Hunde begleiten Kinder mit Autismus – sowie Labrador Finn
Autistische Kinder sind mit neuen Situationen oft überfordert, reagieren impulsiv und können Gefahren nicht richtig einschätzen. Speziell ausgebildete Hunde sollen sie im Alltag begleiten. Finn ist einer von elf Autismusbegleithunden, die in der Schweiz im Einsatz sind. Seit einem Jahr ist er mit dem 11-jährigen Tom unterwegs.
Tom* greift nach dem Buch. Eine Geschichte muss er noch lesen, danach ist er fertig mit den Hausaufgaben. Immer wieder streckt er die Hand aus, streichelt den Labrador, der geduldig neben ihm liegt. «Tom, wir gehen einkaufen», ruft seine Mutter. Sie steht schon an der Tür und hält nicht nur das Hundegeschirr bereit, sondern auch einen Gürtel, den Tom tragen wird. Über diesen ist er per Leine mit Finn verbunden.
Wenn Tom mit zum Einkaufen geht oder in die Stadt fährt, wird er von Finn begleitet. Der Labrador ist Anker, Leuchtturm und Stoppschild zugleich für den 11-Jährigen. Tom ist Autist, Finn einer der elf Autismusbegleithunde, die bisher in der Schweiz im Einsatz sind. Immer dann, wenn Tom auf seinem Weg plötzlich stehen bleibt, loszurennen oder wegzuspringen versucht, gleicht Finn diese Bewegungen aus, stemmt sich dagegen oder bleibt einfach stehen – und schützt ihn so vor Gefahr.
Die Diagnose Autismus erhielt Tom an seinem fünften Geburtstag
Bis er anderthalb Jahre alt war, entwickelte sich Tom Müller aus Sarnen OW ganz normal. Er lief umher, brabbelte die ersten Worte, lachte, wenn seine Mutter ihm zuwinkte, der Vater ihn in die Luft warf und wieder auffing. «Dann verlor er plötzlich Fähigkeiten, die er schon erworben hatte», erinnert sich seine Mutter. Tom wurde immer stiller, kommunizierte nicht mehr, reagierte immer weniger auf Sprache. Ganz langsam und schleichend verlief dieser Prozess. Die letztendliche Diagnose erhielt die Familie erst nach seinem fünften Geburtstag.
18 Monate muss die Familie auf ihren Hund warten, der in Allschwil ausgebildet wird.
Dass diese frühkindlicher Autismus lautete, überraschte Natascha Müller* nicht. Dafür waren die Anzeichen zu eindeutig: Im Kindergarten war ihr Sohn sehr isoliert, konnte sich nicht gegen andere Kinder durchsetzen. Zu Hause musste alles an seinem Platz stehen, Möbel durften nicht verrückt werden, der Weihnachtsbaum nicht abgeschmückt werden. «Andernfalls hat er angefangen zu brüllen und liess sich kaum beruhigen.»
Wartezeit für einen Hund: 18 Monate
Jeder Gang in die Stadt musste gut überlegt sein. Wählte die Familie einen anderen Weg, als Tom ihn sich vorstellte, gab es Tränen. Er kam nicht damit klar, wenn etwas nicht in den gewohnten Bahnen verlief. Alleine zur Schule, zur Logopädie oder in die Psychomotorik gehen? Zu gefährlich. Tom ist ein impulsives Kind, kann Gefahren nicht einschätzen, sich nicht in andere hineinversetzen. Ein Fulltime-Job für die Mutter. Natascha Müller bildete sich weiter, besuchte Veranstaltungen und Kurse. Und war begeistert, als sie vor etwa zweieinhalb Jahren von dem Programm der Autismusbegleithunde erfuhr. Die Wartezeit für einen Hund betrug damals 18 Monate.
Peter Kaufmann öffnet die Boxen und leint die drei Hunde an. In der Stiftung Schweizerische Schule für Blindenführhunde in Allschwil BL werden seit 2012 auch Begleithunde für Kinder ausgebildet, die an einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) erkrankt sind. Instruktor Peter Kaufmann hat das Programm während eines Neuseelandaufenthalts kennengelernt und bei seinem Arbeitgeber in Allschwil eingeführt. Bisher ist dieses Angebot einmalig in der Schweiz.
Seit Finn uns begleitet, muss ich nicht jede Sekunde mit den Augen bei Tom sein.
Natascha Müller, Finns Mutter
Ebenso wie bei der Ausbildung der Blindenführhunde setzt die Schule hierbei auf die Labrador-Rasse: In der Regel haben die Hunde einen gutmütigen Charakter, sind robust und auf Menschenfreundlichkeit gezüchtet. Peter Kaufmann: «Ausserdem können sie mit ihren 26 bis 30 Kilo ein Kind ankern.»
Was ist ein Autismus-Begleithund?
Gedankenverloren geht Tom den Gehsteig entlang. Plötzlich springt er los, will rennen. Unvermittelt. Die Ampel ist rot, Autos und Lastwagen donnern über die Kreuzung. Doch noch bevor er den Fuss auf die Strasse setzen kann, wird er von Finn zurückgehalten.
Der Hund ist ein Familienhund, der, sobald er das Geschirr trägt, zum Diensthund wird
Peter Kaufmann, Hundetrainer
Busfahren, einkaufen, spazieren gehen: «Seit Finn uns begleitet, muss ich nicht jede Sekunde mit den Augen bei Tom sein», sagt die Mutter, die so auch einmal in Ruhe auf Toms Schwester Sarah* eingehen kann.
Tom liebt seinen treuen vierbeinigen Freund
Auch Natascha Müller ist über das Geschirr mit den beiden verbunden. Sie führt den Hund, auf den das Kind seine ganze Aufmerksamkeit richtet. Dabei reagiert Finn auf die Hörzeichen des Erwachsenen, 25 sind es insgesamt. «Wenn Finn ihn aufhält, nimmt Tom das auch viel besser an», sagt seine Mutter. Er liebt den Hund, ist ruhiger, wenn er mitgeht.
Jeden Mittwochnachmittag begleitet Finn Tom in die Psychomotorik-Stunde, donnerstagmorgens zur Schule und mittags wieder zurück. Während des Unterrichts ist er nicht dabei. Sechs Stunden still liegen wäre zu viel für das Tier. «Der Hund ist ein Familienhund, der, sobald er das Geschirr trägt, zum Diensthund wird», sagt Peter Kaufmann. Eine fordernde Aufgabe. Deshalb soll sich das Tier in der übrigen Zeit des Tages ausruhen, spielen können.
Für Tom ist Finn automatisch mehr. «Wie heisst denn der Hund?», fragt ein Junge.
«Finn», sagt Tom. Er kennt den Jungen, er geht in dieselbe Sprachheilschule wie er. Gesprochen haben sie noch nie miteinander. Seit Finn dabei ist, ist das anders. Er ist Toms Brücke in die Welt.
Und auch zu Hause gibt ihm Finn Halt. «Ponte» heisst das Hörzeichen, bei dem sich der Labrador über die Beine des auf dem Teppich sitzenden Jungen legt, wie eine schwere Decke. Und holt den Buben – der eben noch ganz ausser sich vor Zorn war – wieder auf den Boden zurück.
Zurück vom Einkaufen, möchte Tom am liebsten mit Finn spielen und noch ein Buch anschauen. Für die Müllers ist klar: Auch wenn Tom irgendwann für einen Autismusbegleithund zu alt sein wird: Finn bleibt, er gehört schon jetzt zur Familie.
* Namen von der Redaktion geändert
Manche Menschen sind Einzelgänger, die sich nur für ein Spezialgebiet interessieren, sich nur mit Mühe in andere Menschen einfühlen und mit ihnen adäquat kommunizieren können und Kontakte eher vermeiden. Sind diese Merkmale so ausgeprägt, dass sie die Entwicklung eines Kindes behindern, spricht man von «Autismus» als einer tiefgreifenden Entwicklungsstörung. Menschen mit Autismus haben grosse Probleme, ihre Umwelt als sinnvolles Ganzes zu verstehen. Ihre Lernmöglichkeiten sind dadurch beeinträchtigt. In den meisten Fällen treten die Symptome bereits in den ersten drei Lebensjahren auf.
Die Ursachen sind bis heute nicht vollständig geklärt. Genetische Einflüsse und wahrscheinlich biologische Abläufe vor, während und nach der Geburt können die Entwicklung des Gehirns beeinträchtigen und die autistische Störung auslösen. In der Schweiz werden jedes Jahr etwa 550 Kinder geboren, die eine autistische Störung entwickeln. Dabei geht es bei einem Drittel der Kinder um klassischen frühkindlichen Autismus, bei zwei Dritteln um andere autistische Störungen.
Ein ausgebildeter Autismusbegleithund kostet etwa 48 000 Franken. Familien mit Kindern mit Autismus erhalten ihren Hund kostenlos. Die Kosten werden von der Stiftung Schweizerische Schule für Blindenführhunde übernommen und vollständig über Spenden und Legate finanziert. Weitere Informationen auf www.autismus.ch