Höher, schneller, weiter – was perfektionistische Kinder antreibt
Sie wollen allen Ansprüchen genügen und stellen sich beim kleinsten Misserfolg als Person infrage: perfektionistische Kinder und Jugendliche. Was verbirgt sich dahinter? Und wie können Eltern gegensteuern?
Wie belastend das auch für Eltern ist, illustriert die folgende Aussage einer Mutter, mit der wir für dieses Dossier gesprochen haben: «Ich finde es am schwierigsten, zu erleben, dass sich meine Tochter immer, wenn ihr etwas nicht wie gewünscht gelingt, selbst gleich komplett infrage stellt. Sie ärgert sich dann nicht nur über diese eine Sache, sondern findet sich insgesamt völlig unbegabt und dumm.»
Manche Kinder können sich wegen eines ‹dummen Fehlers› nicht mal über eine sehr gute Note freuen.
Oft sind die hohen Standards in Stein gemeisselt: Auch wenn sie wiederholt nicht erreicht werden, sind perfektionistische Kinder und Jugendliche nicht in der Lage, die Messlatte anzupassen und sich über kleinere Fortschritte zu freuen.
Diskrepanzerleben: «Ich hätte es besser machen können»
«Jetzt sei doch mal stolz auf dich!», möchte man dem Kind zurufen, das sich verurteilt, nur weil es in einem Test nicht die maximale Punktzahl erreicht hat. Alle Versicherungen im Sinne von «Kein Mensch hat gemerkt, dass du beim Vorspiel diesen Ton nicht ganz getroffen hast» werden abgewehrt mit dem Argument: «Aber ich weiss es! Und das hätte mir nicht passieren dürfen!»
In der Gruppe der Gleichaltrigen kann diese Tendenz schnell ins soziale Abseits führen: Ein sehr leistungsstarkes Kind, das auf einem einzelnen Fehler herumreitet, stösst bei anderen rasch auf Ablehnung. Wer würde sich nicht über die Klassenkameradin ärgern, die auf höchstem Niveau klagt, wenn man selbst gerade zum wiederholten Male eine ungenügende Note erhalten hat?
Fehlersensibilität: «Ich bin ein Versager, wenn ich das nicht kann!»
Perfektionisten gelingt es nicht, Fehler als Teil des Lernprozesses anzunehmen. Manche Kinder bestrafen sich selbst, schlagen sich, wenn ihnen etwas nicht in den Kopf will, radieren wegen eines einzigen falschen Ergebnisses wütend das ganze Arbeitsblatt wieder aus oder zerreissen die fast fertige Zeichnung, weil eine Kleinigkeit ihren Ansprüchen nicht genügt.
Eine falsche Antwort im Unterricht? Dafür gibt es nur einen Grund: persönliche Unfähigkeit!
Für sich selbst legen sie andere Regeln und Standards fest als für andere Kinder: Diese dürfen üben und Fehler machen. Aber bei ihnen soll das Vorlesen klingen wie bei einem Erwachsenen, auch wenn sie gerade erst die Buchstaben kennenlernen.
Fehler werden gnadenlos auf die Persönlichkeit zurückgeführt. Egal, ob ein fehlplatzierter Ball, eine falsche Antwort im Unterricht oder ein Fehler im Diktat: Für all das gibt es nur einen Grund: persönliche Unfähigkeit! Dadurch werden Scham- und Schuldgefühle oder Wutausbrüche zu ständigen Begleitern.
Viele perfektionistische Menschen neigen darüber hinaus zu Katastrophendenken. Sie sehen in einem Fehler gleich das erste Glied einer langen Kette aus Misserfolgen: «Wenn ich es jetzt nicht schaffe, werde ich es nie schaffen und dann kann ich meine Träume auch gleich begraben.» Schon scheint der Notenschnitt im Zeugnis versaut, der Platz auf der Ersatzbank sicher.
Selbstwertkontingenz: «Zuneigung muss man sich verdienen!»
Perfektionistinnen machen ihren Wert als Mensch an ihren Leistungen fest. Sie glauben, dass man nur akzeptiert und geliebt werden kann, wenn man viel leistet und sich nichts zuschulden kommen lässt. Sie fürchten sich davor, dass sich andere Menschen enttäuscht von ihnen abwenden oder sie auslachen werden, wenn sie einen Fehler machen. Und sie empfinden sich selbst als wertlos, wenn sie ihren Ansprüchen nicht genügen.
Oft tragen sie ein tief sitzendes Gefühl mit sich herum, nicht zu genügen. Ständig müssen sie an sich arbeiten und Erfolge vorweisen können, um sich und andere vom Gegenteil zu überzeugen. Rasch werden sie rastlos und fürchten um ihre Stellung, wenn andere Erfolge erleben oder sie zu lange nicht mit guten Leistungen glänzen konnten.
Viele Perfektionisten sorgen sich massiv um ihre Leistungsfähigkeit.
Eine Betroffene erinnert sich: «Ich mochte mich als Kind und Jugendliche überhaupt nicht leiden, ich hatte nicht so viele Freunde, war eher für mich. Ich hatte das Gefühl, eine Aussenseiterin zu sein. Sobald ich gute Leistung zeigte, verbesserte sich das Gefühl.»
Hadern perfektionistische Kinder und Jugendliche mit sich selbst, können sie Trost und Zuspruch kaum annehmen, weil sie glauben, diesen nicht verdient zu haben.
Geringe Selbstwirksamkeit erwartet: «Ich kann das nicht!»
Hohe Ansprüche wirken weniger bedrohlich, wenn wir glauben, diese auch erfüllen zu können. Viele Perfektionisten sorgen sich jedoch massiv um ihre Leistungsfähigkeit: «Ich weiss gar nicht, wo ich anfangen soll. Das ist zu viel. Ich schaffe das nicht!»
Für Eltern und Lehrkräfte ist es oft unverständlich, wie Kinder mit so guten Leistungen jedes Mal neu in Panik verfallen können, wenn ein Test, eine mündliche Abfrage oder ein Vortrag anfällt. Die Beschwichtigung «Ich weiss doch, dass du es kannst!» ist genauso wirkungslos wie das Aufzählen vergangener Erfolge. Könnte nicht heute genau der Tag sein, an dem alles schiefläuft? Oder noch schlimmer: Der Tag, an dem alle sehen werden, dass man bisher nur Glück hatte und immer überschätzt wurde? Der Tag, an dem man als Hochstapler entlarvt wird?
Zwei gegensätzliche Strategien
Bei perfektionistischen Kindern und Jugendlichen sieht man oft zwei gegensätzliche Wege, mit diesem Mangel an Selbstvertrauen umzugehen. Einige stürzen sich in die Arbeit, bereiten sich gewissenhaft vor und wollen nichts dem Zufall überlassen, um ja nicht zu versagen. Sie lernen den Vortrag auswendig, pauken auf Tests jedes kleinste Detail und überarbeiten schriftliche Aufgaben unzählige Male. Andere wiederum versuchen ihre Ängste zu reduzieren, indem sie Aufgaben komplett vermeiden oder vor sich herschieben.
Viele Kinder und Jugendliche zeigen eine Kombination beider Strategien: Solange sie einer Anforderung aus dem Weg gehen können, wählen sie diesen Weg. Sie verzichten darauf, etwas Neues zu lernen, und meiden in der Freizeit jegliche Leistungs- und Wettbewerbssituationen. Können sie – beispielsweise bei Tests in der Schule – nicht ausweichen, arbeiten sie bis zur Erschöpfung, um sich perfekt vorzubereiten.
Wir können froh sein, dass wir Menschen haben, die die Dinge sehr gut machen wollen!
Christine Altstötter-Gleich, Psychologin
Hohe Ansprüche müssen nicht per se hinderlich sein. Die Psychologin und Perfektionismusexpertin Christine Altstötter-Gleich betont sogar: «Wir können froh sein, dass wir Menschen haben, die die Dinge sehr gut machen wollen, weil wir ganz viel von ihnen profitieren!»
Kann Perfektionismus nicht auch eine Stärke sein?
Hohe Standards sind in vielen Bereichen die Grundlage für aussergewöhnliche Leistungen. Ob Spitzenkoch, Profisportlerin, Ausnahmemusiker oder Nobelpreisträgerin: Möchte man ganz nach oben kommen, kann man sich nicht mit «gut genug» zufriedengeben.
Wer jedoch trotz hoher Ansprüche Freude an seinem Tun entwickeln will, muss in der Lage sein, Fehler als Teil des Lernprozesses zu begreifen, gelegentliche Misserfolge nicht persönlich zu nehmen und in die eigene Entwicklungsfähigkeit zu vertrauen.
Viele Forschende sprechen in diesem Fall von einem gesunden Exzellenzstreben und grenzen dieses von Perfektionismus ab. Andere bezeichnen diese Form als positiven, selbstorientierten oder funktionalen Perfektionismus.
No-Go-Sätze für perfektionistische Kinder
Sind Kinder und Jugendliche perfektionistisch veranlagt, frustriert das Eltern und Lehrkräfte oft sehr. Es tut einem im Herzen weh, wenn man sieht, dass ein Kind sich doch eigentlich entspannen und über seine Stärken und Erfolge freuen dürfte, stattdessen aber in einer Spirale aus Druck, Panik und Selbstabwertung gefangen ist.
In der Folge versuchen Erwachsene oft, den Druck zu reduzieren, indem sie die Botschaft senden: «Nimm das nicht so ernst. Es ist nur eine Note.» Oder: «Das ist doch gut! Andere würden sich über so eine Leistung freuen! Sei nicht immer so streng mit dir.»
Wenn ein Kind sich als Versager bezeichnet, können wir ihm zeigen, dass wir seine Gefühle ernst nehmen.
Oft wirken diese Appelle für betroffene Kinder bedrohlich und moralisierend. Schliesslich haben sie ein starkes Leistungsmotiv und bauen darauf ihr Selbstwertgefühl auf. Und nun vermittelt man ihnen, dass dieser Weg falsch sei, bietet ihnen aber keine Alternativroute an, um sich wertvoll zu fühlen.
Eine Mutter zweier perfektionistischer Schulkinder erzählt: «Ich finde dieses Schwarz-Weiss-Denken so schwierig. Entweder gut oder schlecht, es gibt rein gar nichts dazwischen. Egal, wie man argumentiert oder versucht, die Kinder auf kleine Zwischenerfolge oder Verbesserungen aufmerksam zu machen: Es wird gnadenlos niedergemacht und sie stellen sich dann oftmals als Ganzes infrage.»
- Perfektionismus gilt in den Klassifikationssystemen psychischer Störungen nicht als eigenständige Störung oder Krankheit.
- Die Forschung zeigt jedoch, dass Perfektionismus die Anfälligkeit für viele verschiedene Störungen erhöht.
- Der unerbittliche Anspruch, makellos zu sein, und der Wunsch, alles unter Kontrolle zu haben, kann Essstörungen begünstigen.
- Das Empfinden, wertlos zu sein, wenn man nichts Aussergewöhnliches leistet oder äusseren Ansprüchen nicht genügt, macht anfällig für Depressionen und Burnout.
- Der Glaube, dass Fehler und Schwächen unverzeihlich und folgenreich sind und es im Leben vor allem darum geht, nichts falsch zu machen, kann zu Ängsten und Zwängen führen.
- Darüber hinaus versuchen einige Perfektionisten, ihrer inneren Unruhe und den damit verbundenen Schlafproblemen mit Beruhigungs- und Schlafmitteln Herr zu werden, und werden nicht selten davon abhängig.
- Schliesslich zeigen einzelne Studien sogar, dass Perfektionismus mit einer kürzeren Lebensdauer zusammenhängt – vermutlich aufgrund der chronisch erhöhten Stressbelastung.
Mein Kind ist perfektionistisch: Was kann ich tun?
Wenn wir kleinen Perfektionistinnen und Perfektionisten helfen wollen, müssen wir also akzeptieren, dass das Kind die Welt momentan so sieht und wir ihm diese Quelle für Bestätigung nicht einfach wegnehmen oder ausreden können. Sonst stellt sich für das Kind oder die Jugendliche die Frage: Wenn ich aber nicht mehr so gut sein darf oder soll, was bleibt dann von mir noch übrig?
So schwer es uns fallen mag: Wir müssen uns für die Denkweise des Kindes öffnen, sie verstehen wollen und sie nicht von vornherein als falsch, schädlich und irrational abtun – sonst wird sich das Kind nur zurückziehen oder verhärten.
Geduldig und in kleinen Schritten müssen wir als Eltern und Lehrkräfte das Universum dieser Kinder erweitern, ihnen vermitteln, dass Leistung nur ein Aspekt des Lebens ist und es andere Quellen gibt, um sich wertvoll und gebraucht zu fühlen. Wir müssen ihnen vermitteln, dass Lernen etwas anderes bedeutet, als keine Fehler zu machen und alles auf Anhieb zu beherrschen. Nicht, indem wir ihnen diese Aspekte gebetsmühlenartig eintrichtern, sondern indem wir ihnen andere Erfahrungen ermöglichen. Dabei ist manchmal auch die Begleitung durch eine Fachperson nötig.
Alisha, die uns für dieses Dossier von ihren unerbittlichen Ansprüchen an sich selbst und ihren Körper erzählt hat, beschreibt uns einen prägenden Moment: Die damals 13-Jährige brach beim Anprobieren einer neuen Jeans im Beisein ihrer Mutter vor dem Spiegel zusammen.
«Meine Tante hat mir einfach zugehört»
«Meine Mama fragte mich, warum ich weine, und ich sagte: ‹Schau mich doch mal an, ich sehe total dick aus!› Da war sie völlig schockiert, weil das offensichtlich nicht gestimmt hat. Sie hat das schnell abgetan: ‹Hey, du bist doch nicht dick! Jetzt mach dir nicht so viele Gedanken, das stimmt doch nicht, jetzt beruhige dich mal wieder.› Ich hätte da aber jemanden gebraucht, der sich zu mir setzt, mich in den Arm nimmt und sagt: Es ist schrecklich, dass du dich so siehst. Erzählst du mir, wie das für dich ist? Darf ich daran teilhaben, wie du dich fühlst?
Aus Sicht perfektionistischer Kinder und Jugendlicher kann nur Erfolg haben, wer alles auf Anhieb beherrscht.
Meine Patentante war die Erste, die so reagiert hat. Sie hat mich später in der Klinik, in der ich wegen meiner Anorexie behandelt wurde, besucht und gefragt, ob ich bereit sei, ihr zu erzählen, wie sich das anfühlt und warum ich das tue. Sie hat mir zwei Stunden zugehört. Einfach zugehört und mir nicht ständig irgendwelche Ratschläge, Tipps oder Floskeln unter die Nase gerieben. Das tat richtig gut. In diesem Gespräch ist mir zum allerersten Mal in den vielen Jahren meiner Anorexie bewusst geworden, wie absurd es für andere Menschen sein muss, dass man theoretisch essen könnte, es aber einfach nicht schafft.»
Gefühle ernst nehmen
Wenn ein Kind sich als Versager oder dumm bezeichnet, können wir seine Gefühle ernst nehmen und ihm zeigen, dass wir zuhören: «Dieser Fehler ärgert dich sehr!» Oder: «Du kommst dir gerade richtig blöd vor, weil du das vorher nicht gesehen hast?»
Nachdem sich das Kind beruhigt hat, können wir auf die Situation zurückkommen und ganz behutsam Fragen stellen wie: «Du hast vorhin gesagt, du seist ein Versager. Das hat mich ein bisschen beschäftigt. Was ist denn für dich ein Versager? Und wenn deine Freundin eine schlechte Note schreibt, ist sie dann auch eine Versagerin? Warum sie nicht, aber du?»
Wir können uns als Eltern vorstellen, dass wir die Gedankenwelt des Kindes betreten wie ein neues Universum. Wir wollen dabei herausfinden, was und wie es denkt und fühlt und welcher Logik es folgt. Dabei dürfen wir auch kritische Fragen stellen – aber eher als Anregung, über die das Kind auch ein paar Tage still nachdenken darf.
Ist Perfektionismus in Ihrer Familie ein Thema? Möchten Sie dazu eine Beratung? Rufen Sie an am Dienstag, 7. November. Oder stellen Sie Ihre Fragen per Mail an 24h@elternnotruf.ch, der Elternnotruf wird sie ab dem 6. November schriftlich beantworten.
Tel. 044 365 34 00
7. November, 17–23 Uhr
Der Weg zum Erfolg ist mit Fehlern gepflastert
Perfektionistische Kinder und Jugendliche sind oft fasziniert von herausragenden Persönlichkeiten und eifern diesen nach. Leider gehen sie davon aus, dass jeder Fehler, jeder Misserfolg sie zu Fall bringen und ihre Pläne zunichtemachen könnte: Aus ihrer Sicht kann nur Erfolg haben, wer alles auf Anhieb und mühelos beherrscht. Betroffene Kinder und Jugendliche brauchen Modelle, die ihnen zeigen, dass nichts weiter entfernt von der Wahrheit sein könnte als dieser Irrglaube. Dazu lassen sich Tausende Beispiele finden.
Man lernt nichts aus Erfolgen, man lernt alles aus den Misserfolgen.
Ed Sheeran, Musiker
So betont der berühmte Basketballspieler Michael Jordan: «In meiner Laufbahn habe ich mehr als 9000 Würfe verworfen. Ich habe fast 300 Spiele verloren. 26-mal war ich derjenige, der das Spiel gewinnen konnte, und ich habe danebengeworfen. Ich bin immer und immer wieder gescheitert. Genau deshalb bin ich erfolgreich.»
Und der weltbekannte Musiker Ed Sheeran sagte in einer Talkshow: «Die Leute sagen immer, ich sei so talentiert, dabei stimmt das gar nicht. Man lernt nichts aus Erfolgen, man lernt alles aus den Misserfolgen! Und das ist es, was mich ärgert an der Welt von heute: dass niemand mehr über Misserfolge spricht. Als wäre Scheitern eine Schande. Niemand sagt: Oh, was haben wir daraus gelernt? Wenn du Erfolg hast, dann spricht jeder darüber, aber Erfolg entsteht nur durch hundertfaches Scheitern.»
Natürlich reicht es nicht, einem Kind ein solches Zitat vorzulesen. Es geht darum, dass sich das Kind mit seinem Idol verbinden und seine Erfahrungen in sich aufnehmen kann. Dazu kann man gemeinsam eine Biografie lesen oder ansehen, sich darüber austauschen und wichtige Erkenntnisse festhalten.
Mutter und Tochter finden eine gute Lösung
Eine Mutter, die eines unserer Elternseminare besuchte, berichtete von ihrer 10-jährigen Tochter, die beim Geigenspiel jedes neue Stück auf Anhieb fehlerfrei spielen können wollte. Andernfalls rastete das Mädchen aus. In der Folge half ihr die Mutter dabei, nicht nur die perfekt choreografierten Videos ihres Idols, der Youtube-Geigerin Lindsey Stirling, zu bewundern, sondern einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Auf das harte Training, die Ausdauer und Beharrlichkeit, die dazu nötig ist.
Auf die Frage: «Was meinst du, was macht Lindsey, wenn ihr ein Stück schwerfällt?», antwortete die Tochter: «Die gibt nicht so leicht auf. Vielleicht sagt die sich: Das ist ein schwieriges Stück – ich bleibe ruhig und lasse mir Zeit. Wenn es nicht klappt, lege ich die Geige weg, höre etwas Musik und versuche es nochmals.» Die hilfreichen Gedanken notierten Mutter und Tochter auf Poster von Lindsey Stirling und brachten sie hinter dem Notenständer an, damit das Kind bei jedem Geigenspiel sein Vorbild mit den hilfreichen Gedanken sah.
Ich liebe dich, so wie du bist
Wie wir die Gefühle unserer Kinder annehmen, verstehen und liebevoll begleiten.
Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund. Herder 2023, ca. 30 Franken
Du bist mehr als deine Leistung
Perfektionistische Menschen machen ihren Wert an Leistung fest. Gleichzeitig sind sie fest davon überzeugt, dass andere dies ebenfalls tun. Leistet man nicht, sinkt man im Ansehen, wird weniger geliebt oder verstossen und ausgelacht. So antwortet die neunjährige Johanna auf die Frage, was ihre grösste Sorge sei, mit: «Dass mein Lehrer denkt, ich bin dumm.»
Leider machen Kinder und Jugendliche auch immer wieder Erfahrungen, die diese Ansicht bestätigen. So zum Beispiel, wenn eine Lehrkraft diejenigen Kinder bevorzugt, die besonders leistungsstark sind, oder nach einem Fehler einen abwertenden Kommentar fallen lässt, wenn ein Elternteil enttäuscht auf eine schlechte Note reagiert, obwohl man sich als Kind angestrengt hat, wenn auf Social Media diejenigen am meisten Likes einheimsen, die sich möglichst makellos präsentieren.
Ich bin ein wertvoller Mensch, einfach dadurch, dass ich da bin.
«Ich habe immer das Gefühl gehabt, dass sich meine Mutter Sorgen um mich und meine Schulleistungen machte. Ich war immer sehr enttäuscht von mir selbst, dass ich ihr solche Sorgen bereitet habe. Das hat mich damals sehr belastet, weil ich meine Mutter sehr lieb hatte und wollte, dass sie das Gefühl hat, dass ich mich gut entwickle», erzählte uns eine Frau, die seit ihrer Kindheit unter ihrem Perfektionismus leidet.
Gleichzeitig gilt: Jede gegenteilige Erfahrung hilft Kindern und Jugendlichen dabei, sich selbst besser anzunehmen. Dazu gehört, zu erleben: Ich bin ein wertvoller Mensch, einfach dadurch, dass ich da bin. Meine Eltern geniessen es, Zeit mit mir zu verbringen. Sie hören mir gerne zu und interessieren sich für mich. Ich muss nichts Besonderes leisten, um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen und ihre Liebe zu verdienen.
Wie Eltern sich von der Leistungsebene befreien können
Als Eltern können wir kritisch überprüfen, wie viele unserer Gespräche in der Familie sich um die Schule, Noten, Hausaufgaben und sportliche Leistungen drehen und wie sehr diese Themen das Familienklima dominieren.
Wenn ein perfektionistisches Kind enttäuscht ist über eine scheinbar «schlechte» Note, dann können wir das Leistungsthema auch einfach ruhen lassen. Wir können uns mit ihm auf die Couch setzen, während es mit sich beschäftigt ist und kein Wort sagt, mit ihm diese Gefühle aushalten, es vielleicht umarmen oder kraulen und darauf vertrauen, dass es darüber hinwegkommt.
Auch wenn es gut gemeint ist: Solange wir über die Prüfung reden, ihm Fortschritte aufzeigen, auf die Aspekte hinweisen, die es «doch gut gemacht» hat, ihm seine Stärken und Talente aufzählen, bleiben auch wir auf der Leistungsebene gefangen und signalisieren indirekt, dass man der Enttäuschung eben doch nur damit entgegenwirken kann, dass man sich seine Fortschritte bewusst macht, Fehler ausblendet und sich seiner Stärken versichert.