Kontaktabbruch: Erwachsene Kinder erzählen
Wenn Menschen den Kontakt zu ihren Eltern abbrechen, ist das häufig ein leiser Abschied. Es gibt oft keine wütenden Telefonate, kein Geschirr, das durch die Wohnung fliegt oder knallende Haustüren. Stattdessen: Stille. Keine Reaktion mehr auf Anrufe, SMS, E-Mails oder Briefe.
Die Gründe dafür sind vielseitig – zumindest aber ist eins klar: «In Familien wird viel ertragen, damit sie nicht auseinanderbrechen», sagt die Therapeutin Claudia Haarmann. «Kinder sind hochgradig nachsichtig mit ihren Eltern, bis der Druck für sie zu gross wird. Ein Kontaktabbruch ist ein möglicher Weg, mit einer belastenden Familiensituation umzugehen.»
In einem vergangenen Artikel haben wir eine betroffene Mutter zu Wort kommen lassen. Sie hat seit geraumer Zeit keinen Kontakt mehr zu ihrem 16-Jährigen Sohn und erzählt, wie unfassbar das für sie ist. In diesem Text geben wir nun den Kindern das Wort – Töchtern und Söhnen, die heute erwachsen und zwischen 20 und 35 Jahre alt sind. Sie vertrauten sich der Therapeutin und Buchautorin Claudia Haarmann an.
Heile Welt, aber nur zum Schein
Da ist die 34-jährige Frau, die als Kind keinen Halt und keine Geborgenheit in ihrer Familie fand. Sie konnte erst als Erwachsene die Kontaktlosigkeit in ihrer Familie begreifen. Über die Familienbesuche berichtet sie: «Ich fahre immer mit extremem Widerwillen zu meiner Mutter. Wir haben uns nichts zu sagen. Sie guckt mich auch gar nicht an, sondern geht, wenn ich komme, ihre Wäsche machen.
Und gleichzeitig gibt es so eine Sehnsucht in der Familie, dass es schön sein soll, nur keiner weiss, wie das zu machen ist. Weihnachten zum Beispiel, da hat man sich nichts mitzuteilen, und dann sitzt man mit den Kerzen, und es bleibt nur immer wieder zu sagen: Die Gemütlichkeit wird beschworen. Man tut wie eine heile Familie, und meine Familie meint, wenn man so tut , dann ist es auch so. Aber die Atmosphäre ist furchtbar und nicht auszuhalten und erst jetzt erkenne ich: Das war sie noch nie!»
Kein gutes Fundament: emotionale Schieflage
Das Gefühl, in der Kindheit als Person in ihrer Ganzheit nicht wahrgenommen und wertgeschätzt worden zu sein, bildet das «Fundament unseres Lebenshauses», sagt Claudia Haarmann. Die Basis dieses Hauses sollte stabil und ausgerichtet sein, damit alles Weitere sicher auf diesem gut verankerten Fundament stehen könne. Ist das nicht der Fall, stehen die Grundmauern schief, wird alles, was sich weiter darauf aufbaut, versuchen, das Defizit auszugleichen oder in eine Schieflage geraten.
Für Haarmann ist deshalb klar: Man muss sich das Fundament, das Kellergeschoss, gut anschauen. In Familien mit schwerwiegenden Zerwürfnissen fänden sich laut Haarmann fast durchgängig zwei Thematiken: «Erstens ist es nicht möglich gewesen, ein beständiges Bindungserleben von Sicherheit, Halt und Geborgenheit herzustellen, und zweitens ist es in diesen Familien nicht gelungen, wesentliche emotionale Grundbedürfnisse zu stillen.»
Familie bedeutet für das Kind in erster Linie der sichere Halt. Der sicherheitsspendende Kontakt. Fehlt dieser Rahmen, hat ein Kind keinen angemessenen Schutz erfahren im Sinne von Beruhigung, dann fehlen ihm Halt und Vertrauen in die Welt, die Familie. «Dann wird die Welt nicht als sicherer Ort erlebt, wo man sich zurücklehnen kann wie in einer Hängematte», sondern das Erleben ist Anspannung und Unsicherheit, die wir auch als Stress bezeichnen. «Stress macht eng und verschliesst die Seele, und eine verschlossene Seele verhindert Kontakt – und an dessen Stelle tritt Einsamkeit,» so Claudia Haarmann.
Diese innere Einsamkeit beschreibt eine andere junge Frau: «Ich bin viele Jahre immer mit dem Wunsch zu meinen Eltern gefahren, es möge doch ein netter, freundlicher, lustiger Tag werden. Der erste Kommentar von meiner Mutter war dann so: ‹Wie läufst du denn wieder rum?› Oder noch abfälliger: ‹Wie siehst du denn aus?› Das reichte eigentlich schon.
Immer wieder die Hoffnung
Dann kam von meinem Vater: ‹Wann bist du endlich fertig mit dem Studium, oder willst du uns noch weiter auf der Tasche liegen?› Spätestens wenn mein Vater Äusserungen von mir kommentierte mit: ‹Sei doch ruhig, du hast keine Ahnung, rede nicht so dumm daher!›, bin ich fluchtartig weg, habe auf der Rückfahrt vor Herzschmerz geheult oder getobt vor Wut.
Und bin nach drei Monaten trotzdem wieder hingefahren mit dem Wunsch, es möge doch endlich ein netter, freundlicher, vielleicht sogar lustiger Tag werden. Meine Sehnsucht nach Anerkennung – von Liebe spreche ich schon gar nicht – hat mich immer wieder hinfahren lassen, um dann voller Frust zu fliehen. Irgendwann war für mich klar: Ich fühle mich von meinen Eltern nicht geliebt, und es gab keine Möglichkeit, mit ihnen darüber zu reden. Sie hätten es nicht verstanden.»
Nicht nur fehlende Sicherheit, emotionale Kälte, Lieblosigkeit oder Vernachlässigung lässt junge Erwachsene an ihrer Ursprungsfamilie zweifeln und die gemeinsame Familientür zuschlagen, sondern auch das Gegenteil. Seit wenigen Jahren beobachtet Claudia Haarmann in ihrer Praxis ein neues Familienszenario: Es sind Familien mit übergrosser Nähe, bei denen es zur Zerreissprobe kommt.
Wie kommt es zu dieser übergrossen Nähe? Meist wurden die Eltern autoritär erzogen, Disziplin, Gewissenhaftigkeit und Selbstbeherrschung waren grossgeschrieben. In diesem Befehlshaushalt durften Kinder sich nicht schmutzig machen, mussten sich unterordnen, wurden häufig getadelt und manchmal auch geschlagen.
Ja, meine Eltern meinen es immer gut, aber dieses ‹gut gemeint› ist zu viel für mich!
Kontakt unterbrechen, um sich selbst zu finden
Diese Generation schwor sich, es als Eltern anders zu machen, ihre Kinder ohne Gewalt und Disziplin zu erziehen. Im Vordergrund stehen Nähe, Geborgenheit, Ich-Stärkung und ein partnerschaftliches Miteinander ohne Hierarchien. Man zeigt den Kindern rückhaltlos, dass und wie sehr man sie liebt. Und erzählt: «Wir waren wie Freundinnen, haben uns alles erzählt und sind zusammen shoppen gegangen.» oder: «Mein Kind war mir so nah wie niemand sonst.»
Manchen Kindern aber ist diese Liebe, dieses Behüten zu viel. Sie erleben sie als «Überlieben» und «Überbehüten», das sie erdrückt. Sicherlich gibt es keinen Zweifel daran, dass das Zusammenleben damals, als die Kinder noch klein waren, sehr harmonisch war, man war sich nah. Nun aber, als Erwachsene, wenden sich diese Töchter und Söhne ab. Die Beziehung ist ihnen zu eng, sie fühlen sich nicht als Person wahrgenommen, sie unterbrechen den Kontakt, um sich selbst zu finden. Sie äussern sich dann so: «Ja, meine Eltern meinen es immer gut, aber dieses ‹gut› ist zu viel für mich! Das ist mir zu nah. Ihre Dauerliebe ist wie eine Dauerbeobachtung und das macht mich fertig.»
«Als wäre ich ein Erstklässler»
Ein 20-jähriger Mann sagt: «Ihre Liebe und Aufmerksamkeit ist zu viel. Gäbe es eine weltweit funktionierende Aufpass-Behüte-App, meinen Eltern wäre kein Preis zu hoch dafür … Totale Kontrolle! Aber sie verstehen gar nicht, wovon ich spreche, wenn ich ihnen erkläre, dass ich mal Abstand brauche, oder wenn ich ihnen sage, dass sie mich doch einfach mal lassen oder mir zuhören sollen. Auf meinen Wunsch folgt dann prompt der Einwand: ‹Aber Kind, wir meinen es doch nur gut, das tun wir aus Fürsorge, wir lieben dich so sehr.› Ihr ‹gut gemeint› ist für mich zu viel, und ihr ‹Aber Kind …› zeigt, dass sie nichts verstehen. Sie wissen immer, was für mich gut ist, als sei ich ein Erstklässler im Leben.»
Eine 34-Jährige äussert sich so: «Meine Mutter und ihr Partner haben grosse Wünsche an mich, und meine Mutter spricht ständig über unser Familienglück. Aber ihre Vorstellung von Glück macht mich unglücklich. Sie hat mich immer beschützt, und wenn sie könnte, würde sie das bis heute tun, obwohl ich einen Partner habe und meinen Job und ein eigenes Leben führe. Ich weiss nicht mehr, was ich tun soll, ich kann mich nur mit brachialen Mitteln daraus lösen, denn ich erlebe das nicht nur als eine Vereinnahmung, ich fühle mich von ihnen einverleibt.»
Kein Kontakt mehr wegen zu viel Nähe
Was hier fehlt, was Eltern nicht sehen, ist laut Haarmann das, was Liebe idealerweise ausmacht: Nähe und Autonomie sind einander gleichwertig: «Nähe gibt Geborgenheit und Halt, Autonomie bestärkt die Eigenständigkeit und innere Freiheit. Menschliche Entwicklung findet im Wechsel zwischen den Nähe- und Autonomiebedürfnissen statt.»
Diese Kinder unterbrechen dann den Kontakt zu den Eltern, gerade weil dieser zu eng ist, denn sie fühlen sich nicht als Person mit all ihren Bedürfnissen wahrgenommen. Sie müssen den Kontakt unterbrechen, um durchzuatmen und um sich selbst zu finden. «Die jungen Erwachsenen entziehen sich dem engen Kontakt zur Mutter und/oder dem Vater, weil sie sich selbst sein wollen. Was für ihre Eltern überschmerzlich sein kann, denn diese fühlen sich verlassen.»
Nicht nur zu wenig Nähe und Geborgenheit spielen also eine Rolle, sondern auch zu viel Nähe – von zu wenig selbst erfahrener Fürsorge geht es in Richtung Überfürsorge. Die «gesunde Mitte», so Haarmann, fehle. Das Tragische dabei sei: «In dem Überbehüten, dem Alles-geben, dem Ganz-nah-sein geht es wieder nicht um das Kind. Bei dieser Überfürsorge wird etwas Wesentliches der kindlichen Bedürfnisse übersehen, vielmehr geht es um die Angst der Eltern, um ihre Angst, diese Liebe wieder zu verlieren.»