Wenn Grossmami nicht mehr mag
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Wenn Grossmami nicht mehr mag

Lesedauer: 7 Minuten

Eine schwere Erkrankung oder rapide nachlassende Kräfte: Oft erleben Kinder bei den Grosseltern zum ersten Mal, dass ein Leben zu Ende geht. Wie sollen Eltern ihren Nachwuchs darauf vorbereiten?

Text: Kristina Reiss
Bild: Plainpicture

Wenn die Grosseltern langsam alt und gebrechlich werden, bemerken dies auch die Enkel. Insbesondere wenn Grossmami und Grosspapi im Alltag der Grosskinder sehr präsent waren. Ob am wöchentlichen Grositag oder bei gemeinsamen Sonntagsausflügen – irgendwann schwinden Kraft und Energie und die Rollen vertauschen sich: Es ist immer öfter die jüngere Generation, die die ältere unterstützt.

Was macht das mit einer Familie, wenn Grossmami und Grosspapi nicht mehr mitzuhalten vermögen, als Spielkameraden und Gesprächspartner immer häufiger passen müssen? Irina Kammerer leitet den Bereich Beratung und Therapie für Kinder, Jugendliche und Familien am Psychologischen Institut der Universität Zürich. Sie empfiehlt, bereits früher anzusetzen und generell das Vergängliche mehr in den Alltag einzubauen.

Kinder haben feine Antennen und spüren genau, wenn Eltern Informationen zurückhalten.

Riccarda Frei, Psychologin

Schon den Kleinsten könne man eine begreifbare Dimension von Lebenskreislauf, von Anfang und Ende an die Hand geben, so Irina Kammerer. Der Jahreszyklus mit seinen vier Jahreszeiten biete viele anschauliche Beispiele, das schaffe ein Bewusstsein für den Alterungsprozess und fördere das Verständnis für die älter werdenden Grosseltern. «Gebrechlich werden ist ja ein Prozess und geschieht nicht von heute auf morgen. Auch kleine Kinder bekommen deshalb das Altern ihrer Grosseltern mit», sagt Irina Kammerer.

Eine schwere Krankheit ändert alles

Anders ist es, wenn bei Oma oder Opa eine unheilbare Krankheit hinzukommt und Mama und Papa angespannter wirken als sonst oder oft traurig sind. Viele Eltern behalten in solchen Situationen ihre Gefühle erst einmal für sich, weil sie den Nachwuchs vor bestimmten Themen und Gefühlen schützen wollen.

«Was völlig nachvollziehbar ist», sagt Riccarda Frei. Sie ist Fachpsychologin im Kompetenzzentrum für Pädiatrische Palliative Care am Kinderspital Zürich und Trauerbegleiterin von Kindern und Jugendlichen. Trotzdem findet sie es wichtig, in der Familie offen und transparent zu kommunizieren und kein Geheimnis aus Krankheiten und Altersbeschwerden zu machen. «Kinder haben sehr feine Antennen und spüren genau, wenn man etwas zurückhält. Ungewisse Situationen machen ihnen daher oft noch mehr Angst», gibt Frei zu bedenken.

Wie viel von einer Krankheit oder dem schwächer werdenden Gesamtzustand des Grossmamis sollte man dem Nachwuchs erzählen? Irina Kammerers Empfehlung lautet: «So viel erklären wie nötig, so wenig wie möglich.» Eltern sollten ihre Kinder demnach nicht anschwindeln, indem sie die Situation verharmlosen, aber sie gleichzeitig auch nicht mit Infos überfordern.

Viele Grossmütter betreuen ihre Enkelkinder regelmässig und hinterlassen grosse Lücken. (Bild: Stocksy)

«Ich weiss es nicht»

Mütter und Väter tun gut daran, auf die Fragen der Kinder so ehrlich wie möglich zu antworten und auch einzugestehen, wenn sie auf die eine oder andere Frage keine Antwort haben. Bei Erklärungen gilt es in der Gegenwart zu bleiben – und beispielsweise zu beschreiben, was das Kind beim nächsten Besuch beim Grosi erwartet.

In der Ferne liegende Prognosen hingegen sind nicht gefragt. Gerade jüngere Kinder, die noch keine Zeitvorstellung von der Zukunft haben, könnten damit ohnehin nichts anfangen, gibt Riccarda Frei zu bedenken.

Halbwissen ruft oft noch mehr Ängste hervor. Es ist besser, die Dinge von Anfang an klar zu benennen.

Riccarda Frei, Psychologin

Die Psychologin würde Diagnosen wie etwa Krebs oder Demenz beim Namen nennen. «Kinder haben gute Ohren – früher oder später bekommen sie das sowieso mit.» Deshalb sei es besser, wenn der Nachwuchs dies von seinen Eltern erzählt bekomme statt von der Nachbarin oder zufällig in einem Telefonat belauscht.

«Ich habe einmal erlebt, dass einer Jugendlichen gesagt wurde, ihre Mutter habe einen Knoten in der Brust, um das Wort ‹Krebs› zu umgehen», erzählt sie. Daraufhin suchte das Mädchen im Internet nach Antworten, wurde fündig, traute sich aber nicht, seine Eltern darauf anzusprechen. «Halbwissen ruft oft noch mehr Ängste hervor», warnt Frei. «Es ist besser, die Dinge von Anfang an klar zu benennen.» Dies sei vor allem wichtig, damit sich in der Familie eine gemeinsame Sprache entwickle für das, was passiert, und man sich darüber austauschen könne.

Schwierige Besuche vorbereiten

Häufig übertragen Erwachsene ihre eigenen Ängste auf die Kinder und versuchen sie von Situationen fernzuhalten, von denen sie selbst nicht wissen, wie damit umgehen. Es sind ja auch schwierige Entscheidungen, die sie treffen müssen: Soll man den Zehnjährigen mit ins Spital nehmen, wo der Grossvater im Wachkoma liegt? «Das kommt aufs Kind an», sagt Riccarda Frei. «Manche reagieren von Natur aus sensibel auf das Spitalumfeld, andere sind einfach neugierig. Hier würde ich von Fall zu Fall entscheiden.»

Jede Begegnung mit kranken Menschen hilft Kindern, den Tod als letzten Schritt eines Prozesses zu verstehen.

Irina Kammerer, Psychologin

Die Psychologin rät, einen solchen Besuch auf jeden Fall vorzubereiten: Das Spitalzimmer beschreiben, vielleicht Fotos davon zeigen, Bilderbücher dazu anschauen. Erzählen, wie Grosspapi aussieht, dass er mit Schläuchen verkabelt ist, durch die er Essen bekommt und Medikamente, die ihm helfen. Mit dem Kind überlegen, wie es sich im Spital beschäftigen kann. Den Ablauf des Besuches vorzubesprechen, gibt Sicherheit und Orientierung. («Du kannst dort basteln oder malen, wir hängen die Zeichnung im Zimmer von Grosspapi auf und gehen dann wieder.»)

«Ich würde auch vorher klären, wer mit dem Kind aus dem Spitalzimmer geht, wenn es ihm nach zwei Minuten reicht», sagt Frei. So hat das Kind jederzeit die Möglichkeit, die Distanz für sich zu regulieren. «Generell hilft jede Begegnung, die bis zum Tod möglich ist, alles einzuordnen und den Tod als letzten Schritt eines Prozesses besser zu verstehen», erklärt Irina Kammerer. Dies gelte für Erwachsene wie für Kinder.

Während jüngere Kinder denken, «Grosspapi kommt bald wieder», realisieren ältere: «Der Tod kann jeden treffen». (Bild: Stocksy)

Ab wann Kinder den Tod begreifen

Aus der Entwicklungspsychologie weiss man, dass Kleinkinder die Bedeutung von Krankheit noch nicht erfassen. Doch bereits Babys spüren, wenn sich in der Familie etwas verändert, die Stimmung anders ist, sich Mami und Papi Sorgen machen. Auch das Konzept von der Endgültigkeit des Todes begreifen Kinder erst ab sieben oder acht Jahren. Während jüngere denken, «Grosspapi kommt bald wieder», und erst durch Erfahrung lernen, dass Grosspapi wirklich nicht mehr da ist, realisieren ältere Kinder: «Der Tod kann jeden treffen – Mami, Papi und mich selbst.» Sterben wirkt auf den Nachwuchs deshalb mit zunehmendem Alter bedrohlicher.

Es braucht auch krankheitsfreie Zeiten, in denen die Familie gemeinsam unbeschwerte Dinge unternimmt.

Weil jüngere Kinder noch nicht alle Dimensionen erfassen, findet Riccarda Frei es wichtig, auch mit ihnen zu reden. Im Vorschulalter neigen Mädchen und Buben dazu, vieles auf sich zu beziehen. Manchmal entwickeln sie Schuldgefühle und fühlen sich für die angespannte Stimmung zu Hause und den schwächer werdenden Grosspapi verantwortlich. Es sei wichtig, Kinder explizit von Schuldgefühlen zu entlasten und dies auch so auszusprechen («Niemand kann etwas dafür. Du hast nichts falsch gemacht!») – selbst wenn sich solche Worte für erwachsene Ohren überflüssig anhören mögen.

Mütter und Väter tun gut daran, der Tochter, dem Sohn zu signalisieren: «Jedes Gefühl ist erlaubt! Du darfst traurig oder wütend sein oder Angst haben. Es gibt kein Richtig und Falsch. Und du darfst trotz allem auch fröhlich sein.» Denn Kinder sollen kein schlechtes Gewissen haben, wenn sie einen lustigen Nachmittag mit ihren Freunden hatten und dabei nicht an Grosspapi gedacht haben.

Brückenangebote statt Druck

Ältere Kinder reagieren manchmal mit Zorn, Wut und Rückzug auf schwere Krankheiten in ihrem Umfeld und wollen das schwächer werdende Grossmami vielleicht nicht mehr besuchen – auch wenn Mutter, Vater oder das Grossmami selbst dies gerne hätten.

«In diesem Fall sollte man Druck rausnehmen und dem Nachwuchs den Freiraum lassen, seine eigene Entscheidung zu treffen», sagt Irina Kammerer. Oft helfe es, zu spiegeln («Ich sehe, dass du gerade nicht zum Grosi möchtest, es wäre trotzdem schön, wenn du es nochmals sehen könntest») und immer wieder Angebote zu machen, auf Jugendliche zuzugehen, Brücken zu bauen («Wir besuchen nachher das Grosi. Komm doch mit, wenn du magst!») – im Wissen, womöglich wieder abgelehnt zu werden.

Eltern sollten Wandel, Vergänglichkeit und Abschied ganz selbstverständlich in den Alltag integrieren.

Irina Kammerer, Psychologin

«Es ist wichtig, den geeigneten Moment für ein solches Gespräch zu finden», sagt Riccarda Frei. Bei einer gemeinsamen Tätigkeit oder im Auto – nebeneinandersitzend, ohne Möglichkeit, der Situation zu entfliehen – ergeben sich oft bessere Gelegenheiten, als wenn der Teenager im Zimmer hockt und nicht beim Gamen gestört werden will. Es kann auch helfen, andere Bezugspersonen einzuschalten, die während der pubertären Ablösungsphase zwischen Eltern und Kind einen besseren Draht zum Kind haben – die Gotte beispielsweise, den Fussballtrainer oder die Schulsozialarbeiterin.

Den Kindern Zeit lassen

Was braucht es generell in unsicheren Zeiten, in denen ein Abschied in der Familie im Raum steht? «Das Wichtigste ist, im Austausch zu bleiben und als Eltern ein offenes Ohr für den Nachwuchs zu haben», rät Riccarda Frei. «Selten sind diese Themen mit einem Gespräch abgehakt.» Umso entscheidender sei es, die Information auf verschiedene Gesprächsmomente aufzuteilen.

Den Kindern Zeit zu geben, das Besprochene setzen zu lassen und wieder auf sie zuzugehen («Wie geht es dir damit?», «Hast du Fragen?»). Gerade bei jüngeren Kindern entsteht leicht der Eindruck, dass sie die neuen Informationen gar nicht wirklich aufnehmen – bis einige Tage später ganz unvermittelt Nachfragen auftauchen. Hier gilt es dann wieder anzusetzen.

Will der Nachwuchs gar nicht darüber reden, ist das ebenfalls in Ordnung. «Wichtig ist jedoch, dass Kinder die innere Sicherheit haben: Wenn ich will, kann ich Mami und Papi jederzeit fragen», sagt Riccarda Frei.

Zum Weiterlesen für Kinder und Jugendliche

Orientierung und Sicherheit geben

Gewohnte Tagesabläufe und Rituale beibehalten und weiterführen ist nun ebenfalls wichtiger denn je – geben sie doch Sicherheit und Orientierung in unsicheren Phasen. Gleichzeitig braucht es auch krankheitsfreie Zeiten, in denen die Familie gemeinsam unbeschwerte Dinge unternimmt.

Offenheit ist essenziell: Mütter und Väter dürfen sich vom Kind auch mal trösten lassen, wenn ihnen die Tränen kommen. Dies kann beispielsweise die Selbstwirksamkeit ihres Nachwuchses stärken – sofern sie nicht die Verantwortung für ihre Gefühle an das Kind abgeben. Denn solche Gesten helfen Kindern, mit dem Gefühl der Hilflosigkeit umzugehen und zu erfahren: «Ich kann auch etwas tun!»

«Der Tod ist in unserer Kultur nicht präsent. Deshalb fällt uns der Umgang damit so schwer», sagt Irina Kammerer. «Umso wichtiger ist es, dass Eltern Vergänglichkeit, Abschied und Wandel selbstverständlicher in den Alltag integrieren – damit es Kinder nicht so unvermittelt trifft, wenn sie damit zu tun haben.»

Kristina Reiss
ist freischaffende Journalistin und Mutter einer Tochter, 12, und eines Sohnes, 9. Sie lebt mit ihrer Familie am Bodensee.

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