Wie lässt sich die Pubertät gemeinsam meistern?
Durcheinander im Zimmer, Chaos im Kopf: Die Pubertät ist für Teenager eine turbulente Zeit. Auch an den Eltern geht sie nicht spurlos vorbei. Auf alle Beteiligten wartet eine neue Rolle, in die es sich einzufinden gilt. Was hilft auf dem Weg dahin? Sicher ist: Wer Pubertierende besser versteht, bleibt länger gelassen.
Wartet nur, bis die Pubertät kommt!» Der Übergang vom Kindes- ins Erwachsenenalter gilt als krisenanfällig, konfliktbeladen, aufreibend. So wird Eltern gemeinhin ans Herz gelegt, sich für diese Entwicklungsphase ihrer Kinder zu wappnen. Gegen Gefühlsausbrüche, Widerworte und Unvernunft, gegen Chaos, Grenzgänge und taube Ohren, auf die sie stossen werden.
Meine Kinder? Sie sind zu Murmeltieren mutiert.
Christof, Vater von Nora und Jarno
Mögen die in Aussicht gestellten Szenarien mitunter übertrieben sein, so lassen sie Mütter und Väter immerhin nicht im Dunkeln darüber, dass möglicherweise etwas auf sie zukommt. Einfacher macht das deren Job nicht, weiss Jugendforscher Klaus Hurrelmann: «Es ist nicht nur die körperliche und psychische Veränderung des eigenen Kindes, die Eltern staunend und irritiert zur Kenntnis nehmen müssen. Es ist auch die Beziehung zu ihm, die sich grundlegend verändert.»
Zwischen Zweifeln und Entfremdung
«Sie sind zu Murmeltieren mutiert», antwortet Christof, 52, auf die Frage, wie er diese Veränderung bei seinen Teenagern erlebte. «Die meiste Zeit verbringen sie in ihrer Höhle, die sie hin und wieder verlassen, um etwas zu knabbern. Dann gehts zurück ins eigene Revier.» Einerseits, sagt der Vater von Nora und Jarno, sei es befreiend, als Eltern nicht mehr ständig gefragt zu sein, andererseits bereite ihm diese Entwicklung Mühe.
«Man könnte denken: Ist doch super, wenn die Kinder für sich sind, dann haben wir Zeit für uns. Aber oft beschleichen mich Zweifel, wenn sie stundenlang in ihren Zimmern hocken: Geht es ihnen wirklich gut? Würden sie sonst Bescheid sagen? Zum Glück sind auch Teenager zwischendurch mal zum Plaudern aufgelegt – aber ihr Rückzug ins Private nimmt immer mehr zu.»
Derweil hat Tamara*, 44, die Pubertät ihres Sohnes Renato*, 18, als regelrechte Entfremdung in Erinnerung. «Seine Antwort auf meine Frage, wie es ihm gehe, lautete immer gleich: ‹Gut!›», sagt sie. «Selbst als klar wurde, dass es Probleme gibt. Je mehr wir unternahmen, um zu ihm durchzudringen, desto stärker machte er dicht.»
In der Oberstufe sackten Renatos Schulleistungen ab, seine neuen Freunde behagten der Mutter nicht: «Ich wusste, dass sie kifften, und befürchtete, dass Renato auch andere Dinge konsumiert.» Partypillen im Zimmer des Sohnes gaben ihr recht. Der Versuch, Renato durch Gespräche oder Vereinbarungen zur Räson zu bringen, scheiterte: Er kam abends zur vereinbarten Zeit nach Hause – und kletterte hinterher aus dem Fenster. «An deiner Stelle», sagt Renato heute zu seiner Mutter, «hätte ich auch die Krise gehabt.»
Die Pubertät hat viele Gesichter
Pubertätsverläufe sind so unterschiedlich wie die Heranwachsenden selbst. Die einen Jugendlichen begnügen sich damit, ihre Eltern peinlich zu finden und auf Distanz zu gehen, die anderen schlagen Regeln in den Wind, provozieren mit Frechheiten, streiken im Haushalt. Und ganz viele wechseln so schnell zwischen Euphorie und Gereiztheit, Tatendrang und Null-Bock-Stimmung, dass einem schwindlig wird.
Die gute Nachricht: Nur wenige Heranwachsende erleben auf dieser Achterbahnfahrt behandlungsbedürftige Krisen, weiss Oskar Jenni, Co-Abteilungsleiter der Entwicklungspädiatrie am Kinderspital Zürich: «Gut acht von zehn Jugendlichen meistern die Pubertät ohne grössere Probleme.»
Evolutionär gesehen sind die Freuden und Leiden der Pubertät höchst sinnvoll.
Barbara Natterson-Horowitz, Evolutionsbiologin
Aber wozu das ganze Theater? Die Frage, die Mütter und Väter Pubertierender gelegentlich umtreibt, wirft auch dieses Dossier auf – im Bestreben, ebenjene Veränderung zu beleuchten, die eine Eltern-Kind-Beziehung durch die Pubertät erfährt.
Wenn das Kind einem über den Kopf wächst
Von Expertinnen und Experten aus Jugendforschung und Medizin, Biologie und Psychologie wollen wir wissen, was es mit dieser Veränderung auf sich hat, wie das Miteinander friedlicher gelingen kann und was Jugendliche in dieser Lebensphase von ihren Eltern brauchen. Und wir wollen eine Erklärung für typische Pubertätsphänomene, die Eltern bisweilen das Gefühl geben, das Kind wachse ihnen über den Kopf. Eine Erkenntnis von Evolutionsbiologin Barbara Natterson-Horowitz sei an dieser Stelle schon mal vorausgeschickt: «Die Freuden, die Leiden, die Tragödien und der Sinn des Ganzen lassen sich durchaus erklären: Evolutionär gesehen sind sie höchst sinnvoll.»
Wenn Kinder zu jungen Erwachsenen heranreifen, sind sie mit grossen körperlichen Veränderungen konfrontiert und in ihrem Gehirn vollzieht sich ein Komplettumbau. «All dies verunsichert und erfordert hohe Anpassungsleistungen», weiss Entwicklungsexperte Oskar Jenni.
Mit der Pubertät beginnt aber auch für die Eltern ein neuer Lebensabschnitt, denn der Blick des Kindes auf sie verändert sich. «Für ein Kind sind die Eltern die Grössten, unabhängig davon, wie sie es erziehen», sagt Jenni. «Kinder hören auf ihre Eltern, weil sie deren Zuneigung nicht verlieren wollen. Sie lieben ihre Eltern bedingungslos, weil sie emotional von ihnen abhängig sind.»
Ohne Bindung kein Loslösen
Diese Liebe wurzelt im Bindungsverhalten, das Menschen mit Säugetieren teilen. Dieses stellt sicher, dass ein Kind in der Nähe der Personen bleibt, die sein Überleben gewährleisten, wie der 2020 verstorbene Entwicklungsspezialist Remo Largo im Standardwerk «Jugendjahre» ausführt: «Ohne Bezugsperson würde das Kind nicht überleben und sich entwickeln können. Dafür muss eine sehr starke gegenseitige Bindung vorhanden sein.»
Der Sinn dieser Bindung liege darin, sicherzustellen, dass das Kind sich entwickeln könne, dass es überlebe, bis zu dem Zeitpunkt, wo es für sich selbst sorgen kann. «Dieser Zeitpunkt», so Largo, «wird in der Pubertät erreicht. Nun muss der junge Erwachsene emotional unabhängig werden, damit er eine Paarbeziehung eingehen und längerfristig eine eigene Familie gründen kann.»
Die Ablösung von den Eltern, weiss Kinderarzt Jenni, ist eine der vier zentralen Entwicklungsaufgaben, die Heranwachsende in der Pubertät zu meistern haben – und Grundlage dafür, dass auch die anderen drei gelingen: einen Platz unter Gleichaltrigen und schliesslich in der Gesellschaft finden, die eigene Identität entwickeln und am Ende für die eigene Existenz sorgen können.
Streben nach Autonomie
Während sich Jugendliche auf die Selbständigkeit vorbereiten, sind Mütter und Väter gefordert, aufzugeben, was viele Jahre lang Teil ihrer Identität als Eltern war: sich stark nach dem eigenen Kind zu richten. «Das tut weh», weiss Jenni, «und sorgt für Konflikte, weil die emotionale Abhängigkeit des Kindes von seinen Eltern weitgehend entfällt: Eine Teenagerin kommt zu spät heim, ohne deshalb zu befürchten, dass sich die Eltern von ihr abwenden. Sie hält es aus, wenn diese sauer sind.» Zu akzeptieren, dass das Kind sich immer mehr dem elterlichen Einfluss entzieht, bewirke oft Hilflosigkeit und Sorge – «aber man kommt nicht darum herum».
«Mit den Autonomiebemühungen ihres Kindes können Eltern nur dann angemessen umgehen, wenn sie das Rad der Zeit nicht zurückdrehen wollen», sagt Jugendforscher Klaus Hurrelmann. «Denn nun werden sie kommentiert, kritisch beäugt und auf Abstand gehalten.»
Warum Dazugehören in der Pubertät so wichtig ist
«Als Kind weinte ich absichtlich ganz laut, wenn ich traurig war, damit mich meine Eltern schnell trösten kamen», sagt die 14-jährige Tobi. «Als Jugendliche weinst du extra leise, damit das nicht passiert.» Warum? Die Schülerin zuckt schmunzelnd mit den Schultern: «Weil sie es mit Trösten übertreiben. Und über manche Gefühle spreche ich nicht so gern. Wenn, dann eher mit Freundinnen.»
Emotionale Nähe suchen Teenager nun zunehmend bei Gleichaltrigen, den Peers. Es gilt dazuzugehören, manchmal um jeden Preis. Während Mütter und Väter jetzt öfter gegen eine Wand reden, hat das Wort der Freunde umso mehr Gewicht. Seien es der Musikgeschmack, die Ausgehzeiten oder der Kleidungsstil: Wie die Eltern darüber denken, ist zweitrangig, es zählt die Meinung der Peers.
Teenager lernen von Gleichaltrigen, nicht mehr von ihren Eltern. Auf deren Beraterrolle haben sie meist keine Lust mehr.
Wie kommt das? Teenager seien nicht nur empfänglich für die Meinung anderer, sagt Entwicklungsspezialist Oskar Jenni, sondern darauf angewiesen. «Die Entwicklung einer eigenen Identität», kurzum, Antworten zu finden auf die Frage «Wer bin ich?», so Jenni, «vollzieht sich in der Auseinandersetzung mit der Umwelt.
In diesem Kontext nehmen Gleichaltrige eine besondere Rolle ein, weil sie auf derselben Entwicklungsstufe stehen.» Und in keinem Hierarchieverhältnis, wie das mit den Eltern der Fall sei, sagt Monika Czernin, Pädagogin und Publizistin, die gemeinsam mit Remo Largo «Jugendjahre» und weitere Bücher schrieb.
Pubertät: das Vorzimmer der Gesellschaft
Denn ganz gleich, wie egalitär Eltern erzögen, sie hätten dem Nachwuchs alle Erfahrung voraus und stünden in der Beraterrolle. «In der Peergruppe dagegen erziehen sich Jugendliche gegenseitig», sagt Czernin. «Sie handeln untereinander aus, wer das Sagen hat, welche Wertvorstellungen gelten, welches Verhalten tolerierbar ist.
So sind Pubertät und Adoleszenz das Vorzimmer zur Gesellschaft, in dem sich Jugendliche auf deren Herausforderungen vorbereiten.» Dieser Übungslauf setzt einen Platz in der Gruppe voraus. Sich diesen zu sichern, sei für Jugendliche entscheidend, sagt Kinderarzt Jenni: «Es erklärt ihr Bedürfnis, ja zuweilen den Druck, den sozialen Normen und Erwartungen ihrer Peers zu entsprechen.»
Was uns der Blick ins Tierreich lehrt
Ob Gnu, Lachs oder Ratte: Die Medizinerin und Evolutionsbiologin Barbara Natterson-Horowitz hat das Verhalten adoleszenter Wildtiere studiert – die erstaunlichen Parallelen zu menschlichen «Pubertieren» dokumentiert ihr lesenswertes Buch «Junge Wilde – Was uns der Blick in die Tierwelt über das Erwachsenwerden lehrt». «Die Geschichte lehrt uns zweierlei», schreibt Natterson-Horowitz: «Erstens: Um sicher leben zu können, muss ein Tier Gefahren begegnen. Zweitens: Als Heranwachsender sollte man nicht allein sein.
Gleichaltrige können sich gegenseitig helfen, Selbstvertrauen aufzubauen. Sie wecken im jeweils anderen die lebensrettende Fähigkeit zum Teamwork. Sie geben sich gegenseitig Gelegenheit, diese Fähigkeit zu üben. Unabhängig davon, wie sicher sich alleinlebende adoleszente Tiere fühlen, ohne Gleichaltrige können sie die schützenden Techniken nicht lernen, die sie brauchen, um in der realen Welt zu funktionieren.»
Diese Erkenntnis gelte für die menschliche Spezies genauso. Natterson-Horowitz zufolge unterscheiden sich Jugendliche in ihrem Sozialverhalten deutlich von Kindern und Erwachsenen. Sie sind nicht nur geselliger, sondern bauen untereinander komplexere, hierarchischere Beziehungen auf und reagieren auf Zurückweisung empfindlicher.
Den Grund dafür ortet die Neurowissenschaft bei Umbauarbeiten im adoleszenten Gehirn, das Jugendlichen vernunftgeleitetes Denken nur bedingt ermöglicht und sie anfällig macht für Belohnungen. Aus ihrem Verhalten ergeben sich vielfältige Parallelen zur Tierwelt, die nahelegen, dass pubertäres Gebaren stark geprägt ist von unserer evolutionären Vergangenheit.
In der Pubertät will man um keinen Preis auffallen
Entsprechend könnte beim Eifern um Konformität mit den Peers der Abweichlereffekt eine Rolle spielen, ein uralter tierischer Instinkt, um der Aufmerksamkeit von Fressfeinden zu entgehen, vermutet Forscherin Natterson-Horowitz: «Während der Adoleszenz kommt es oft zu Mobbing gegenüber Mitschülern, die anders aussehen oder sich anders verhalten als der Grossteil der Gruppe. Zwar besteht hier nicht die Gefahr, dass die Gruppe von einem Fressfeind angegriffen wird, aber ein auffällig anders aussehendes Individuum könnte unerwünschte Aufmerksamkeit auf die Gruppe lenken oder den Status der Gruppe gefährden.» Damit will die Wissenschaftlerin nicht Mobbing legitimieren – sie legt vielmehr dar, was gerade Teenager dafür besonders anfällig macht.
Sich einfügen, nicht herausragen, sich ducken, um kleiner auszusehen, Blickkontakt vermeiden: «Das alles sind Methoden, die Menschen, vor allem Heranwachsende, anwenden, um sich in ihrer Gruppe zu verstecken. Auf diese Weise versuchen sie zu verhindern, zur Zielscheibe zu werden. Wenn man das weiss, hat man als Mutter oder Vater vielleicht etwas mehr Verständnis, wenn der Neuntklässler, die Neuntklässlerin um Schuhe, Jeans oder Shirts angesagter Marken bettelt, die alle anderen auch haben.»
«Sie können einfach nicht anders»
Vor diesem Hintergrund erscheint der jugendliche Drang, dazuzugehören, in einem anderen Licht. Ebenso die Tatsache, dass es für Teenager ungleich schwerer wiegt, wenn sie ausgeschlossen, etwa zu einer Party nicht eingeladen werden. «Oder dort nicht länger bleiben dürfen», sagt «Jugendjahre»-Mitautorin Monika Czernin. «Dann kommen sie lieber zu spät und handeln sich Ärger mit den Eltern ein, statt in der Gruppe etwas zu verpassen.»
Eltern sollten die Macken ihrer Teenager nicht persönlich nehmen.
Monika Czernin, Pädagogin
Genauso sind viele Teenager untröstlich, wenn es zu Streit im Freundeskreis oder innerhalb der Klasse kommt. Gutes Zureden der Eltern läuft dann meist ins Leere oder wird nicht erwünscht, weiss Czernin. Und nicht selten hätten Konflikte, die sich zu Hause entladen und für die Eltern den Grund bei sich suchen, ihre eigentliche Ursache in Spannungen unter Peers. «Es nicht persönlich nehmen», lautet daher Czernins häufigster Rat, wenn pubertäres Verhalten für Reibereien sorgt: «Zu wissen, dass Teenager oft nicht anders können, hilft Eltern, sich weniger gekränkt oder provoziert zu fühlen.»
Langsam Verantwortung übergeben
Oft heisst es, in der Pubertät sei es mit der Erziehung vorbei. «Erziehung ist für keine Entwicklungsphase ein passender Begriff», findet Kinderarzt Jenni. «Er suggeriert, das Verhältnis zwischen Eltern und Kind sei eine Einbahnstrasse, über die Eltern auf das Kind einwirken, ohne dass dieses auf sie zurückwirkt. So läuft es aber nicht, wenn Menschen miteinander in Beziehung stehen. Und je älter das Kind wird, desto stärker prägt es diese Beziehung mit.»
So stehen Jugendliche mit ihren Eltern irgendwann nicht nur wortwörtlich auf Augenhöhe, sie streben diese Position auch im übertragenen Sinn an, wollen von ihren Eltern als Erwachsene behandelt werden und nicht mehr deren Schutzbefohlene sein. So entwickelt sich im Idealfall ein Fürsorgeverhältnis zu einer Beziehung, in der alle auf derselben Stufe stehen: Stück für Stück geht die Verantwortung, welche die Eltern für die Kinder innehatten, auf diese selbst über.
Auf dem Weg dahin kämpfen die Beteiligten bisweilen mit Anpassungsschwierigkeiten, weiss Jenni: «Dann fallen die Jugendlichen, die doch noch nicht ganz erwachsen sind, in kindliches Verhalten zurück oder die Eltern vergessen, dass Verantwortung übergeben auch Kontrolle abgeben bedeutet.»
Aus Exzessen lernen
Letzteres ist eine Herausforderung, denn mehr als in jeder anderen Lebensphase neigen Menschen in der Pubertät zu Draufgängertum und Experimentierfreude, mitunter zu regelrechter Lust am Exzess. Dass dies erklärbare Gründe hat – einmal mehr ist es das im Umbau befindliche Gehirn –, ist für Eltern ein schwacher Trost, wenn die Tochter nach dem Rausch über der Kloschüssel hängt oder der Sohn sich zu widersinnigen Mutproben anstacheln liess.
Gleichzeitig bestätigt uns der eigene Blick zurück, wie Karina Weichold sagt: «Grenzen auszuloten, gehört zur Jugend dazu. Manchmal müssen Jugendliche sie überschreiten, um sie überhaupt zu erkennen.» Weichold ist Psychologin mit Forschungsschwerpunkt Pubertät und Suchtprävention.
Pubertät ist für Eltern ein ständiges Abwägen zwischen Überforderung und Bevormundung.
Remo Largo (1943–2020), Kinderarzt
Bis zu einem gewissen Grad, sagt sie, hätten pubertäre Risikofreude und Experimentierlust eine entwicklungsfördernde Funktion, seien gar nötig, um sich an die zahlreichen, mit dieser Lebensphase verbundenen Herausforderungen – das familiäre Nest verlassen, erste Laufbahnentscheidungen fällen, sich auf die Liebe einlassen – heranwagen zu können. «So will vielleicht ein Jugendlicher, der betrunken nach Hause kommt, seine Unabhängigkeit den Eltern gegenüber demonstrieren», sagt Weichold, «und in dieser Entwicklungsaufgabe einen Schritt weiterkommen.»
Einen vernünftigen Umgang mit Alkohol zu lernen, beinhaltet nicht selten die bittere Erfahrung, schon mal über die Stränge geschlagen zu haben. «Teenager, die einen Kater durchlitten, möchten sich diese Erfahrung bei der nächsten Party lieber ersparen», sagt Weichold. «Ähnlich ist es beim Experimentieren mit Joints.»
Weichold rät in aller Deutlichkeit vom Cannabiskonsum in der Jugend ab – auch wegen gravierender Folgen für das sich entwickelnde Gehirn –, kann Eltern aber auch beruhigen: «Wer es mal ausprobiert, wird nicht automatisch zum Dauerkiffer – dafür müssen weitere problematische Umstände dazukommen.» Tatsächlich zeigten Studien, dass unter denjenigen Jugendlichen, die sich als sozial kompetent, psychisch besonders robust und in ihrem Selbstwert als ebenso stabil erweisen, besonders viele sind, die mal mit Marihuana experimentiert haben, aber keinesfalls regelmässig konsumieren.
Der Begriff Pubertät kommt vom lateinischen Wort «pubertas». Es bedeutet Geschlechtsreife – und die wird mit dieser Entwicklungsphase eingeleitet. Der Startschuss dazu fällt im Gehirn, das Signale zur Produktion von Sexualhormonen aussendet: Östrogen bei den Mädchen, Testosteron bei den Jungen. Die Pubertät beginnt bei Mädchen zwischen 8 und 14 und im Schnitt bei 11 Jahren, bei den Jungen zwischen 9 und 15 und durchschnittlich mit 13 Jahren.
Sie verläuft in Etappen, in deren Verlauf die Geschlechtsmerkmale immer stärker hervortreten: Bei Mädchen wachsen die Brüste, ihre Hüften werden breiter und die Vagina bildet sich vollends aus. Bei Jungen spriesst die Körperbehaarung, ihre Stimme bricht, der Penis wächst, die Schultern werden breiter. Der steigende Sexualhormonspiegel führt auch dazu, dass die Keimdrüsen reifen – bei Mädchen die Eierstöcke, bei Jungen die Hoden. Sie übernehmen später die Produktion der Sexualhormone und geben diese ins Blut ab.
Im Verlauf der Pubertät entwickeln weibliche und männliche Geschlechtsorgane sämtliche Funktionen, die für die Fortpflanzung nötig sind. Bei den Jungen kommt es in dieser Phase erstmals zum Samenerguss, Mädchen erleben ihre erste Periode.
Die Pubertät dauert im Schnitt fünf Jahre und endet, wenn Körperwachstum und Geschlechtsreife vollständig abgeschlossen sind. Während sich die Pubertät auf die biologische Reifung bezieht, schliesst die Adoleszenz auch die psychosoziale Entwicklung zum Erwachsenen mit ein. Sie dauert je nach Auslegung bis zum 25. Lebensjahr oder geht sogar noch etwas darüber hinaus. Ausser-dem setzt sie den vollständigen Abschluss der Gehirnreifung mit Anfang bis Mitte 20 voraus.
Kontrolle und Gehorsam sind vorbei
«Selbst für Heranwachsende, die von sich aus verantwortungsbewusst und wenig risikofreudig sind – die zum Beispiel nicht Motorrad fahren wollen oder nicht jedem Impuls zum Posten in den sozialen Medien nachgeben –, kann es hilfreich sein, die echten Konsequenzen von falschem Verhalten mitzuerleben, weil es ihre eigene Abneigung dagegen verstärkt und ihr Sicherheitsverhalten bestätigt», weiss Evolutionsbiologin Natterson-Horowitz. So lernten etwa junge Stare, die Altersgenossen im Kampf mit einer Eule beobachtet hatten, diesen künftig aus dem Weg zu gehen.
«Viele dieser Lektionen können Eltern nicht vermitteln, weil sie schlicht zu alt sind. Dies und ihre Vernunft machen es viel unwahrscheinlicher, dass sie ausrasten und etwas Dummes tun, was dann wiederum eine abschreckende Wirkung auf ihre Kinder haben könnte.»
«Kontrolle und Erziehung, die unbedingten Gehorsam verlangen, sind vorbei», schrieb Remo Largo über die Pubertät. «Das heisst aber weder, dass sich Eltern völlig aus der Verantwortung zurückziehen sollten, noch, dass sie keine Handlungsmöglichkeiten mehr haben. Es geht darum, den Kindern klarzumachen, dass sie selbst für ihr Leben und ihr Verhalten verantwortlich sind, was nicht heisst, dass sie die Verantwortung auch immer übernehmen können. Deshalb ist es für die Eltern ein ständiges Abwägen zwischen Überforderung und Bevormundung.»
Für alle, die jetzt leer schlucken, hat Largos Co-Autorin Monika Czernin eine tröstliche Nachricht: «Was wir Kindern vorgelebt, an Werten und an sozialen Erfahrungen mitgegeben haben, geht in der Pubertät nicht einfach verloren. Und: Unser Vorbild wirkt weiterhin.»
* Namen von der Redaktion geändert