Wenn ein Kind stirbt: Wie Trauerfamilien Halt finden können
Ein Kind zu verlieren, verlangt einer Familie alles ab. Eine Palliativärztin und eine Bestatterin erleben in ihrer Arbeit täglich, welchen Unterschied es macht, wenn Betroffene gut informiert und begleitet werden.
Mira* stirbt an einem Freitagmittag. Friedlich und ohne Schmerzen schläft das zweijährige Mädchen, das seit ihrer Geburt an einer seltenen genetischen Krankheit litt, zu Hause in ihrem Bettchen ein. «Du hast den perfekten Zeitpunkt ausgewählt», schreiben die Eltern im Abschiedsbrief an ihre Tochter. «Wir waren als Familie allein und konnten dich in Ruhe verabschieden. Dein Bruder hat untersucht, ob du noch atmest. Mami und Papi haben dich zum letzten Mal gebadet und deine Schwester wählte deine Kleider aus. Du hast wunderschön ausgesehen, wie ein kleiner Engel.»
In der Schweiz sterben jedes Jahr rund 400 bis 500 Kinder im Alter zwischen null und achtzehn Jahren. Etwa die Hälfte von ihnen verstirbt im ersten Lebensjahr. Bei Schulkindern und Jugendlichen machen Unfälle fast die Hälfte aller Todesfälle aus.
Dass der letzte Tag im Leben der kleinen Mira für die Familie so stimmig verlief, ist nicht selbstverständlich und vor allem zwei Frauen zu verdanken: Der Palliativärztin und Kinderonkologin Eva Maria Tinner, 47, und der Bestatterin Eva-Maria Finkam, 46.
Nur wenige Kinder sterben zu Hause
«Ein Kind zu verlieren, ist wie ein Sprung über eine Klippe – ein Sturz ins Bodenlose», sagt Eva Maria Tinner, als wir sie und Eva-Maria Finkam im Haus der Bestatterin in Attiswil BE treffen. Kennengelernt haben sich die beiden Frauen an einem Fach-Kongress vor vier Jahren und schnell gemerkt, dass sie in ihrem Berufsalltag gleiche Werte und Erfahrungen teilen.
Es mache dabei einen grossen Unterschied, ob dieser Sprung mit oder ohne Fallschirm, also gut begleitet oder völlig orientierungslos stattfindet. «Wir erleben in unserer Arbeit täglich, dass gut informierte und betreute Angehörige gestärkt durch den Sterbeprozess und die Bestattungszeit gehen können», sind sich beide Frauen einig.
Dazu bräuchte es ein lückenloses Betreuungsnetz an Fachpersonen, insbesondere, wenn Eltern sich dafür entscheiden, ihr Kind zum Sterben mit nach Hause zu nehmen. Das sei leider oftmals nicht gegeben, sagt Tinner. Weniger als eines von fünf Kindern stirbt zu Hause, wie die Pelican-Studie, die erste umfassende Studie zur Situation von sterbenden Kindern in der Schweiz, festhält.
Die Erfahrungen der Ärztin, die am Inselspital in Bern arbeitet, zeigen: «Kinder möchten dort sterben, wo es ihnen am wohlsten ist und das ist, wenn es die Umstände erlauben und Eltern sich das zutrauen, meist zu Hause bei der Familie.»
- Jährlich sterben in der Schweiz 400 bis 500 Kinder; etwa die Hälfte von ihnen verstirbt im ersten Lebensjahr.
- Knapp 40 Prozent aller Todesfälle ereignen sich in den ersten 4 Lebenswochen. Neugeborene sterben, weil sie zu früh oder mit schweren Fehlbildungen zur Welt kommen.
- Krankheitsbedingte Todesfälle jenseits des ersten Lebensjahres treten aufgrund unheilbarer Krankheiten auf. Neurologische Diagnosen stehen im Vordergrund, gefolgt von Krebs- und Herzerkrankungen.
- Bei Kindern ab 2 Jahren, v.a. bei Schulkindern und bei Jugendlichen, machen Unfälle beinahe die Hälfte aller Todesfälle aus.
Quelle: pallnetz.ch
Aufklären statt Verdrängen
Hier beginnt für Eltern mit einem unheilbar kranken Kind ein Balanceakt. Einerseits möchten sie ihr Kind nicht aufgeben und glauben oft bis am Ende noch an ein Wunder. «Das ist auch gut und richtig so, denn Hoffnung ist eine unglaublich starke Kraft, ohne die solche Ausnahmesituationen kaum bewältigt werden können», sagt Tinner.
In einer palliativen Krankheitsphase, also dann, wenn durch Therapien eine Heilung höchst wahrscheinlich nicht mehr erreicht werden kann, sei es andererseits enorm wichtig, die Lebensqualität des Kindes und auch der Angehörigen zu berücksichtigen. «Wir tun gut daran, einen Schirm einzupacken, wenn wir nach London fahren. Deshalb rede ich mit betroffenen Eltern auch offen übers Sterben, über ihre Sorgen und Ängste und die Möglichkeiten der Palliative Care.»
Die Ärztin redet mit den Eltern auch über ambivalente Gefühle wie Trauer oder Wut, während das Kind noch lebt, über die Angst vor dem «magischen Denken», also nicht an den Tod denken zu dürfen, weil man ihn sonst aktiv herbeirufen könnte, oder über Erholungsinseln in diesem für Aussenstehende unvorstellbaren Kraftakt, den Eltern zwischen Beruf, Haushalt, unheilbar krankem Kind und möglichen gesunden Geschwistern leisten.
Eva Maria Tinner zeigt auf, wie sich ein Netzwerk vertrauter Fachpersonen organisieren lässt, welche Medikamente in den letzten Tagen Leiden verhindern können, aber auch, wie ein sterbendes Kind atmet.
«Aufklärung ist besser als Verdrängen. Wer völlig unvorbereitet in die Sterbephase geht, ist meist viel mehr überfordert.» Im Rahmen solcher Gespräche wird auch Eva-Maria Finkam erwähnt. Mit Sternlicht Bestattungen hat sich die gebürtige Bernerin 2016 auf die Bestattungen von Kindern und Jugendlichen spezialisiert.
Bewusst gestaltete Totenfürsorge
Eva-Maria Finkam, die ihre Laufbahn in einem klassischen Bestattungsunternehmen startete, realisierte bald, dass die Bedürfnisse solcher Familien anders sind, als wenn die 85-jährige Grossmutter stirbt. «Es ist ein unglaublich zarter und intimer Raum», sagt sie. Leider wüssten viele Trauereltern nicht, welche Möglichkeiten es gäbe und was alles erlaubt sei.
Zum Beispiel bei stillgeborenen Kindern, es noch einmal mit nach Hause nehmen, fotografieren lassen, eine Haarlocke abschneiden oder einen Gipsabdruck des Fusses machen zu dürfen. «Was für die eine Familie stimmig ist, ist es für die andere nicht. Das ist eine sehr individuelle und persönliche Entscheidung», sagt Finkam. Im Gespräch klärt sie daher sorgfältig ab, was eine Familie selber machen, wo sie dabei sein und was sie delegieren möchte.
Die Erfahrungen der Bestatterin zeigen: Durch die äusseren, bewusst gestalteten Schritte der Totenfürsorge vollziehen Menschen innerlich erste Abschiedsschritte, die sie auf einen gesunden Trauerweg führen. «Im Mittelpunkt stehen für mich stets die Stärkung der Selbstwirksamkeit und somit die Stabilisierung der Familie». Wie ein Lotse steige sie aufs Familienschiff und geleite es durch den Sturm der Bestattungszeit. Kapitän bleibe aber stets die Familie.
«Bereut wird nur, was nicht gemacht wurde»
Dabei gäbe es keine goldene Regel, sagt Finkam. Einige Eltern haben den Wunsch, zu Hause Abschied zu nehmen, andere im Spital oder beim Krematorium. Manche schätzen das schweizweit einzige Angebot, in ihrem Bestattungswagen, der speziell dafür umgebaut wurde, mitfahren zu können und ihrem Kind so das letzte Geleit zu geben.
Es gibt Familien, die nicht dabei sein wollen, wenn der Sarg aus dem Haus getragen wird. Sie gehen währenddessen in den Garten und lassen Schmetterlinge oder Himmelslaternen für ihr Kind fliegen. Oder sie singen das Lieblingslied des Kindes, beten oder gehen in den Wald und machen ein Feuer. «Die Gestaltungsmöglichkeiten sind so vielfältig wie die Wünsche und Bedürfnisse der Familien», erklärt die Bestatterin.
Vermehrt greifen informierte Eltern auf die alte Bestattungskultur zurück, ihr Kind noch ein paar Tage zu Hause aufzubahren, damit sich Familie und Freunde in Ruhe verabschieden können. «Die Tage zwischen Tod und Beisetzung sind unglaublich kostbar. Es wirkt ein Leben lang nach, ob man diese Tage bewusst gelebt und nicht nur überlebt hat. Bereut wird im Nachhinein nur, was nicht gemacht wurde», sagt Finkam.
Geschwister miteinbeziehen
Besonders wichtig ist Eva-Maria Finkam, dass Geschwister nicht ausgeschlossen, sondern altersgerecht miteinbezogen werden. Als die Bestatterin die Familie von Mira zum ersten Mal besuchte, blieb die Stubentüre offen. Die älteren Geschwister waren da, schauten ab und zu rein und gingen wieder lesen oder spielen. «Alles verlief offen und unaufgeregt. Das gab den Kindern Halt. Tabuisieren verunsichert nur», sagt sie. Halt finden Geschwister auch, indem sie sich aktiv am Abschied beteiligen und beispielsweise die Farbe des Stoffes für den Sarg auslesen oder gemeinsam die Urne bemalen dürfen.
Ich staune, wie unsere Kinder mit dem Tod ihres Bruders umgegangen sind. Als sie helfen durften, den Sarg zu gestalten, blühten sie richtig auf.
Eine Trauermutter
Wie wertvoll dieses Miteinbeziehen sein kann, zeigen die Worte einer anderen Trauermutter, die in einem Brief an Eva-Maria Finkam schreibt: «Ich staune, wie unsere Kinder mit dem Tod ihres Bruders umgegangen sind. Sie blühten richtig auf, als sie helfen durften, den Sarg zu gestalten. Ich bin auch dankbar, konnten wir unseren Sohn zu Hause in seinem Bett aufbahren. Seine Geschwister gingen immer wieder in sein Zimmer und konnten so seinen Tod schrittweise begreifen. Mit ihrem natürlichen Umgang damit waren die Kinder für uns und unser Umfeld ein Vorbild.»
«Wir haben ein weites Herz bekommen»
An anderer Stelle schreibt dieselbe Mutter: «Wenn ich auf diese Zeit zurückblicke, bin ich versöhnt. Wir würden nichts anders machen. Du hast uns motiviert, auf unsere Herzen zu hören. Bei der Totenwache im Zimmer meines verstorbenen Kindes fand ich Ruhe und Frieden. Das half mir, die Balance zu finden zwischen Organisation und Trauern in diesen Tagen.»
Wie wichtig die selbstbestimmte Totenfürsorge gewesen sei, habe sie auch im Gespräch mit anderen Eltern erfahren, die ebenfalls ihr Kind verloren hätten und keine solche Unterstützung erfahren durften. «Es werden Dinge bereut. Dadurch sind sie in ihrer Trauer wie blockiert.»
Der behütete Ablauf schenkt der Familie auch in der Zeit nach der Beisetzung, in der Eva-Maria Finkam auf Wunsch eine professionelle Begleitung organisiert, Boden. Boden für die Trauer, die in Wellen komme und nichts Negatives sei. «Zum Leben gehören Licht und Schatten. Wir haben gelernt, dass der Schatten seinen Wert hat. Im Schatten werden Dinge sichtbar, die man im Licht nicht sehen kann. Wir haben uns durch diese Zeit verändert. Wir haben ein weites Herz bekommen», hält die trauernde Mutter fest.
Die Familie von Mira teilt in ihrem Abschiedsbrief eine ähnliche Erfahrung: «Mira hat uns unglaublich viel gelehrt. Für sie wuchsen wir über uns hinaus und konnten eine Kraft in uns entdecken, die wir nie für möglich gehalten hätten. Wir spüren viel mehr Dankbarkeit und Demut für all die schönen Sachen in unserem Leben.»
*Name der Redaktion bekannt
Sternlicht Bestattungen ist das schweizweit erste Angebot, das sich auf Bestattungen von Kindern und Jugendlichen spezialisiert hat und ist in der gesamten Deutschschweiz tätig.
Der Sternenplatz Hilfsfonds unterstützt Familien mit finanziellen Engpässen bei den Bestattungskosten. Der Hilfsfonds wird durch Spenden ermöglicht.