Masturbation: Wie Kinder Lust lernen - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Masturbation: Wie Kinder Lust lernen

Lesedauer: 7 Minuten

Als die Mutter der sechsjährigen Ida die Badezimmertüre öffnet, sieht sie ihre Tochter unter der Dusche, den Wasserstrahl auf den Intimbereich gerichtet und ver­zückte Töne von sich gebend. Schnell schliesst sie die Tür und fragt sich: Ist das normal in dem Alter? Muss ich mir Sorgen machen? Soll ich das ansprechen?

Wenn Eltern mit der Sexualität ihrer Kinder konfrontiert werden, reagieren viele verunsichert oder gar peinlich berührt. Das ist in gewisser Weise normal und nachvollziehbar. «Die menschliche Sexualität ist nicht angelegt, um sie mit den Eltern, Geschwistern oder anderen nahen Verwandten zu teilen», sagt Esther Schütz, klinische Sexologin und Sexualpädagogin sowie ehemalige Leiterin des Instituts für Sexualpädagogik und Sexualtherapie (ISP) in Uster. «Dazu kommen eigene Haltungen, Glaubenssätze und Schamgrenzen, die mögliche Verunsicherungen noch weiter schüren.»

Und, obwohl Sexualität in unserer Gesellschaft nahezu allgegenwärtig ist, gilt sie in Zusammenhang mit Kindern immer noch als Tabu. «Dabei sind Kinder sehr wohl sexuelle Wesen», weiss Schütz. «Selbst Babys und Kleinkinder erleben sexuelle Erregung, ohne diese bewusst mit Sexualität zu verbinden.» Zur gesunden Entwicklung von Kindern gehört Sexualität ganz selbstverständlich mit dazu. «Viele Eltern wissen nur sehr wenig über die kindliche Sexualität und denken, dass sie quasi erst mit der Pubertät beginnt», meint die Sexualtherapeutin. «Das ist aber nicht so!»  

Sexuelle Wesen von Anfang an

Der sexuelle Erregungsreflex ist beim Menschen von Anfang an angelegt, wie der Saug- oder der Greifreflex auch. Bereits im Mutterleib lässt sich per Ultraschall beobachten, dass männliche Föten eine Erektion haben. Bei weiblichen Föten lässt sich das aus anatomischen Gründen nicht so gut darstellen. Und auch Neugeborene können spontan eine Erektion des Penis oder der Klitoris haben.

Buben lernen bereits mit zwei bis drei Jahren, die Erregung mit der Hand zu steigern. Mädchen hinken oft in diesem Entwicklungsschritt hinterher.

«Mit der Zeit erfährt das Kleinkind dann, dass eine verstärkte Durchblutung der Genitalien angenehme Empfindungen erzeugt», erklärt die Sexualpädagogin. «Sexualität ist also eine Fähigkeit, die Menschen erlernen.» Sobald Babys mit etwa drei bis sechs Monaten die Muskulatur entwickelt haben, um sich vom Rücken auf den Bauch zu drehen, lernen sie durch die erweiterten Bewegungsmuster unbewusst auch den sexuellen Erregungsreflex über Anspannen und Entspannen der Beckenbodenmuskulatur auszulösen. «Das geschieht ganz spielerisch durch die Erfahrung beim Drehen oder beim Spiel mit den Beinchen», erklärt Schütz. «Dabei werden wichtige Nervenverbindungen geknüpft, wie bei anderen Sinneserfahrungen auch.»

Später, als Kleinkind mit einem bis drei Jahren entwickeln sich daraus Muster. «Man kann dann beobachten, dass Kinder sich beim Krabbeln am Boden reiben, auf einem Kissen herumhopsen oder sich ein Kuscheltier zwischen die Beine klemmen, um den Reflex auszu­lösen und sich zu entladen», beschreibt die Sexologin. «Manche Kinder verdrehen dabei die Augen oder schwitzen stark.»

Auswirkungen auf die Sexualität im Erwachsenenalter

Der nächste wichtige Schritt in der sexuellen Entwicklung von Kindern ist das Anfassen des eigenen Geschlechts mit der Hand. «Wenn der taktile Sinn dazukommt, werden die Empfindungen im wahrsten ­Sinne des Wortes begreifbar», betont die Sexualexpertin. «Buben lernen bereits mit etwa zwei bis drei Jahren, durch Berühren und Drücken des Penis die Erregung mit der Hand zu steigern.»
 Mädchen hinken den Jungs in diesem Entwicklungsschritt jedoch oft hinterher. «Weil das Geschlecht bei Mädchen nach innen gewendet ist, können sie es ohne Spiegel nicht sehen», weiss Schütz. «Damit nehmen sie es oft nur unzureichend wahr und fassen ihre Vulva weniger oft oder gar nicht an.» Das kann auf die Sexualität im Erwachsenenalter Auswirkungen haben, weil die Frau dann nicht weiss, wie sie sich selbst mit der Hand stimulieren kann. «Sie benötigt dann enorm viel Muskelspannung und Druck oder die tiefe Penetration eines Mannes, um zum Orgasmus zu gelangen», so Schütz.

Phasen der sexuellen Entwicklung

0 bis 2 Jahre

Der sexuelle Erregungsreflex ist bereits vor der Geburt angelegt. Wohlige und angenehme ­Empfindungen nimmt das Baby anfangs vor allem über die Haut durch ­sanftes Streicheln und Liebkosen sowie über den Mund beim Saugen wahr. Durch Spannen und Entspannen der ­Beckenbodenmuskulatur lernt das Kleinkind allmählich, den Erregungsreflex selbst auszulösen.

3 bis 6 Jahre

Etwa ab dem Kindergartenalter beginnen Jungen, ihre Lust durch Anfassen des Penis mit der Hand zu ­steigern. ­Mädchen spannen dazu die Beckenbodenmuskulatur stark an und nutzen die Hand oder die Duschbrause. Sogenannte Doktorspiele, bei denen sich Kinder gegen­seitig ihr Geschlecht zeigen und sich untersuchen, ­veranstalten Kinder meist im Vorschulalter mit 4 bis 6 Jahren.

7 bis 9 Jahre

Das Primarschulalter ist von Scham und ersten ­Anzeichen der Abgrenzung von den Eltern geprägt. Dafür werden Freundschaften und auch die erste Verliebtheit zu Gleich­altrigen wichtiger. Selbst­befriedigung läuft meist im Verborgenen ab.

10 bis 12 Jahre

Die beginnende Pubertät wird spürbar und der ­Einfluss der Eltern schwindet weiter. Das Interesse am anderen Geschlecht steigt und Selbstbefriedigung findet zunehmend gezielt statt.

13 bis 16 Jahre

Körperliche Veränderungen sind jetzt deutlich ­sichtbar. Sexuelle Handlungen finden zielgerichtet statt und sind auf einen potenziellen Sexualpartner ausgerichtet. Die Einflussnahme von Eltern ist nicht mehr erwünscht.

Das Geschlecht anfassen und benennen

Die Sexual­pädagogin rät Eltern von kleinen Mädchen deshalb, ihre Tochter liebevoll in der gesunden Entwicklung ihrer Sexualität zu begleiten, indem sie ihr erklären, dass es mithilfe eines Spiegels das eigene Geschlecht anschauen kann. Dabei ist es gut, wenn sie dieses auch konkret benennen. «In einer geeigneten Situation, beim Waschen, Wickeln oder beim An- und Auskleiden, kann man dem Kind etwa sagen: ‹Schau mal, von oben siehst du es nicht, aber mit dem Spiegel kannst du deine Scheide sehen. Sie gehört zu dir und du kannst sie auch berühren›», sagt Schütz.

Die kindliche Beschäftigung mit dem eigenen Geschlecht ist nicht zielgerichtet, sondern wird als Möglichkeit genutzt, um sich wohlzufühlen.

Denn eine gesunde Entwicklung der kindlichen Sexualität spielt nicht nur für die erfüllte Sexualität im ­späteren Erwachsenenalter eine wichtige Rolle, sie hilft auch, das Kind vor möglichen Übergriffen zu schützen. Esther Schütz: «Nur wenn das Kind sein Geschlecht kennt und schätzen gelernt hat, kann es dieses auch schützen.»

Für Eltern ist ausserdem wichtig zu wissen, dass sich die kindliche Sexualität in ganz wesentlichen Punkten von der Sexualität Erwachsener unterscheidet: «Kindliche Sexualität ist niemals zielgerichtet und immer auf sich selbst bezogen», erklärt die Sexualtherapeutin. «Das Kind bewertet Sexualität nicht, sondern nimmt die Empfindungen als eine von vielen Sinnesreizen wahr, die wohlige Gefühle bereiten. Die Beschäftigung mit dem eigenen Geschlecht ist damit nicht – wie bei Erwachsenen – auf einen Orgasmus hin ausgerichtet, sondern wird ­vielmehr als eine von mehreren Möglichkeiten genutzt, um sich wohlzufühlen und Entspannung zu erfahren. «Erst mit dem Start der Pubertät, wenn die Hormone ins Spiel kommen, entwickelt sich die kindliche Sexualität ganz allmählich in Richtung der erwachsenen Sexualität, die auf ein Ziel und einen Sexualpartner oder eine Sexualpartnerin ausgerichtet ist», weiss Schütz.

Selbstbefriedigung bei Kindern ist also etwas Positives. Je nach Typ und Alter findet sie unterschiedlich oft statt und gehört zur gesunden Entwicklung des Kindes mit dazu. Allerdings hat sie auch Grenzen. Wichtig ist, dass die offensichtliche Beschäftigung mit dem eigenen Geschlecht nicht im öffentlichen Raum stattfindet. Wenn Eltern das bei ihrem Kind beobachten, sollten sie es ruhig, aber bestimmt darauf hinweisen. «Hier kann man sagen: ‹Ich sehe, dass du dir gerade Lust machst. Das kannst du in deinem Zimmer machen. Aber hier möchte ich das nicht›», rät Schütz. «Weitere Erklärungen oder Anweisungen sollten nicht erfolgen, da das Kind im Zustand erhöhter Emotionalität nichts aufnehmen, geschweige denn umsetzen kann.» Wichtig ist, dass Eltern zu einem späteren Zeitpunkt das Thema aufgreifen und mit dem Kind besprechen.

Wann Doktorspiele okay sind – und wann nicht

Im Vorschulalter interessieren sich Kinder nicht nur für den eigenen Körper, sondern auch für den ­Körper anderer. In sogenannten Doktorspielen ziehen sie sich dazu in Kleingruppen zurück und untersuchen und vergleichen sich gegenseitig neugierig vor allem im Geschlechtsbereich. «Doktorspiele sind ein ganz normaler Schritt in der sexuellen Entwicklung und für das Erkennen des eigenen Selbst wichtig», weiss die Sexologin. «Wenn Eltern zufällig in so eine Situation hineinplatzen, sollten sie möglichst gelassen reagieren und, wie bei anderen Spielen auch, nachfragen, was die Kinder da spielen und ob alle einverstanden sind.»

Kritisch wird es, wenn sich eines oder mehrere der Kinder offensichtlich nicht wohlfühlen, wenn deutlich ältere Kinder beteiligt sind oder auch, wenn spitze oder scharfkantige Gegenstände zum Einsatz kommen. «Hier sollten Eltern einschreiten und ausserhalb des Spiels mit Sohn oder Tochter über die wichtigste Grundregel sprechen: Ich traue dir zu, dass du weisst, was du willst, und du nur zulässt, was dir guttut, gefällt und wozu andere auch ja sagen!», betont Schütz.

«Doktorspiele sind ein ganz normaler Entwicklungsschritt und wichtig für das Erkennen des eigenen Selbst», sagt die Sexologin Esther Schütz.

Etwa ab der Einschulung steht bei Kindern das Schamgefühl im Vordergrund. «Kinder beginnen sich jetzt von den Eltern abzugrenzen und benötigen immer mehr eigenen Raum», erklärt die Sexualpädagogin. «Viele möchten sich dann nicht mehr nackt zeigen und wünschen weniger körperliche Nähe.» Sexuelle Spiele, Verliebtsein, Liebeskummer usw. finden im Verborgenen statt und werden vor den Eltern geheim gehalten. «Diese Anfänge der allmählichen Abnabelung sind für Eltern manchmal schmerzhaft, sollten aber unbedingt respektiert werden», betont die Sexualexpertin.

Selbstbefriedigung bei Jugendlichen

Mit dem Einsetzen der Pubertät erreicht die Abgrenzung zu den Eltern ihren Höhepunkt. Eltern werden jetzt «peinlich» und Jugendliche orientieren sich zunehmend an Gleichaltrigen ihrer Peergroup. Sexualhormone verändern den Körper und die Sexualität tritt immer mehr in den Vordergrund. Selbstbefriedigung findet in diesem Alter häufig statt und die meisten Eltern empfinden sie dann auch als normal. «Sollte man ungewollt dazustossen, rate ich Eltern, sich zurückzuziehen und die Sache nicht anzusprechen», rät Schütz. «Jugendliche empfinden das jetzt als extrem peinlich und wünschen auch keinerlei Ratschläge ihrer Eltern.» Auch Erzählungen über die eigene Sexualität sollten Eltern möglichst unterlassen. «Mutter und Vater behalten ihre Elternrolle ein Leben lang und sollten nicht versuchen, ihrem Kind gegenüber als Freundin oder Freund aufzutreten», resümiert Esther Schütz.

Lesetipps

  • Kostenlose Infobroschüren der ­deutschen Bundeszentrale für ­gesundheitliche Aufklärung:
    «Liebevoll begleiten»
    «Über Sexualität reden»
    Download unter: www.bzga.de > Suche nach Broschürentiteln
  • Esther Elisabeth Schütz, Theo Kimmich: Körper und Sexualität. Entdecken, ­verstehen, sinnlich vermitteln. Atlantis 2017, 192 Seiten, 36 Fr.
    Bestellbar unter: www.isp-uster.ch/publikationen/bucher

Rat und Hilfe für Eltern zum Thema Selbstbefriedigung bei Kindern

Anja Lang
Anja Lang ist langjährige Medizinjournalistin. Sie ist Mutter von drei Kindern und lebt mit ihrer Familie in der Nähe von München.

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