No Blame Approach: Eine Anleitung für Lehrpersonen
Der «No Blame Approach» (wörtlich «Ansatz ohne Schuldzuweisung») ist eine wirksame Methode, um Mobbing unter Schülerinnen und Schülern nachhaltig zu beenden. Hier wird auch bei schwerwiegenden Fällen auf Schuldzuweisungen verzichtet. Eine konkrete Hilfestellung für Lehrerinnen und Lehrer.
Viele Lehrpersonen fühlen sich im Umgang mit Mobbing unsicher. Sie befürchten, dass die Situation noch schlimmer wird, wenn sie eingreifen. Die Realität gibt ihnen oft recht: Eine halbherzige oder ungünstige Intervention kann die Situation für das gemobbte Kind tatsächlich verschlimmern. Gleichzeitig ist es ausgesprochen wichtig, dass Lehrpersonen in der Lage sind, Mobbing zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren. Doch was ist angemessen?
Es gibt kaum einen Faktor, der so sehr zu einem guten Unterricht beiträgt, wie ein gutes Klassenklima. Ist dieses durch Mobbing vergiftet, können sich einzelne Schülerinnen oder Schüler nicht mehr auf ihren Unterricht einlassen.
Mobbing eröffnet einen Schauplatz, der eine hohe emotionale Betroffenheit bei allen Schülern auslöst und den Unterricht zur Nebensache degradiert.
Damit Kinder bereit sind, zu lernen, müssen sie sich sicher fühlen. Nur so können sie sich für Inhalte öffnen und sich am Unterricht beteiligen. Muss man fürchten, für falsche Antworten ein Augenrollen oder Stöhnen zu ernten, sagt man besser nichts. Es entsteht ein Klima, in dem sich niemand eine Blösse geben und damit Angriffsfläche bieten will.
Bei Mobbing sind Sie als Lehrperson gefordert!
Es gehört in den Verantwortungsbereich der Lehrperson, dafür Sorge zu tragen, dass jedes Kind den Unterricht angstfrei besuchen kann – ganz egal, auf welcher Stufe Sie unterrichten und ob Sie Fachlehrperson oder Klassenlehrperson sind. Sie können Hilfe in Form eines Schulsozialarbeiters oder der Schulleitung beiziehen – aber Sie haben weiterhin die Verantwortung für Ihre Klasse.
Solange Mobbing in Ihrer Klasse stattfindet, sind Sie in der Pflicht, sich dieser Problematik anzunehmen. Führt die Intervention von aussen nicht dazu, dass sich die Lage wesentlich verbessert, ist es an Ihnen, sich nach weiteren Möglichkeiten zu erkundigen und selbst aktiv zu werden.
Würden Sie in Ihrem Team gemobbt, würden Sie von der Schulleitung erwarten, dass sie so lange nach einer Lösung sucht, bis das Problem gelöst ist. Und dass sie nicht nur einmalig einen Versuch startet. Denn: Gibt man sich bei Mobbing mit einer halbherzigen Lösung zufrieden, stärkt man die Macht der Akteure, man signalisiert ihnen, dass sie am längeren Hebel sitzen.
Wir können verstehen, wenn Sie sich als Lehrperson unsicher und hilflos fühlen, wenn ein Kind in Ihrer Klasse gequält wird. Aus diesem Grund möchten wir Ihnen möglichst konkrete Hilfestellungen beschreiben.
Wenn sich der Lehrer einmischt, wird das gemobbte Kind oft als Petze beschimpft – und alles wird noch schlimmer.
Wir möchten Sie auch ermutigen, selbst zu intervenieren. Eine externe Fachperson mag über ein grosses Repertoire an Ansätzen und Erfahrungen verfügen, aber Sie haben eine starke Beziehung zu Ihren Schülerinnen und Schülern aufgebaut und kennen die einzelnen Kinder. Sie sehen, ob Ihre Intervention ankommt, ob sich daraufhin etwas verändert – und Sie können positive Veränderungen aufgreifen und verstärken.
Haben Sie es geschafft, eine gute Beziehung zu Ihren Schülerinnen und Schülern aufzubauen, sind diese zudem gewillt, das gemobbte Kind um Ihretwillen zu unterstützen. Der No Blame Approach, den wir im Folgenden beschreiben, baut genau auf diesen Faktoren auf.
Mobbing ohne Strafen und Schuldzuweisungen begegnen – mit dem No Blame Approach
Der 1991 von Barbara Maines und George Robinson in England entwickelte No Blame Approach versteht Mobbing als Gruppengeschehen und hat das Ziel, die Gruppendynamik in einer Klasse zu verändern. Er verzichtet deshalb konsequent auf Schuldzuweisungen und Strafen.
Wir empfinden dies aus mehreren Gründen als sinnvoll.
- Erstens werden Sie als Lehrperson dadurch entlastet. Da Mobbing meist verdeckt stattfindet, ist es für Sie als Lehrperson schwierig, der «Wahrheit» auf den Grund zu gehen. Dies insbesondere dann, wenn Aussage gegen Aussage steht und mehrere Schülerinnen oder Schüler die Akteure decken.
- Zweitens führen Schuldzuweisungen sofort dazu, dass die Akteure und Mitläufer (Assistenten und Verstärker, wie sie im No Blame Approach genannt werden), ihre Aktionen rechtfertigen, abstreiten oder dem gemobbten Kind eine Mitschuld geben.
- Drittens lässt sich oft beobachten, dass die negativen Gefühle gegenüber dem gemobbten Kind zunehmen, wenn die Akteure und Mitläufer beschämt oder bestraft werden. Das betroffene Kind wird daraufhin als Petze beschimpft. Nicht selten erfolgen versteckte Racheaktionen, bei denen das betroffene Kind so massiv eingeschüchtert wird, dass es weitere Vorfälle verschweigt. Das Schweigen der Betroffenen aus Angst vor der Rache der Gruppe ist ohnehin ein grosses Problem.
- Viertens ist es für das betroffene Kind sehr belastend, wenn es alles preisgeben, über peinliche und demütigende Vorfälle berichten und Beweise für seine Situation erbringen muss.
- Fünftens ist es ohne Beweise für Sie als Lehrperson sehr schwierig, eine Strafe auszusprechen und durchzusetzen. Rasch kleben Ihnen die Eltern der Akteure an den Fersen, die das Gefühl haben, ihr Kind werde ungerecht behandelt.
- Sechstens ist es für die Akteure und Mitläufer leicht, auf Taten auszuweichen, die nicht zu sehen oder kaum zu bestrafen sind. In diesen Fällen wird das betroffene Kind meist isoliert. Die Gruppe zeigt ihm ihre Verachtung, indem sie es bei Spielen ausschliesst, es wie Luft behandelt oder durch subtile Gesten und zweideutige Kommentare auf den wunden Punkten herumreitet.
Aufgrund dieser sehr zweifelhaften Wirkungen von Strafen schliessen wir uns der Empfehlung der Autoren an, darauf zu verzichten.
- Im Jugendalter wird Mobbing seltener, dafür nimmt die Intensität von Mobbinghandlungen zu. Kommt es dabei zu einer Straftat (Körperverletzung, Diebstahl, Beschädigung fremden Eigentums, Hausfriedensbruch, sexueller Übergriff), sollte die Polizei eingeschaltet werden.
- Handelt es sich um Cybermobbing, werden also Videoaufnahmen, Fotos oder Gerüchte übers Internet verbreitet, sollte umgehend die Polizei eingeschaltet werden. Der Grund: Solche Inhalte können sich unkontrollierbar schnell verbreiten und sind danach kaum mehr zu löschen.
In allen anderen Fällen können Sie sich in jeder Hinsicht darauf fokussieren, die Situation des betroffenen Kindes zu verbessern und damit gleichzeitig an einem positiveren Klassenklima zu arbeiten.
Mit Beziehung und Vertrauen eine Lösung finden
Hinter dem No Blame Approach steckt eine Grundhaltung, die von Vertrauen geprägt ist und an das Gute in jedem Kind appelliert. Die Lösung wird nicht von oben verordnet. Stattdessen werden die Kinder dazu eingeladen, an einer Lösung mitzuwirken und sich mit ihren Ideen einzubringen. Die Umsetzung erfolgt auf freiwilliger Basis und erreicht die Kinder gerade deshalb.
Um die negative Gruppendynamik zu durchbrechen, wird den Kindern aktiv eine neue, positive Rolle zugewiesen – die des Helfers. Dabei wird eine Unterstützergruppe gebildet, die aus sechs bis acht Kindern besteht. Dieser gehören zur Hälfte Kinder an, die zum Mobbing beigetragen haben.
Die andere Hälfte bilden Kinder, die sich bislang neutral verhalten haben oder versucht haben, das gemobbte Kind zu schützen. Die Lehrperson behandelt jedoch unterschiedslos alle Kinder der Unterstützergruppe als Helfer, an die sie positive Erwartungen heranträgt und die sie aktiv darum bittet, ihr dabei zu helfen, die Situation des gemobbten Kindes zu verbessern.
Dabei wird weder das Wort Mobbing verwendet, noch werden einzelne Vorfälle angesprochen. Die Lehrperson macht jedoch unmissverständlich klar, dass sich die Situation des Kindes verbessern muss und sie dazu auf die Mithilfe der Gruppe angewiesen ist. Der Ansatz besteht aus drei Schritten.
Für jeden der Schritte findet man im Buch «No Blame Approach. Mobbing-Intervention in der Schule» von Heike Blum und Detlef Beck sehr konkrete Hinweise (Fairaend, 2014). Verschriftlichte Gesprächssequenzen sorgen für Sicherheit in der Umsetzung und konkrete Fragen geben Anregungen, wie man die Gespräche einleiten und gestalten könnte.
SCHRITT 1: Das Gespräch mit dem betroffenen Kind
Als Erstes wird das Gespräch mit dem betroffenen Kind gesucht. Es wird dabei darauf geachtet, dass es dem Kind so einfach wie möglich gemacht wird, sich zu öffnen. Dabei wird dem Kind Vertraulichkeit zugesichert und ihm wird versichert, dass nichts ohne seine Zustimmung unternommen wird. Achten Sie darauf, dass das Gespräch an einem ungestörten Ort stattfindet und die Mitschüler nichts davon mitbekommen.
Das Kind kann beispielsweise am Ende der letzten Schulstunde darum gebeten werden, noch die Tafel zu putzen. Sie können in das Gespräch einsteigen, indem Sie zuerst Ihre Beobachtungen ansprechen, beispielsweise mit den Worten: «Ich habe gemerkt, dass du in letzter Zeit in der Pause immer alleine spielst und weniger fröhlich bist als früher…» Gehen Sie nicht ins Detail. Es reicht aus, dass das Kind Ihnen zustimmt.
Mir ist es wichtig, dass es allen Kindern gut geht. Möchtest du meine Idee hören?
Wie man mit dem betroffenen Kind sprechen könnte
Als Nächstes geht es darum, beim Kind Zuversicht zu wecken, dass sich seine Situation verändern lässt und Sie es beharrlich dabei unterstützen werden. Sie könnten beispielsweise sagen: «Mir ist es ganz wichtig, dass es dir in meiner Klasse gut geht. Ich hätte auch eine Idee, wie wir das hinbekommen. Möchtest du sie gerne hören?»
An dieser Stelle wird dem Kind das Vorgehen (Schritt 2 und 3) geschildert und seine Zustimmung eingeholt. Das Kind wird gebeten, die Namen derjenigen Kinder zu nennen, die momentan dafür verantwortlich sind, dass es ihm nicht gut geht – sowie einige Kinder, die sich neutral oder freundlich verhalten. Mit dieser Information wird der zweite Schritt in die Wege geleitet.
SCHRITT 2: Bildung einer Unterstützergruppe
Anhand der Angaben des betroffenen Kindes wird eine Unterstützergruppe gebildet. Sechs bis acht Kinder werden in diese Gruppe eingeladen. In Absprache mit einer Fachlehrperson werden die Kinder während des Unterrichts aus der Klasse geholt. Zuvor haben die Kinder eine schriftliche Einladung erhalten, in der sie um Hilfe gebeten werden. Im Buch von Detlef Beck und Heike Blum finden Sie hierzu verschiedene Vorlagen.
Wichtig: Das betroffene Kind wird nicht eingeladen.
Die Teilnahme an der Gruppe wäre eine grosse Belastung für das gemobbte Kind und würde es den Akteuren und Mitläufern erschweren, eine neue Rolle einzunehmen!
Die Kinder werden willkommen geheissen. Sie als Lehrperson schildern Ihr Anliegen. Dabei machen Sie deutlich, dass es Ihnen mit der Klasse nicht mehr wohl ist, weil es dem betroffenen Kind nicht gut geht. Sie können dazu betonen, wie wichtig es Ihnen ist, dass sich alle Kinder in der Klasse wohl und sicher fühlen. Dieser Punkt ist deshalb wichtig, weil manche Schülerinnen und Schüler sehr motiviert sein werden, Ihnen zu helfen.
Jedes Kind wurde als Helfer eingeladen. Daher ist es auch wichtig, jedes Kind so zu behandeln. So wird beispielsweise auch zu einem Akteur gesagt, dass er eingeladen wurde, weil er viele gute Ideen hat und die anderen viel auf seine Meinung geben. Das Buch gibt gute Anregungen zur Frage, wie mit Schuldzuweisungen unter den Kindern umgegangen werden kann.
Mithilfe der Gruppe werden in der Folge Ideen gesammelt, die dazu führen, dass sich das betroffene Kind wieder wohlfühlt und wieder gerne zur Schule geht. Vielfach sind es die Kinder, die sich nicht am Mobbing beteiligt haben, die als erste Vorschläge äussern. Ermutigt durch die Lehrperson schliessen sich in der Folge auch die Mitläufer (Verstärker und Assistenten) mit Ideen an.
Den Kindern, von denen das Mobbing ausgegangen ist, wird vor Augen geführt, dass sich das Blatt wendet und sie nicht mehr damit rechnen können, Anerkennung und Zuspruch für weitere Aktionen zu erhalten. In der Folge sind sie meist bereit, zumindest weitere Handlungen zu unterlassen oder sogar in die Rolle des Helfers zu schlüpfen und mitzuwirken.
Hat jedes Kind einen Vorschlag geäussert, wird die Verantwortung der Gruppe übergeben. Wer möchte, kann nun seinen Vorschlag in die Tat umsetzen. Am Ende wird ein Termin für ein Nachgespräch festgelegt.
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SCHRITT 3: Das Nachgespräch
Das Nachgespräch sorgt für Verbindlichkeit. Die Kinder wissen, dass Sie als Lehrperson am Ball bleiben und aktiv für eine Verbesserung der Situation einstehen. Ein bis zwei Wochen nach der Bildung der Unterstützergruppe laden Sie jedes Kind einzeln zu einem Gespräch ein und bitten es um eine Einschätzung der Situation.
Das erste Gespräch wird mit dem betroffenen Kind einzeln geführt, die weiteren mit den Mitgliedern der Unterstützergruppe jeweils unter vier Augen.
Wer wird über die Massnahmen informiert?
Es wird den Kindern der Unterstützergruppe offen gestellt, ob sie anderen Kindern oder ihren Eltern von der Gruppe erzählen möchten.
Sie als Lehrperson müssen jedoch niemanden informieren.
Es ist sinnvoll, den Eltern des betroffenen Kindes das Vorgehen zu schildern und auf Bedenken einzugehen. Meist sind die Eltern sehr froh, dass etwas unternommen wird. Es ist jedoch oft notwendig, den Eltern zu erklären, weshalb auf Strafen verzichtet wird. Gleichzeitig sollten die Eltern darum gebeten werden, von eigenen Aktionen abzusehen.
Bitten Sie die Eltern, Sie zu informieren, falls keine Verbesserung eintritt oder das Mobbing nach einer erfolgreichen Intervention doch wieder neu beginnt.
Die Eltern der anderen Kinder werden normalerweise nicht informiert. Kommen Eltern mit Fragen auf Sie zu und möchten beispielsweise wissen, warum ihr Kind in der Unterstützer-Gruppe Mitglied ist, können Sie kurz schildern, dass es einem Kind nicht gut geht und Sie ihr Kind um Mithilfe gebeten haben.
Es würde dem Ansatz zuwiderlaufen, wenn Sie den Eltern schildern, dass ihr Kind zu den Akteuren oder Mitläufern gehört, da jedes Kind in der Gruppe als Helfer angesehen wird. Ihre Bemühungen würden zunichtegemacht, wenn etwa die Eltern des Akteurs ihr Kind zu Hause bestrafen.