Das andere Kind – leben mit Autismus

Bilder: Daniel Auf der Mauer / 13 Photo
Was ist Autismus? Ein vielfältiges Spektrum
Dossier: Autismus
Emilio und Waschmaschinen
-
1/4 Der 9-jährige Emilio hat Autismus. Rituale bestimmen sein Leben. Mehrmals am Tag geht er in den Wäscheraum und beobachtet die drehenden Trommeln. -
2/4 Emilio geht in die Blindenschule. Dort werden auch Autisten unterrichtet. Neben dem Einzelunterricht … -
3/4 …besucht er zur Förderung seiner sozialen Fähigkeiten die Oberstufenklasse.
Emilio faszinierten zuerst die Räder des Kinderwagens. Heute sind es Waschmaschinen. Während andere Kinder auf den Pausenhof strömen, huscht er in den Wäscheraum und beobachtet die drehenden Trommeln. Manchmal wiederholt er dazu fast singend die immer gleichen Wörter, die er Minuten, Stunden oder Tage zuvor irgendwo aufgeschnappt hat: «Het mi öppe öpper gärn? Het mi öppe öpper gärn?»
Asperger – die schweigende Mehrheit
Die Genetik spielt eine Rolle
Der 14-jährige Julian zieht sich wortlos in sein Zimmer zurück. «Besuch verändert die gewohnte Struktur. Das irritiert ihn», erklärt Claudia Leupold. Julian hat ein diagnostiziertes Asperger-Syndrom. So auch seine 12-jährige Schwester Mia. Sie streicht ihr Brot – scheinbar unbeteiligt, aber doch wachsam: Kommt die Rede auf das Drohnenfliegen, diskutiert sie mit.
Die Leidenschaft für Technik und Computer teilt Mia mit ihrem Vater René Leupold. Er ist Softwarearchitekt und -entwickler. Wie er zwischen Würstchen und Rührei über digitale Transformation und Sensoren spricht, kommt der Gedanke auf, dass auch er ein Asperger ist. Naheliegend ist es, denn laut Ronnie Gundelfinger spielt die Genetik neben allfälligen Umwelteinflüssen während der Schwangerschaft die Hauptrolle beim Autismus. «Abklären liess ich mich nicht», sagt René Leupold, «aber wahrscheinlich ist es so.» Seine Frau zweifelt nicht daran: Gefühle könne er nicht gut ausdrücken. «Er ist die schweigende Mehrheit.»
Das trifft auf Mia zu. Über Eigenheiten blickten die Eltern hinweg: So liess sich Mia nicht gerne frisieren oder sie bestand auf wenige, vertraute Kleidungsstücke. Selbst wenn sie abgetragen waren. Erst mit dem Klassenwechsel in die Mittelstufe wurden die Probleme deutlich: Zunehmend verweigerte Mia die Schule, bis sie 11-jährig gar nicht mehr hinging. Eine Abklärung bestätigte die Vermutung der Eltern.
Ein Alltag voller Herausforderungen
Die Gesuche wurden dennoch abgelehnt. Claudia erhob Einsprache. Mit Erfolg zwar, aber auf Kosten der eigenen Kräfte. «Wir haben nur noch funktioniert.» Auch heute funktioniert die Familie – oft im positiven Sinn.
Bald wird Claudia wieder froh sein um Beratung. Für Julian rückt das Thema Ausbildung näher. Davor hat Claudia wie viele andere Eltern Respekt. Zu wenige Ausbildner und Arbeitgeber wissen um die Fähigkeiten autistischer Menschen. Sie liegen nicht nur, aber oft im technischen Bereich. Das entgeht Informatikdienstleistern nicht.
-
1/3 Mia geht seit einem Jahr nicht mehr zur Schule. Ihre Mutter unterrichtet sie. -
2/3 Mia legt ihr Handy kaum aus der Hand. Die Welt der Technik gibt ihr Sicherheit. -
3/3 «Wie sollen Julian und Mia eine Lehrstelle finden?», fragt die Mutter, hier im Bild mit ihrer Tochter. «Wir erkennen das Potenzial unserer Kinder. Aber sie können keine Noten vorweisen.»
Ein interessegeleiteter Schullehrplan
«Können Kinder trotz Lernbegleitung nicht mehr in die Regelschule integriert werden, setzt eine Heilpädagogin die schulische Arbeit im Elternhaus fort mit dem Ziel, Anschluss zu finden an ein Setting in einer Volks- oder Sonderschule», erklärt Christian Niederhauser, Direktor der Stiftung für blinde und sehbehinderte Kinder und Jugendliche. Ab Sommer bietet die Blindenschule im Auftrag des Kantons zusätzlich eine Lernumgebung für sechs autistische, nicht blinde Kinder an: Sie arbeiten in Gruppen, um ihren Gemeinschaftssinn zu fördern.
Kinder mit dem Asperger-Syndrom hingegen würden von integrativer Beschulung profitieren. Ob Regel- oder Sonderschule – die schulische Arbeit mit autistischen Kindern stellt eine Herausforderung dar. «Lernen loszulassen», empfiehlt Christian Niederhauser seinen Angestellten. «Die Kunst ist, dass sich die Lehrkraft nicht verpflichtet fühlt für ein Bildungsziel, das nicht realisierbar ist, sondern dort ansetzt, wo das Kind Interesse zeigt.»
Psychotherapie statt Delfinschwimmen
80 000 Autisten in der Schweiz. Genaue Zahlen gibt es nicht.
Einzelne Aspekte der autistischen Störung können durch Ergotherapie oder Logopädie behandelt werden. Daneben arbeiten in der Schweiz viele heilpädagogische Schulen mit der TEACCH-Methode (Treatment and Education for Autistic and related Communication handicapped Children). Intensivere Therapien stützen oft auf den verhaltenstherapeutischen Ansatz ABA (Applied Behavior Analysis).
Letzteren kennt Emilio gut. Soeben sitzt er mit seiner ABA-Therapeutin Jessica Stauffacher über Aufgaben gebeugt, die seine sprachlichen, kognitiven, motorischen und sozialen Fertigkeiten fördern.
Therapie: je früher, desto besser
Zwar finanziert die IV pauschal 45 000 Franken für die Intensivbehandlung von frühkindlichem Autismus in einem der sechs Frühinterventionszentren. Der Betrag deckt jedoch die Gesamtkosten nicht. Im FIAS zum Beispiel kostet die 3-wöchige Intensivbehandlung mit 2-jähriger Nachsorge 90 000 Franken. Oft werden Diagnosen für eine Frühintervention auch zu spät gestellt.
Emilio war schliesslich 3-jährig, als seine ASS ärztlich bestätigt wurde. Ronnie Gundelfinger vergibt die Autismusdiagnose in der Regel ab 2,5-jährig. Manchmal seien die Anzeichen schon früher deutlich. «Die Behandlung eines 1-jährigen Kindes finanziert aber niemand.» Es sei auch fraglich, Frühdiagnosen zu pushen. «Das Angebot für Frühinterventionen stagniert in der Schweiz.»
Es hat also zu wenig Plätze. «Für jeden Kanton sollte sichergestellt werden, dass mindestens ein Autismuskompetenzzentrum mit bedarfsdeckenden Kapazitäten zur Verfügung steht.» Unter anderem das empfahl der Bundesrat 2015 als Antwort auf ein Postulat von Claude Hêche, um die Lage autistischer Kinder und deren Umfeld zu verbessern. Die Ideen sind vorhanden.
Die Umsetzung braucht Zeit. Emilio nimmt sie sich. Seine Therapie ist zu Ende. Die Mutter wartet. Die Therapeutin wartet. Und Emilio? Der geht nochmals zurück in den Therapieraum. Die Storen sind nicht alle gleichmässig hochgezogen. Sorgfältig behebt er den Mangel, vertieft in seinen leisen Singsang: «I gaa itz, tschüüss. I gaa itz, tschüüss.»
Buch und Film
- Louis. Brot. Von Res Brandenberger (2014). Landverlag, Langnau. Roman über Louis, einen autistischen Jungen, der sich von seinem Heimatdorf Trubschachen aus auf eine lange Reise in eine neue Welt begibt.
- Autismus mal anders. Einfach, Authentisch, Autistisch. Von Aleksander Knauerhase (2016). Books on Demand GmbH, Norderstedt. Der Autor ist selbst Autist und beschreibt sein zum Teil herausforderndes Leben mit einer Autismus-Spektrum-Störung.
- Schattenspringer. Wie es ist, anders zu sein. Von Daniela Schreiter (2014). Panini Verlag. Die Autorin beschreibt in einer Art gezeichnetem Tagebuch, wie sie ihre Kindheit und Jugend als Asperger-Autistin erlebte. Ein zweiter Band «Schattenspringer 2» erschien 2015.
- Autismus-Spektrum-Störungen in der Schweiz. Lebenssituation und fachliche Begleitung. Von Andreas Eckert (2015). Stiftung Schweizer Zentrum für Heil- und Sonderpädagogik (SZH) Bern. Auf der Grundlage einer Elternbefragung zeigt der Autor in diesem Forschungsbericht Erkenntnisse und Entwicklungen im Bereich Autismus-Spektrum-Störungen auf.
- Sesame Street (amerikanische Version der Kinderserie «Sesamstrasse»). Hat seit April2016 die 4-jährige autistische Julia als neuen Charakter. Mit dieser Initiative sollen die Kleinsten in der Gesellschaft für Autismus sensibilisiert und autistische Kinder besser integriert werden.
- Life Animated. Von Ron Suskind (2016). Der Spielfilm zeigt, wie sich der stumme, autistische Owen Suskind mithilfe von Disneyfiguren Zugang zur Aussenwelt verschafft.
Zur Autorin:
Weiterlesen:
- Der 9-jährige Emilio hat Autismus. Wie der Alltag mit einem autistischen Kind aussieht, beschreibt Emilios Mutter Bruna Rausa.
- Kann ein Autist Autisten helfen? Der Psychologe Matthias Huber selbst ist «Asperger» und zeigt, dass es geht.