson den Schülerinnen und Schülern andere Massstäbe für den Vergleich an die Hand gäbe. Zum Beispiel: Habe ich mich innerhalb einer bestimmten Zeitspanne verbessert? Was kann ich schon gut? Was kann ich noch verbessern?
Bucher betont auch, dass es weitreichende Folgen habe, wenn ein Kind sich in der Schule als unfähig – oder «dumm», wie der Sohn meiner Cousine sagt – erlebe. Vielleicht wird dieser Mensch seine intellektuellen Fähigkeiten ein Leben lang unterschätzen und sich wenig zutrauen.
Wer umgekehrt vergleichsweise gut ist, entwickelt ein positives Selbstkonzept, das gute Leistungen und gute Noten nochmals begünstigt. Damit erhöhen sich die Chancen auf ein erfolgreiches Berufsleben und ein hohes Gehalt, was sich wiederum positiv auf die Lebenserwartung auswirkt.
Ein vielfältiges Umfeld hilft
Viele Pädagogen und Pädagoginnen sehen die ständige Bewertung von Kindern und Jugendlichen kritisch. Allen voran der Uni-Dozent und Gymnasiallehrer Philippe Wampfler, der in seinem Buch «Eine Schule ohne Noten» argumentiert, dass Noten die Lernmotivation behinderten. Wampfler sagt: «Lernen ist menschlich und Lernen ist einfach.» Aber Lernen sei auch ein dynamischer und komplexer Prozess, der sich nicht so einfach auf eine Note reduzieren lasse, so der Pädagoge. Man könnte auch fragen: Warum sollten Schülerinnen und Schüler dazu angeregt werden, sich anhand einer Zahl zu vergleichen, die ihre Kompetenzen nur unzureichend spiegelt?
Wampflers Argumente leuchten ein. Doch wird es nicht immer Kinder geben, die im Vergleich zu ihrem Umfeld schlechter oder sogar miserabel abschneiden? Und werden diese Kinder nicht auch ohne Noten feststellen, dass ihr Sitznachbar die Aufgaben begreift, während sie nicht mitkommen?
Jugendpsychologin Stefanie Schmidt sagt: «Je vielfältiger das Umfeld ist, desto eher besteht die Möglichkeit eines realistischen und konstruktiven Vergleichs.» Wenn es in einem Dorf, einem Quartier, einer Klasse oder an einer Schule unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Talenten, Interessen und Vorlieben gibt, dann ist die Chance, dass ich jemanden finde, mit dem ich den Vergleich nicht scheuen muss, am grössten.
Hier kann es hilfreich sein, wenn Eltern und Lehrpersonen die Kinder zu unterschiedlichen schulischen und sozialen Aktivitäten ermutigen, damit sie mit verschiedenen Menschen und Themen in Kontakt kommen. So verteilt sich das Selbstwertgefühl auf verschiedene Bereiche und wird stabiler.
Eltern geben den Druck weiter
Heute haben Schülerinnen und Schüler einen perfektionistischen Anspruch, sagt Stefanie Schmidt und bezieht sich auf eine britische Metastudie, die zeigt, dass der Leistungsdruck bei Lernenden in den USA, Kanada und Grossbritannien in den letzten dreissig Jahren kontinuierlich gestiegen ist. In der Wahrnehmung der Jugendlichen sind es die Eltern, die hohe Erwartungen haben. Eine Studie von Pro Juventute zum Stressempfinden von Kindern und Jugendlichen zeigt ein ähnliches Ergebnis.
Offenbar setzen Mütter und Väter heute ihre Kinder stärker unter Druck. Allerdings sind Eltern keine von der Gesellschaft losgelöste Gruppe, sondern spiegeln die gesamtgesellschaftliche Entwicklung hin zu Selbstoptimierung und Perfektionismus.
Eltern haben auch an sich unrealistisch hohe Ansprüche. Sie wollen ihre Kinder liebevoll begleiten, ihnen aber auch Grenzen setzen, sie fördern, aber nicht überfordern und bei all dem auch ihre eigene Karriere verfolgen und ein möglichst erfülltes Sozial- und Beziehungsleben haben. Und natürlich vergleichen Eltern sich und ihre Kinder ständig! Sie wollen schliesslich voneinander lernen, aber ein bisschen schwingt immer auch die Sorge mit: Ist das eigene Kind gesund, sozial, geschickt, intelligent und glücklich genug?
Was es für das Lebensglück des Kindes wirklich braucht
Stefanie Schmidt sagt, Eltern wollten ja immer nur das Beste für ihr Kind. Aber manchmal ist vielleicht gerade dieser Wunsch nach idealen Bedingungen und das grosse Interesse an der Entwicklung des Kindes problematisch, weil zunehmend vorgegeben wird, wie das Kind sich entwickeln soll. Sobald etwas nicht der Norm entspricht, wird es für Eltern und Kind stressig.
Wir sollten unsere Kinder so akzeptieren, wie sie sind, statt sie in einen Rahmen zu drängen, in den sie nicht passen.
Eltern sollten versuchen, ihre Kinder so wertzuschätzen und zu akzeptieren, wie sie sind, gerade auch in der Pubertät. Schmidt sagt, dass in unserer Gesellschaft die Idee vorherrsche, dass beruflicher Erfolg zu einem glücklichen Leben führe. Deswegen versteht sie auch die Angst der Eltern, wenn ihr Kind in der Schule nicht mitkommt. Hier hilft es, wenn Eltern und Lehrpersonen verstehen, dass es für das Lebensglück des Kindes förderlicher ist, wenn es in seinen individuellen Fähigkeiten und Wesenszügen akzeptiert und gefördert wird, als wenn es in einen Rahmen gedrängt wird, in den es nicht passt.
Wir wollen uns gut fühlen
Kinder und Jugendliche, die in ihren Eigenheiten wertgeschätzt werden, entwickeln ein besseres Selbstbewusstsein und können vom sozialen Vergleich profitieren. Der soziale Vergleich dient nämlich auch der Selbstaufwertung. Zwar glauben Menschen manchmal, dass den anderen vieles leichter fällt. Es gibt aber auch die gegenläufige Tendenz, die eigenen Fähigkeiten und Charaktereigenschaften im Vergleich mit anderen zu überschätzen. Der «Above Average Effect» wurde zuletzt 2023 in einer türkischen Studie nachgewiesen. 80 Prozent der Befragten glaubten, sie seien intelligenter als der Durchschnitt.
Wie passt das zusammen? Katja Corcoran sagt, Menschen wollten sich gut fühlen und deswegen sei es ganz natürlich, dass man sich auf seine Stärken konzentriere und sich allenfalls auch etwas schönrede. Vergleiche würden uns dabei helfen. Wenn zum Beispiel jemand im Supermarkt unfreundlich zur Kassiererin oder zum Kassier ist und ich mich dann umso freundlicher verhalte, bestätigt mir der Vergleich mit dieser Person, dass ich ein guter Mensch bin.
Vergleiche dienen der Orientierung
Der soziale Vergleich ist denn auch ein wichtiger Motor für gesellschaftliche und persönliche Entwicklung. Wenn ich Neid empfinde, habe ich es vielleicht mit einer sozialen Ungerechtigkeit zu tun oder mit einer verdrängten Sehnsucht. Vielleicht möchte ich etwas in meinem Leben ändern oder es braucht eine gesellschaftliche Veränderung. In jedem Fall steckt in diesem Gefühl grosses Erkenntnispotenzial.
Junge Menschen kommen oft in neue Situationen: neue Klasse, neue Schule, neue Freunde, Lehre, Studium, erster Job, Auslandaufenthalt. «In neuen Situationen vergleichen wir uns stärker», sagt Katja Corcoran. Um uns im neuen Umfeld zu orientieren, saugen wir automatisch alle Vergleichsinformationen auf, die uns zugänglich sind: Wie verhalten sich die anderen? Wie kleiden sie sich? Was sind die sozialen Codes? Was muss man wissen und können?
Man könnte also auch sagen, wer sich viel vergleicht, hat wohl ein dynamisches, aufregendes, lehrreiches Leben. Zu einem solchen Leben gehört auch, sich manchmal schlecht zu fühlen. Schliesslich wollen wir unseren Kindern die wichtigste Lektion des Lebens nicht vorenthalten: dass es auch okay ist, zu scheitern. Dass wir auch Schwächen haben und zeigen dürfen. Und dass negative Gefühle wie Wut, Trauer und Neid auch ihre Berechtigung haben und uns etwas über uns selbst und unsere Umwelt erzählen.