Autismus: Wenn jedes Muss zur Zerreissprobe wird
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Wenn jedes Muss zur Zerreissprobe wird

Lesedauer: 4 Minuten

Geht die Verweigerungshaltung des Kindes über jegliches Mass hinaus, könnte dahinter eine wenig bekannte Entwicklungsstörung stecken: die Pathological Demand Avoidance.

Eltern geraten unter Dauerstress und fühlen sich hilflos, wenn ihr Kind sich ständig verweigert, beharrlich Widerstand leistet und zu jeder Bitte, jeder Aufforderung Nein sagt. In einigen Fällen kann dieses Verhalten so ausgeprägt sein, dass es zu einer klinischen Diagnose führt. Kinder, die ein konstantes Muster von negativem, trotzigem oder gar feindseligem Verhalten gegenüber Eltern, Lehrkräften oder anderen Erwachsenen zeigen, können an einer oppositionellen Verhaltensstörung leiden.

Zeigt ein Kind zusätzlich häufig aggressives oder sozial inakzeptables Verhalten, tyrannisiert andere Kinder oder Tiere, lügt und stiehlt immer wieder, geht also deutlich über altersentsprechenden Unfug hinaus, könnte eine Störung des Sozialverhaltens vorliegen.

In den letzten Jahren wird zunehmend ein weiteres Konzept berücksichtigt: die Pathological Demand Avoidance (PDA). Kinder mit PDA verhalten sich im Alltag oft sehr ähnlich wie jene mit einer oppositionellen Verhaltensstörung oder einer Störung des Sozialverhaltens, sodass sie häufig solche Diagnosen erhalten. Leider erfahren sie und ihre Familien dadurch nicht die spezifische Unterstützung, die für ihre besondere Situation erforderlich wäre.

Was ist PDA?

Pathological Demand Avoidance wird derzeit nicht als eigenständige Diagnose anerkannt, sondern vielmehr als ein spezifisches Verhaltensprofil definiert. Es ist hauptsächlich durch eine extreme und pathologische Ablehnung von Anforderungen charakterisiert. Der Begriff wurde in den 1980er-Jahren von der Entwicklungspsychologin Elizabeth Newson an der Universität Nottingham geprägt, die intensiv mit autistischen Kindern arbeitete. Ihre Forschungsgruppe betrachtete PDA als eine seltene Variante des Autismus-Spektrums, was zur Bezeichnung PDA-Autismus führte.

Die Auffassung, dass PDA und Autismus zusammengehören, wird in der Forschung kontrovers diskutiert, aber von vielen Praktikerinnen, die sich mit PDA befassen, geteilt. So beispielsweise von der Psychiaterin und Psychotherapeutin Nicole Chou-Knecht, Co-Präsidentin des Fachvereins PDA-Autismus-Profil Schweiz. Sie betont: «Meiner Erfahrung nach liegen Kinder mit PDA-Verhalten jeweils auch auf dem Autismus-Spektrum. Allerdings liegt bei PDA oft eine hoch maskierte Autismus-Spektrum-Störung vor. Das heisst, dass die Betroffenen über aussergewöhnliche Anstrengungen in der Lage sind, in vielen Bereichen angemessen und angepasst zu ‹funktionieren›, und ihre Defizite so für andere nicht offensichtlich werden.»

Kinder mit PDA beschreiben ein Gefühl intensiver Angst, wenn ihnen die Kontrolle entgleitet oder sie mit einer Anforderung konfrontiert werden.

Im Gegensatz zu Kindern mit oppositionellem Trotzverhalten lehnen sich Kinder mit PDA-Verhalten nicht nur gegen Autoritäten auf, sondern verweigern schlicht und einfach jedwede Anforderung. Damit ist praktisch jede Handlung gemeint, die mit einem «Muss» oder «Sollte» verbunden ist.

Es kann sich dabei um Aufforderungen oder Bitten handeln, die andere Personen äussern, gesellschaftliche Anforderungen, aber auch ganz alltägliche Aufgaben wie Aufstehen, Anziehen oder Zähneputzen bis hin zu den Grundbedürfnissen, sodass manche Betroffene beispielsweise kaum in der Lage sind, genug zu essen, zu trinken oder sich um die Hygiene zu kümmern.

Auch der Aufbruch zum geliebten Hobby oder zu einem Ausflug, auf den sich das Kind gefreut hat, kann so plötzlich verweigert werden, einfach, weil der Termin im Kalender steht oder man jetzt aufbrechen müsste – und dies somit als Anforderung erlebt wird.

Angst vor Kontrollverlust

Während sich viele Kinder gegen Anforderungen wehren und beispielsweise ungern Zähne putzen oder am Morgen erst nach mehrmaliger Aufforderung aufstehen, ist das Vermeidungsverhalten bei Kindern mit PDA extrem übersteigert. Zunächst setzen betroffene Kinder meist eher Vermeidungsverhalten ein, das sozial noch angemessen erscheint: Sie versuchen abzulenken, Erwachsene in ein Gespräch zu verwickeln oder beginnen vor sich hinzuträumen.

Besteht das Gegenüber auf der Aufgabe, wird der Widerstand der Kinder extremer: Sie laufen weg, schreien, schlagen um sich oder verletzen sich sogar. Im Gegensatz zu Kindern mit oppositionellem Verhalten zeigen Kinder mit PDA dabei oft kein Schamgefühl und bringen ihre Eltern in höchst peinliche Situationen.

Bei Kindern mit PDA sind oft gerade diejenigen Vorgehensweisen sinnvoll, die auf den ersten Blick unlogisch erscheinen.

Gleichzeitig neigen betroffene Kinder dazu, andere zu kontrollieren. Sie möchten bestimmen, wer was tut, wer wo sitzt oder was isst. Viele Betroffene beschreiben ein Gefühl intensiver Angst, wenn ihnen die Kontrolle entgleitet oder sie mit einer Anforderung konfrontiert werden.

Diese Angst kann sich bis zu einem Panikanfall oder psychischen Zusammenbruch steigern. Dabei betonen PDA-Betroffene, dass es sich nicht um eine Trotzreaktion oder ein bewusstes Vermeiden handelt, das ihrer Kon­trolle oder Entscheidung unterliegt – vielmehr kommt es zu einem «Nicht-anders-Können».

Weniger Regeln aufstellen

Eltern von betroffenen Kindern und Jugendlichen stehen unter extremem Druck und durchleben oft einen langen Leidensweg. Viele der üblichen Erziehungsstrategien versagen bei ihren Kindern. Fachpersonen sind oft ratlos und können das Verhalten der Kinder nicht einordnen.

Fast immer wird den Eltern unterstellt, ihr Kind gar nicht, zu wenig oder falsch zu erziehen. Dabei sind bei diesen Kindern oft gerade diejenigen Vorgehensweisen sinnvoll, die auf den ersten Blick unlogisch erscheinen. 

So scheinen Betroffene gerade nicht – wie oft empfohlen – von viel Struktur, Ritualen und klaren Regeln zu profitieren, sondern von elterlicher Begleitung, die als Low-Demand-Erziehungsstil bezeichnet wird. Die Psychiaterin Nicole Chou sagt dazu: «Dieser Erziehungsstil bedeutet nicht, dass man gar keine Anforderungen mehr an das Kind stellt. Es geht vielmehr darum, in einem ersten Schritt die Regeln auf das absolut notwendige Minimum zu reduzieren und das dauernd überreizte Nervensystem des Kindes dadurch zu entlasten.» 

Für Eltern ist es entlastend, wenn sie erkennen, dass das Kind sich nicht ‹schlecht benehmen will›, sondern sich aus der Angst und Überforderung heraus zur Wehr setzt.

Kinder mit PDA-Verhalten profitieren zudem, wenn Anforderungen eher ausgehandelt oder mehrere Alternativen angeboten werden («Du könntest diese Hose oder ­diese hier anziehen») und unliebsame Aufgaben gemeinsam erledigt werden. Anstelle direkter Aufforderungen, die Widerstand hervorrufen, helfen oft indirekte Ansätze, bei denen Anweisungen beispielsweise in ein Rollenspiel eingebunden werden – etwa mit einer Zahnputzparade, einem Meerjungfrauen-Bad oder einem königlichen Abendmahl. 

Vor allem aber ist es für Eltern entlastend, wenn sie erkennen, dass das Kind sich nicht «schlecht benehmen will», sondern sich aus der Angst und Überforderung heraus zur Wehr setzt – und dass autoritäres, strafendes oder auch nur ein «konsequentes» Bestehen auf Regeln die Situation verschärft.

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Fabian Grolimund
ist Psychologe und Buchautor. Gemeinsam mit ­Stefanie Rietzler leitet er die Akademie für Lerncoaching in Zürich. Er ist verheiratet, Vater eines Sohnes und einer Tochter und lebt mit seiner Familie in Fribourg.

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