Ein Autismus-Begleithund für Joel
Joel ist 7 Jahre alt. Er hat das Asperger-Syndrom, eine Variante des Autismus – auf Abweichungen vom Gewohnten reagiert er mit Wut und Angst. Sein grösster Wunsch ist es, einen Hund zu bekommen, der ihm Sicherheit gibt. Joels Mutter ist alleinerziehend, vor fünf Jahren erkrankte sie an Krebs. Hier erzählt sie ihre Geschichte.
Jetzt ist es so. Ich bettle. Inzwischen kümmert es mich nicht mehr, was andere denken. Ich bin einfach nur froh, wenn ich Hilfe erhalte. Für Joel. Er ist inzwischen siebenjährig. Als er vor eineinhalb Jahren die Diagnose Asperger-Autismus erhielt, wusste ich, was auf mich zukommt.
Auch Joels 14-jähriger Bruder ist autistisch. Mit ihm habe ich alles durchlebt, was Eltern autistischer Kinder durchleben können: die anfängliche Ratlosigkeit, die Abklärungen und vor allem die verzweifelte Suche nach Unterstützung. Sie führte uns durch einen Dschungel aus stationärer Psychiatrie, Pflegefamilie, Psychiatriespitex, aufsuchendem Psychiater und Sonderschule. Autismus wurde zu meinem Hauptfach in dieser Lebensschule: Ich suchte Hilfe in etlichen Weiterbildungen und Büchern. Daneben wollte ich aber auch meiner Tochter eine gute Mutter sein. Sie ist heute zwölf.
Krebs ist heilbar, Autismus nicht
Mitten in diesem Prozess steckte ich also, als Joel zweijährig ähnliche Anzeichen zu zeigen begann wie sein Bruder. Er wurde zunehmend überaktiver, eigensinniger und liess sich nicht mehr lenken. Zu viele Reize führten zu Ausrastern. Dann schrie er, hielt sich die Ohren zu, warf Dinge um sich, verkroch sich verzweifelt im Zimmer unter seiner Bettdecke und liess niemanden mehr an sich heran.
Eine Abklärung zögerte ich hinaus. Vor fünf Jahren erkrankte ich an Krebs. Zusätzlich waren mein Mann und ich in Trennung. Das erschöpfte mich. Eine weitere Autismus-Diagnose hätte ich zu diesem Zeitpunkt nicht verkraftet.
Inzwischen hat sich manches eingependelt: Die Krebsbehandlung ist abgeschlossen. Für meinen älteren Sohn habe ich eine tolle Pflegefamilie in der Nachbarschaft gefunden. Drei Tage die Woche verbringt er dort. Inzwischen geht er auch wieder in die öffentliche Schule. Mein Ex-Mann unterstützt mich an einem Abend unter der Woche und an den Wochenenden in der Kinderbetreuung. So auch meine Eltern. Sie leben im selben Haus. Mittags essen wir meist gemeinsam.
Darüber bin ich froh, denn es kommt immer wieder zu Zwischenfällen. Es braucht nur wenig – zum Beispiel ein Salatblatt, das den Reis berührt. Schon fliegt der Teller. Ich versuche alles, um Joels Leid klein zu halten: immer dieselben Tagesabläufe, klare Strukturen, visuelle Anleitungen, wo immer möglich die Reize reduzieren. Und doch kann ich ihn nur beschränkt vor den Anfällen schützen.
Autisten sind oft unfähig, sich auf eine veränderte Situation einzulassen.
In der Schule stösst Joel an seine Grenzen
Seit Joel in die Schule geht, ist es noch schwieriger. Im Moment besucht er die Regelschule mit vier Stunden integrativer Förderung. Das ist für ihn eine grosse Herausforderung, oft eine Überforderung. Es kommt mir vor, als habe er ein gewisses Kontingent an Reizen, die er täglich verarbeiten kann. Viele davon begegnen ihm schon auf dem Schulweg. Ein Flugzeug am Himmel, ein Auto, das er noch nie gesehen hat, die Geräusche der Klassenkameraden – das alles strengt ihn sehr an.
In der Schule sucht er Kontakt zu seinen Gspändli und stösst doch immer wieder an seine Grenzen, weil er Emotionen nicht lesen kann, Aussagen wortwörtlich versteht und nicht adäquat reagiert. Die Heilpädagogin hat die Eltern und somit die Klasse über Autismus aufgeklärt. Das war mir wichtig: Ich will, dass die Leute wissen: Es ist angeboren. Es ist nicht heilbar. Es ist kein Erziehungsfehler.
In den eigenen vier Wänden fällt die Fassade zusammen
Manchmal gelingt es Joel gut, sich in der Schule anzupassen. Darin ist er ein Spezialist – wie sein Bruder. Aber das kostet ihn unglaublich viel Energie. Zu Hause fällt die Fassade zusammen. Er verliert die Kontrolle und erträgt nichts mehr. Zuerst ist da der Tunnelblick, die Verzweiflung, und dann rennt er davon. Folge ich ihm, wird es nur schlimmer. Es kam schon vor, dass er in solchen Situationen Autos zerkratzte und Pfosten umschlug. Das erschöpft ihn. Und mich ebenso.
Autismus ist eine ständige Auseinandersetzung mit sich und anderen. Manchmal mag ich nichts mehr davon hören. Lasst mich in Ruhe damit, möchte ich dann am liebsten rufen. An anderen Tagen geht es gut. Aber Zeit für mich selbst habe ich kaum mehr. Oft holt mich Joel schon morgens um halb sechs aus dem Bett. Bis zum Abend bin ich pausenlos mit den Kindern beschäftigt. Sind alle drei anwesend, ist es nur noch ein Chaos. Manchmal würde ich gerne wieder meinen Hobbys oder meinem Beruf als Pflegefachfrau nachgehen. Im Moment arbeite ich drei Stunden die Woche im Büro meines Vaters. Immer am Dienstagabend, wenn mein Ex-Mann die Kinder ins Bett bringt.
Das Angebot reicht nicht für alle
Dass ein Hund eine beruhigende Wirkung auf Joel hat, merkte ich erstmals dank Sweetie – unserem kleinen Mops. Joel schläft besser, wenn Sweetie bei ihm im Zimmer ist. Das ist verständlich: Hunde sind leichter zu verstehen. Sie erwarten nichts.
Dass aber Hunde bei Autisten tatsächlich therapeutisch eingesetzt werden, erfuhr ich erst vor Kurzem am Welt-Autismus-Tag. Da waren Familien mit Autismusbegleithunden dabei. Mir wurde bewusst: Genau das würde uns entlasten. Wir gehen alle drei Wochen zu einer Kinder- und Jugendpsychiaterin, erhalten zwei Stunden die Woche Hilfe von einer Familienbegleiterin und Joel besucht seit einem Jahr die Figurenspieltherapie. Der Hund könnte das unterstützende Angebot ergänzen und Joel im Alltag Sicherheit bieten.
Es dauert zwei Jahre, bis man einen Begleithund erhält. So lange kann ich nicht warten. Wir brauchen die Entlastung jetzt.
So ging das Rösslispiel von vorne los: suchen, reden, abklären. Eigentlich versuchte ich, Joel vorerst aus dem Hundethema rauszuhalten, um keine Hoffnungen zu schüren. Aber wie Autisten sind: Sie merken alles. Wir fassten zuerst eine Anbieterin in Allschwil bei Basel ins Auge. Die Stiftung Schweizerische Schule für Blindenführhunde. Seit 2012 bildet sie Autismusbegleithunde aus. Sie war mir sofort sympathisch. Joel durfte mit einem Hund spazieren gehen und war hell begeistert.
Das Problem ist: Die Stiftung wird überrannt von Anfragen, kann aber nur etwa acht Hunde pro Jahr anbieten. Einmal pro Halbjahr darf man an einer Auslosung teilnehmen. Vier bis fünf maximal zehnjährige Kinder werden gewählt und kommen auf die Warteliste. Von da an dauert es ungefähr zwei Jahre, bis man den Hund erhält. So lange kann ich nicht warten. Wir brauchen die Entlastung jetzt.
Ich erweiterte die Suche über die Landesgrenze hinaus und stiess auf einen deutschen Verein für Assistenzhunde. Er führt keine Wartelisten, sondern trifft die Auswahl seiner Kunden nach einer sorgfältigen Prüfung der Bewerbung und einem persönlichen Kennenlernen. Ausserdem hat er keine Altersbegrenzung.
So ergab das eine das andere. Im Frühling lernte ich Thomas Gross an einer Messe in Karlsruhe kennen. Er ist Vorsitzender des Vereins für Assistenzhunde. Im Sommer lud er uns für drei Tage nach Rostock ein, damit er Joel kennenlernen und sich ein Bild von seinen Anfällen machen konnte. Herr Gross entschied sich, mit uns zu arbeiten. Ende Jahr könnte Joel seinen Hund kriegen – sofern ich bis dahin die Finanzierung sichern kann.
Wir haben es geschafft! Dank Ihren vielen kleinen und grossen Spenden haben wir unser Ziel – 30’000 Franken für einen Autismusbegleithund zu sammeln – sogar übertroffen: Es sind 34’000 Franken Spendengelder bei uns eingetroffen. Wir haben uns deshalb entschlossen, die Spendenaktion zu beenden. Im Namen von Joel bedanken wir uns bei allen Spenderinnen und Spendern sehr herzlich.
Stiftung Elternsein, Herausgeberin des Schweizer ElternMagazins Fritz+Fränzi