«Schieben Sie nichts mehr auf!»
Wenn ein Kind unheilbar krank ist, kann viel dafür getan werden, dass seine letzten Wochen und Monate lebenswert bleiben, sagt die Palliativärztin Eva Bergsträsser im Interview.
Lina ist mit sechs Jahren an Krebs gestorben. Im Hauptartikel erzählt Claudia Weideli-Krapf, die Mutter von Lina (Bild oben), wie die Familie das Kind in den Tod begleitete und mit dem Verlust umgeht. Hier lesen Sie das Interview, das Autorin Cornelia Hotz zusätzlich mit Palliativärztin Eva Bergsträsser geführt hat.
Frau Bergsträsser, Linas Mutter sagt, dass es für sie sehr erleichternd war, ihre Tochter in den letzten Monaten ihres Lebens zu Hause betreuen zu können. Studien zufolge geht es vielen Eltern so, deren Kind unheilbar krank ist. Warum ist das so?
Zu Hause erleben die Betroffenen eine Sicherheit und Vertrautheit, die kein Spital bietet. Was aber überhaupt nicht heisst, dass nicht auch andere Orte, inklusive des Spitals, zumindest zeitweise einen wichtigen Beitrag in der Begleitung leisten können.
Ziel der Palliativ Care ist, dass das Leben trotz einer unheilbaren Krankheit lebenswert bleibt.
Sie leiten am Kinderspital Zürich ein Palliativ Zentrum. Beim Begriff Palliative Care denken viele sofort an Sterbe- beziehungsweise Trauerbegleitung.
Das sind mit Sicherheit zwei wesentliche Bestandteile der Palliative Care. Palliative Care umfasst aber weit mehr als die Sterbe- und Trauerbegleitung – nämlich die Lebensgestaltung in den letzten Wochen, Monaten, ja vielleicht sogar Jahren eines Patienten. Das Ziel ist dann, dass das Leben trotz einer unheilbaren Krankheit lebenswert bleibt. Dieser Bestandteil von Palliative Care kommt hierzulande in der Kindermedizin häufig noch zu kurz.
Fühlen sich Ärzte unsicher, wenn es um sterbende Kinder geht?
Um eine palliative Betreuung einzuleiten, braucht es einen Richtungswechsel in der Behandlung. Dieser setzt aber voraus, dass klar ausgesprochen wird: «Ab jetzt gibt es keine Aussicht mehr auf Heilung.» Und damit tun sich viele Mediziner schwer.
Bei Lina wurde ein besonders aggressiver Hirntumor diagnostiziert. Von Anfang an war klar: Es gibt keine Chance auf Heilung.
Eine solche Diagnose ist schlimm und unfassbar. Die Eltern erfahren ohne Vorbereitung, dass ihr Kind sterben wird. Es gibt keinen Prozess, in dem sich diese Gewissheit langsam entwickelt, weil zum Beispiel eine Therapie nicht die gewünschte Wirkung zeigt.
Was ist die Aufgabe eines Palliativ-Teams?
Wir möchten den Kindern, Jugendlichen und Angehörigen helfen, die Zeit, die ihnen noch bleibt, zu nutzen und im Rahmen ihrer Möglichkeiten möglichst selbstbestimmt zu gestalten.
Was heisst das konkret?
Wer in die Onkologie eintritt, unterwirft sich einem engmaschigen Therapieprogramm. Ist der Moment erreicht, in dem nicht mehr die Heilung als oberstes Ziel definiert ist, erhält die Familie ihre Autonomie zurück, was viele überfordert.
Wie gehen Sie vor?
Wir führen ausführliche Gespräche mit der Familie, in denen wir Fragen stellen wie: Was sind ihre Wünsche? Was ist in der verbleibenden Zeit noch möglich? Vielleicht ein Fest zu feiern, für das es erst in drei Monaten an der Zeit wäre. Ich rate diesen Familien nachdrücklich: «Hören Sie auf, Dinge aufzuschieben, Sie müssen es jetzt tun!»
Die Trauer einer Mutter ist eine andere als die Trauer eines Geschwisters. Das sollten Eltern erkennen und akzeptieren.
Das kostet die meisten Angehörigen Kraft und Mut, denn bisher haben die Onkologen den Weg vorgegeben. Aber wenn man es als Mutter beziehungsweise Vater schafft, in diesen letzten Wochen selbstbestimmt zu handeln, eine Haltung dazu aufzubauen, dass das Kind sterben wird, dann wird es vielleicht etwas leichter fallen, nach dem Tod des Kindes weiterzuleben.
Der Schritt des Loslassens hat dann schon stattgefunden?
Ein Stück weit, ja.
Wie können Sie den Geschwistern helfen?
Die Geschwister geraten häufig in den Hintergrund. Wichtig ist, sie frühzeitig in die Palliativ-Betreuung miteinzubeziehen und zu schauen, wo ihre Bedürfnisse liegen. Es ist sehr wichtig, ihnen zu vermitteln, dass sie nicht Schuld sind an der Situation und das Recht haben, ihr eigenes Leben weiterzuleben. Die Trauer einer Mutter ist eine andere als die Trauer eines Geschwisters. Dies sollten Eltern erkennen und akzeptieren. Es wird vielleicht Situationen geben, in denen der kleine Bruder, die kleine Schwester trotzdem rausgeht und Spass hat. Und das ist gut so.
Wie sollte man auf eine Familie zugehen, deren Kind im Sterben liegt?
Grundsätzlich würde ich sagen, möglichst authentisch. Darüber hinaus kommt es darauf an, wie nahe Ihnen die Familie steht. Für die Eltern ist eine solche Situation ein enormer Kraftakt, sie sind meist Tag und Nacht mit ihrem Kind zusammen. Förderlich wäre ein grosses Netzwerk an Freunden, die sie im Alltag unterstützen: einkaufen, kochen, die Wäsche waschen, die Geschwister zum Spielen einladen, damit die Eltern Zeit haben, mit ihrem kranken Kind zusammen zu sein und es zu pflegen.
Hilfreich ist es, einfach zu fragen: «Wie ist es, kann ich etwas tun?» Das gilt natürlich auch für die Zeit nach dem Tod des Kindes. Wichtig ist, nicht mit Dank zu rechnen. Dazu sind diese Menschen häufig nicht in der Lage.
Die Hinterbliebenen haben ein Recht darauf, zu leben.
Gibt es Dinge, die ich nicht ansprechen sollte?
Es gibt No-Go-Sätze, die vielleicht gut gemeint, aber absolut fehl am Platz sind. «Ihr seid doch noch jung – ihr könnt noch viele andere Kinder bekommen», wäre so ein Satz. Dieses Kind wird durch kein anderes ersetzt.
«Das kann ich mir gut vorstellen» ist sicher auch so ein Satz.
Richtig. Solch existenzielle Krisen kann man sich nicht vorstellen. Anstatt so etwas zu sagen, sollte man besser schweigen oder stattdessen sagen: «Ich kann mir das überhaupt nicht vorstellen, magst du mir davon erzählen, wie es für dich ist?»
Wenn ein Kind stirbt, hinterlässt es eine durch nichts zu füllende Lücke. Linas Mutter sagt, dass sie ihre Tochter auch Jahre später noch neben sich spürt.
Und das ist durchaus verständlich. Ich sage betroffenen Eltern aber auch, dass sie keine Sorge haben müssen, das Kind oder Wichtiges von ihrem Kind zu vergessen. Davor haben viele Eltern grosse Angst. Doch wer krampfhaft an allen Erinnerungen festhalten will, kann nicht richtig weiterleben, dem Partner und den lebenden Geschwistern gerecht werden. Das verstorbene Kind wird immer zwischen ihnen stehen. Aber die Hinterbliebenen haben ein Recht darauf, zu leben.
Nach dem Krebstod ihres Enkels gründete Brigitte Trümpy 2014 Sternentaler. Dieser Verein ermöglicht Familien mit schwerkranken oder behinderten Kindern den persönlichen Austausch als Mittel zur Selbsthilfe und schenkt ihnen Auszeiten vom Alltag.
www.sternentaler.ch