Mit Autismus-Hund Finn den Alltag meistern

Fotos: Herbert Zimmermann / 13 Photo
Autistische Kinder sind mit neuen Situationen oft überfordert, reagieren impulsiv, können Gefahren nicht richtig einschätzen. Speziell ausgebildete Hunde sollen sie im Alltag begleiten. Finn ist einer von elf Autismusbegleithunden, die in der Schweiz im Einsatz sind. Seit einem Jahr ist er mit dem 11-jährigen Tom unterwegs.
Wenn Tom mit zum Einkaufen geht oder in die Stadt fährt, wird er von Finn begleitet. Der Labrador ist Anker, Leuchtturm und Stoppschild zugleich für den 11-Jährigen. Tom ist Autist, Finn einer der elf Autismusbegleithunde, die bisher in der Schweiz im Einsatz sind. Immer dann, wenn Tom auf seinem Weg plötzlich stehen bleibt, loszurennen oder wegzuspringen versucht, gleicht Finn diese Bewegungen aus, stemmt sich dagegen oder bleibt einfach stehen – und schützt ihn so vor Gefahr.
Bis er anderthalb Jahre alt war, entwickelte sich Tom Müller aus Sarnen OW ganz normal. Er lief umher, brabbelte die ersten Worte, lachte, wenn seine Mutter ihm zuwinkte, der Vater ihn in die Luft warf und wieder auffing. «Dann verlor er plötzlich Fähigkeiten, die er schon erworben hatte», erinnert sich seine Mutter. Tom wurde immer stiller, kommunizierte nicht mehr, reagierte immer weniger auf Sprache. Ganz langsam und schleichend verlief dieser Prozess. Die letztendliche Diagnose erhielt die Familie erst nach seinem fünften Geburtstag.
18 Monate muss die Familie auf ihren Hund warten, der in Allschwil ausgebildet wird.

Dossier: Autismus
Was ist ein Autismus-Begleithund?
Auch Natascha Müller ist über das Geschirr mit den beiden verbunden. Sie führt den Hund, auf den das Kind seine ganze Aufmerksamkeit richtet. Dabei reagiert Finn auf die Hörzeichen des Erwachsenen, 25 sind es insgesamt. «Wenn Finn ihn aufhält, nimmt Tom das auch viel besser an», sagt seine Mutter. Er liebt den Hund, ist ruhiger, wenn er mitgeht.

Finn ist ein Familienhund, der, sobald er das Geschirr trägt, zum Diensthund wird.
«Wie heisst denn der Hund?», fragt ein Junge.
«Finn», sagt Tom. Er kennt den Jungen, er geht in dieselbe Sprachheilschule wie er. Gesprochen haben sie noch nie miteinander. Seit Finn dabei ist, ist das anders. Er ist Toms Brücke in die Welt.
Und auch zu Hause gibt ihm Finn Halt. «Ponte» heisst das Hörzeichen, bei dem sich der Labrador über die Beine des auf dem Teppich sitzenden Jungen legt, wie eine schwere Decke. Und holt den Buben – der eben noch ganz ausser sich vor Zorn war – wieder auf den Boden zurück.
Zurück vom Einkaufen, möchte Tom am liebsten mit Finn spielen und noch ein Buch anschauen. Für die Müllers ist klar: Auch wenn Tom irgendwann für einen Autismusbegleithund zu alt sein wird: Finn bleibt, er gehört schon jetzt zur Familie.
* Namen von der Redaktion geändert
Was ist Autismus?
Die Ursachen sind bis heute nicht vollständig geklärt. Genetische Einflüsse und wahrscheinlich biologische Abläufe vor, während und nach der Geburt können die Entwicklung des Gehirns beeinträchtigen und die autistische Störung auslösen. In der Schweiz werden jedes Jahr etwa 550 Kinder geboren, die eine autistische Störung entwickeln. Dabei geht es bei einem Drittel der Kinder um klassischen frühkindlichen Autismus, bei zwei Dritteln um andere autistische Störungen.
Ein ausgebildeter Autismusbegleithund kostet etwa 48 000 Franken. Familien mit Kindern mit Autismus erhalten ihren Hund kostenlos. Die Kosten werden von der Stiftung Schweizerische Schule für Blindenführhunde übernommen und vollständig über Spenden und Legate finanziert. Weitere Informationen auf www.autismus.ch
Weiterlesen:
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- Kann ein Autist Autisten helfen? Der Psychologe Matthias Huber selbst ist «Asperger» und zeigt, dass es geht.
- Ein Autismus-Begleithund für Joel. Joel ist 7 Jahre alt. Er hat das Asperger-Syndrom, eine Variante des Autismus – auf Abweichungen vom Gewohnten reagiert er mit Wut und Angst. Sein grösster Wunsch ist es, einen Hund zu bekommen, der ihm Sicherheit gibt.