«Für Kinder ist es essenziell, dass sie gesehen werden»
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«Für Kinder ist es essenziell, dass sie gesehen werden»

Lesedauer: 4 Minuten

Perfektionismus-Expertin Christine Altstötter-Gleich weiss, welche Rolle die Eltern spielen, wenn Kinder ein ungesundes Leistungsstreben entwickeln.

Interview: Fabian Grolimund
Bild: Julia Forsman

Frau Altstötter-Gleich, kommt man als Perfektionist beziehungsweise Perfektionistin auf die Welt oder wird man dazu gemacht?

Es gibt eine moderate erbliche Bedingtheit, also eine genetische Disposition. Das haben einige Zwillingsstudien nachgewiesen. Es ist meiner Ansicht nach allerdings so, dass nicht Perfektionismus direkt vererbt wird, sondern eher eine Veranlagung zur emotionalen Labilität und damit auch zur Ängstlichkeit. Und das ist ein Kernelement der Form des Perfektionismus, die problematisch ist: hohe Standards verknüpft mit der Angst, zu versagen. Betroffene Menschen sind besonders anfällig dafür, sehr stark auf Bestrafung und gefühlte Bedrohung zu reagieren.

Die Genetik spielt aber nur eine untergeordnete Rolle?

Genau, denn der Schwerpunkt liegt eindeutig beim Elternhaus. Das heisst, das Verhalten und die Einstellung der Eltern spielen eine grössere Rolle. Dabei lassen sich vier Modelle unterscheiden. Zum einen das sogenannte Lernen am Modell: Die Eltern sind selbst perfektionistisch und haben sehr hohe Ansprüche und Angst vor dem Versagen. Dieses Verhalten leben sie vor und die Kinder schauen es sich von ihnen ab. Das ist empirisch gut belegt.

Christine Altstötter-Gleich ist Psychologin, lehrt und forscht am Campus Landau der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität im Fachbereich Psychologie. Sie ist Perfektionismusexpertin und Autorin des Selbsthilfebuchs «Perfektionismus: Mit hohen Ansprüchen selbstbestimmt leben». Christine Altstötter-Gleich hat zwei erwachsene Söhne und lebt in Landau. (Bild: zvG)

Im Modell sozialer Erwartungen sind viele Eltern sehr anspruchsvoll und achten deswegen ganz bewusst darauf, dass auch ihre Kinder hohe Ansprüche an sich stellen. Als Eltern kontrolliert man die Kinder dann sehr stark und reagiert besonders sensibel auf ihre Fehler, auf ihr Versagen, weil man das Versagen selbst als so problematisch ansieht. Natürlich leben wir alle in einer Leistungsgesellschaft, es wäre also merkwürdig, wenn Eltern sagen würden: «Ach, das ist doch irrelevant, wenn du in der Schule keine guten Noten hast.» Die Frage ist nur, mit wie viel Kälte die Eltern auf Fehler reagieren und mit welcher Intensität.

Wie zeigt sich dieser schädliche Umgang mit Fehlern im Familienalltag?

Ein Beispiel: Ich habe selbst zwei Söhne und habe in ihrer Jugend oft am Spielfeldrand beobachten dürfen, wie mit anderen Kindern geschimpft wurde: «Wie konntest du nur?! Warum hast du das nicht gesehen? Hättest du es doch so gemacht!» Dass also mit Schärfe, Kälte und Missachtung auf Fehler reagiert wird, wenn die Kinder den hohen Standards der Eltern nicht gerecht werden. Das ist eine toxische Kombination!

Oft reicht schon der Mangel an Wertschätzung, um problematische perfektionistische Tendenzen zu entwickeln.

Es muss dann gar nicht geschlagen werden oder sonst etwas Dramatisches passieren, sondern sehr häufig reicht für die Entwicklung problematischer perfektionistischer Tendenzen schon dieses Nicht-mehr-Beachtetwerden und der Mangel an Wertschätzung und Anerkennung. Denn für Kinder ist es ja essenziell, dass sie gesehen werden.

Wie tragen die Eltern in den anderen beiden Modellen zum Perfektionismus der Kinder bei?

Das dritte Modell beschreibt den ängstlichen Erziehungsstil als Ursache. Da haben wir es mit sehr ängstlichen Eltern zu tun, die für ihr Kind nur das Beste wollen, und zwar nicht, weil sie selbst so hohe Standards hätten, sondern weil sie Angst haben, dass ihr Kind womöglich in der Zukunft Probleme bekommen wird. Von ihnen hört man viele Sorgen: «Wenn du nicht gut genug in der Schule bist, bekommst du keinen Ausbildungsplatz und dann mögen dich die Leute nicht mehr und dann kannst du kein Geld verdienen und dann …» Dieses Katastrophendenken, was alles Schreckliches passieren kann und passieren wird, wenn man scheitert, kann sich bei den Kindern festsetzen.

Eltern perfektionistischer Kinder sind also im Leistungsbereich zu stark oder zumindest sehr stark involviert?

Oft, aber nicht immer: Es gibt noch den Erklärungsansatz der sozialen Reaktion. Diesem zufolge findet man perfektionistische Züge nämlich gehäuft auch in Zusammenhang mit Haushalten, in denen man es mit emotionalem oder womöglich auch sexuellem oder körperlichem Missbrauch zu tun hat. Kernmerkmal dieser Familien ist, dass das Kind versucht, über klare Strukturen und über eine sehr, sehr gute Leistung Ordnung in dieses ganze Chaos zu bekommen. Da man in diesen hochemotionalen, missbräuchlichen Familien häufig ein wenig konsistentes Erziehungsverhalten vorfindet, setzen die Kinder alles daran, ja fehlerlos zu sein, um nicht bestraft zu werden. Dieser Erklärungsansatz ist bisher am wenigsten untersucht, weil es sehr schwierig ist, an solche Familien für entsprechende Studien heranzukommen.

Perfektionistischen Kindern fehlt das Urvertrauen, dass sie immer jemanden haben, der sie hält und der sie sieht.

Eltern reagieren sehr unterschiedlich, was haben denn die Kinder gemeinsam?

Sie alle machen ihren Selbstwert sehr stark von der Anerkennung anderer und der eigenen Leistungsfähigkeit abhängig. Eine eigenständige, ganz grundlegende Selbstwertschätzung wird in ihnen nicht angelegt. Ihnen fehlt aufgrund früher Sozialisationserfahrungen das Urvertrauen, dass sie immer jemanden haben, der sie hält und der sie sieht.

Ab welchem Alter lassen sich perfektionistische Tendenzen bei Kindern feststellen?

Ein erster Hinweis ist die sogenannte Frustrationstoleranz, bei der sich schon relativ früh Unterschiede zeigen: Wie gehen Vorschulkinder damit um, wenn etwas nicht so klappt, wie sie es möchten? Wird sofort alles hingeschmissen, ist das ein erster Hinweis darauf, dass sie vielleicht eine Tendenz zum dysfunktionalen Perfektionismus entwickeln.

Häufig folgt daraus leider, dass sie bereits im Kleinkindalter bestimmte Dinge, beispielsweise in der Handarbeit, nicht mehr ausprobieren, weil sie das Gefühl haben, sie könnten es nicht gut genug. Diese Vermeidung ist eine typische Reaktion auf Angst. Ansonsten werden, sobald man in einen Bewertungs- und Leistungskontext wie die Schule kommt, die im Elternhaus angelegten Tendenzen offenkundig, sobald also Noten und Bewertungen expliziter werden und das System die Haltung nicht genug unterstützt, Fehler machen zu dürfen.

Fabian Grolimund
ist Psychologe und Buchautor. Gemeinsam mit ­Stefanie Rietzler leitet er die Akademie für Lerncoaching in Zürich. Er ist verheiratet, Vater eines Sohnes und einer Tochter und lebt mit seiner Familie in Fribourg.

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