«Distanz bedeutet kein Ende»
Merken
Drucken

«Distanz bedeutet kein Ende»

Lesedauer: 2 Minuten

In der Pubertät von Renato*, 18, erlitt die Beziehung zu seiner Mutter Tamara*, 44, einen Bruch. Mittlerweile haben die beiden wieder zusammengefunden – und blicken gemeinsam auf die schwierige Zeit zurück.

Aufgezeichnet von Virginia Nolan
Bild: Marvin Zilm / 13 Photo

Renato: «Einerseits war ich immer eine offene Person, die es gut hatte mit allen, andererseits verschlossen: Wenn mich etwas beschäftigte und ich dachte, dass andere es nicht auf Anhieb verstehen, schwieg ich lieber. Irgendwann wurde dieser Zug an mir extrem.»

Tamara: «Das war in der Oberstufe. Wenn man dich fragte, was los sei, sagtest du: ‹Nichts.› Dabei gab es Probleme.»

Renato: «Bis zur Oberstufe war ich der selbstbewussteste Mensch: Ich hatte Bestnoten, musste nie lernen. Dann ging es bergab.»

Tamara: «Du wusstest nicht, wie Lernen geht.»

Renato: «Stimmt. Über mein ADHS hat damals niemand Bescheid gewusst.»

Tamara: «Wir wussten nicht, wie wir dir helfen konnten. Gemeinsames Üben brachte Frust für alle Beteiligten.»

Renato: «Ich fing an, Prüfungen zu verschweigen, zeigte euch nur die guten Noten, fälschte eure Unterschriften.»

Heute würde ich vieles anders machen. Wir handelten aus Verzweiflung, denn ich kam nicht an dich heran.

Tamara

Tamara: «Und deine neuen Kollegen – ich wusste, dass sie kifften, und fragte mich: Was konsumieren die sonst noch?»

Renato: «Nichts. Wir hingen im Dorf rum. Sie durften das die ganze Nacht tun, ich musste um elf heim. Das Gleiche mit dem Handy: Ich hatte als Einziger kaum Bildschirmzeit und die Kinderschutzsperre drin. Ich fühlte mich erdrückt.»

Tamara: «Heute würde ich vieles anders machen. Wir handelten aus Verzweiflung, denn ich kam nicht an dich heran.»

Renato: «Aber wenn ich was erzählte, hiess es: Das kommt davon, weil du zu viel gamst, zu wenig lernst und so weiter.»

Tamara: «Ich wusste es nicht besser.»

Renato: «Schon klar – wir leben alle zum ersten Mal. Hilfreich war diese Strenge nicht. Dann kam ich eben um elf heim und schlich mich hinterher aus dem Fenster. Mit 15 besuchte ich immer öfter meinen Vater in Zürich. Im Ausgang fand ich Anschluss an Leute, die konsumierten Pillen, Koks, alles Mögliche. Ich liess die Sau raus.»

Irgendwann wuchs mir alles über den Kopf. Ich stand neben mir, war gefangen in einem Netz voller Lügen.

Renato

Tamara: «Wie ich ausflippte, als ich in deinem Zimmer auf Ecstasy-Pillen stiess! Am Ende brachten aber Kleinigkeiten das Fass zum Überlaufen.»

Renato: «Es gab diesen riesigen Streit, und ich beschloss, zu meinem Vater nach Zürich zu ziehen. Ich machte dort die Schule fertig, startete die Lehre zum Koch. Meinem Vater und seiner Frau erzählte ich am Wochenende, dass ich bei Kollegen penne. Dann war ich die ganze Nacht draussen und konsumierte Drogen.»

Tamara: «Ich schrieb dir jede Woche, versuchte, irgendwie dranzubleiben.»

Renato: «Irgendwann wuchs mir alles über den Kopf. Ich stand neben mir, war gefangen in einem Netz voller Lügen. Ich konnte nicht mehr und liess mich in die Psychiatrie einweisen. Mein Kopf kam endlich zur Ruhe. Ich konnte nachdenken und kam wieder auf die Beine. Auch dank meiner Ex-Freundin.»

Tamara: «Mit ihr hast du wieder angefangen, uns zu besuchen.»

Renato: «Sie hat mir die Annäherung erleichtert. So haben du und ich Stück für Stück wieder zueinander gefunden. Ich fand meine jetzige Lehrstelle, habe meine Leidenschaft fürs Kochen neu entdeckt. Heute gehe ich jeden Tag mit Freude zur Arbeit.»

Tamara: «Ich bin dankbar, ist es so gekommen – dass wir es wieder gut haben und du dein Leben im Griff hast.»

Renato: «Und unsere Geschichte zeigt, dass Distanz kein Ende bedeutet.»

* Namen von der Redaktion geändert

Virginia Nolan
ist Redaktorin, Bücherwurm und Wasserratte. Sie liebt gute Gesellschaft, feines Essen, Tiere und das Mittelmeer. Die Mutter einer Tochter im Primarschulalter lebt mit ihrer Familie im Zürcher Oberland.

Alle Artikel von Virginia Nolan

Mehr zum Thema Pubertät

Duschen: Ein Mädchen duscht
Elternbildung
Hilfe, unsere Tochter duscht nicht gerne!
Manche Zwölfjährige duschen freiwillig, andere weigern sich hartnäckig. Was tun, wenn das Kind nicht will? Das sagt unser Expertenteam.
Flussreise: MS Edelweiss
Advertorial
Flussreise mit der ganzen Familie
Eine Flussreise bedeutet Familienferien voller Abenteuer. Kinder lernen das Leben an Bord kennen, während Eltern entspannen können.
Schlaf in der Pubertät: Ein Mädchen mit dem Tablet im Bett
Entwicklung
«Schlafmangel in der Pubertät kann krank machen»
Warum aus putzmunteren Schulkindern in der Pubertät plötzlich Nachteulen werden und wie Eltern mit dem Schlaf ihrer Teenager umgehen können.
Borderline-Persönlichkeitsstörung: Ein Leben voller Extreme
Gesundheit
Borderline: Ein Leben voller Extreme
Schon junge Menschen können von einer Borderline-Persönlichkeitsstörung ­betroffen sein. Eine frühzeitige Diagnose ist entscheidend.
Fabian Grolimund Kolumnist
Blog
«Wobei wünschst du dir von uns mehr Unterstützung?»
Wie Sie als Eltern mit ungewohnten Fragen und geeigneten Gesprächanlässen wieder näher an Ihren wortkargen Teenager kommen.
Wechseljahre: Zyklusexpertin Josianne Hosner
Familienleben
«In den Wechseljahren steckt enorm viel Kraft»
Zyklusexpertin Josianne Hosner über das Potenzial der Wechseljahre und warum sie es als Chance für die Mutter-Teenager-Beziehung sieht.
Späterer Unterrichtsbeginn? Ein Mädchen legt den Kopf auf ihren Schreibtisch
Lernen
Sollte der Unterricht für Jugendliche später beginnen?
Ein späterer Unterrichtsbeginn könnte zu mehr Schlaf und besseren Leistungen führen, wie verschiedene Studien zeigen.
Langeweile: Mädchen sitzt auf dem Sofa
Entwicklung
Langeweile: «Ich habe keine Idee, was ich machen soll»
Seit einiger Zeit wird die 12-jährige Roxana geplagt von Langeweile. Sie weiss einfach nicht mehr, was sie machen könnte.
Jugendliche, Pubertät: Junge Frau mit rotem T-Shirt
Entwicklung
10 Fragen rund um das Leben mit Teenagern
Pubertierende sind für ihre Eltern manchmal ein Buch mit sieben Siegeln – und umgekehrt genauso. Expertinnen über Stolpersteine im Alltag.
Entwicklung von Jugendlichen: Eine junge Frau frisiert ihr Haar vor einem Spiegel
Entwicklung
«Eltern sollten Entwicklung anstossen, nicht bremsen»
Soziologe Klaus Hurrelmann erklärt, weshalb die Abnabelung der Kinder von ihren Eltern heute viel länger dauert und was das für Folgen hat.
Pubertät und Probleme: Tochter mit ihren zwei Müttern auf Balkon
Entwicklung
«Ich will Probleme selbst lösen»
Tobi, 14, weiss, dass sie mit ihren Eltern Bettina und Fiona über alles reden kann – manches behält sie trotzdem lieber für sich.
Pubertät und Teenager: Eine Zeit in der Kopf und Körper umgebaut werden. Im Bild sind zwei Teenager-Freundinnen zu sehen.
Entwicklung
Pubertät: Eine Zeit des Wandels
Wie sich Kopf und Körper in der Pubertät verändern und warum Freundschaften plötzlich im Fokus stehen. Ein kurze Übersicht.
Eine Patchworkfamilie in der Pubertät: Aline, Sophie, Manuela, Nora, Jarno und Christof
Entwicklung
«Die Pubertät macht manches auch einfacher»
Mitten in der Pubertät: Manuela und ihre Töchter Sophie und Aline bilden mit Christof und seinen Kindern Nora und Jarno eine Patchworkfamilie.
Pubertät: Zwei Teenager-Mädchen liegen mit ihren Smartphones auf dem Bett
Entwicklung
Wie lässt sich die Pubertät gemeinsam meistern?
Die Pubertät ist für Teenager wie Eltern eine turbulente Zeit. Auf alle Beteiligten wartet eine neue Rolle, in die es sich einzufinden gilt.
Pubertät: Eine Teenager-Tochter mit ihren Eltern
Fritz+Fränzi
Pubertät: Unser Thema im Oktober
In der Pubertät verändert sich auch die Rolle der Eltern. Wie alle gelassener durch die Zeit des Umbruchs kommen.
Thomas Feibel Medienexperte
Medien
Radikalisiert Social Media unsere Jugend?
Das Schwarz-Weiss-Denken auf Social Media schadet Kindern und Jugendlichen. Es schürt Konflikte und verstärkt Zukunftsängste.
Thema Loslassen: Vater und Tochter umarmen sich. Sie lacht.
Erziehung
Loslassen verändert sich je nach Entwicklungsphase
Eltern müssen sich mit dem Kind mitentwickeln und ihm einerseits Sicherheit, Halt und andererseits Freiheit und Vertrauen zu schenken.
Berufswahl: Manuel Wüthrich
Berufswahl
Berufswahl: Was macht mich aus?
Je besser man sich kennt, desto eher findet man einen passenden Beruf. Sich selbst realistisch einzuschätzen, ist für junge Menschen allerdings nicht immer einfach.
Cannabis
Gesellschaft
Ab wann wird Kiffen zum Problem?
Der Konsum von Cannabis ist unter Schweizer Jugendlichen weit verbreitet und wird vielleicht legalisiert. Wie gefährlich ist das?
Gamen: «Ein Verbot schlägt einen Keil in die Elter-Kind-Beziehung»
Medien
«Ein Game-Verbot schlägt einen Keil in die Beziehung»
Warum es Jugendliche manchmal schlicht nicht schaffen, selbst mit dem Gamen aufzuhören, weiss Präventionsexpertin Christina Thalmann.
Psychologin Giulietta von Salis über den Umgang mit Gefühlen.
Erziehung
«Eltern trauen Kindern oft zu wenig zu»
Psychologin Giulietta von Salis plädiert dafür, Kinder alle Emotionen erfahren zu lassen und sich als Eltern den eigenen Gefühlen zu stellen.
Vergleiche: Wer kann was am besten?
Gesellschaft
Wer kann was am besten?
Sei es in der Schule oder auf Social Media: Kinder und Jugendliche vergleichen sich ständig. Sie gewinnen damit wichtige Informationen über sich selbst.
Jungs in der Pubertät
Entwicklung
«Ich schäme mich, weil ich klein und dünn bin»
Der 13-jährige Elia wäre gern muskulöser. Doch obwohl er fleissig Sport macht, bleibt der Junge schmächtig. Das sagt unsere Expertin.
Eine Krebsdiagnose stellte Morenos Leben auf den Kopf.
Gesellschaft
«Mir ist viel Gutes widerfahren»
Moreno Isler, 22, ist in der Lehre zum Fachmann Betreuung. Mit 14 stellten erst eine Krebsdiagnose, dann die Folgen der Behandlung sein Leben auf den Kopf.
Schulfrust: Junge steht im Treppenhaus mit Handy
Psychologie
5 Tipps gegen Schulfrust
Worauf Eltern achten sollten, wenn ihr Kind nicht mehr in die Schule will, erklärt Schulpsychologe Matthias Obrist.