In Zürich und neu auch in Bern bietet die Stiftung Informatik für Autisten eine Ausbildung im IT-Bereich an. In Bern kümmert sich ausserdem die Stiftung Autismuslink um die berufliche Integration, so auch die Pädagogische Hochschule Bern mit ihrem Service für unterstützte Berufsbildung (SUB). Jugendliche und Erwachsene mit einer ASS erhalten zum Beispiel ein IV-vermitteltes Coaching. Trotzdem: «Betroffene und Angehörige fühlen sich zu wenig unterstützt. Das Angebot deckt den Bedarf nicht ab», weiss Fabienne Serna von der Beratungsstelle «autismus deutsche schweiz». Der Verein unterstützt und vernetzt Eltern von autistischen Kindern, Selbstbetroffene und Fachpersonen. «Es fehlt an autismusspezifischen Angeboten und Arbeitsplätzen. »
Daran mag Claudia noch nicht denken. «Wie sollen Mia und Julian eine Lehrstelle finden? Wir erkennen das Potenzial unserer Kinder. Aber sie können keine Noten vorweisen.» Seit einem Jahr gehen sie nicht mehr zur Schule. Mia verlässt das Haus überhaupt nur noch in Begleitung der Eltern. Claudia unterrichtet ihre Kinder nun selbst. Zusätzlich kommt an zwei Vormittagen pro Woche die mobile Schule für je zwei Lektionen ins Haus. «Homeschooling» nennt sich das Angebot der Blindenschule Zollikofen.
«Können Kinder trotz Lernbegleitung nicht mehr in die Regelschule integriert werden, setzt eine Heilpädagogin die schulische Arbeit im Elternhaus fort mit dem Ziel, Anschluss zu finden an ein Setting in einer Volks- oder Sonderschule», erklärt Christian Niederhauser, Direktor der Stiftung für blinde und sehbehinderte Kinder und Jugendliche. Ab Sommer bietet die Blindenschule im Auftrag des Kantons zusätzlich eine Lernumgebung für sechs autistische, nicht blinde Kinder an: Sie arbeiten in Gruppen, um ihren Gemeinschaftssinn zu fördern.
Gleichzeitig besteht die Möglichkeit, einzeln in einem separaten Raum mit den Kindern zu arbeiten. Neben der Blindenschule Zollikofen erarbeiten schweizweit zunehmend mehr Schulen autismusspezifische Angebote. Damit handeln sie bedarfsgerecht, wie Andreas Eckert, Professor an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik Zürich, in mehreren Studien nachweist.
Für Kinder mit frühkindlichem Autismus brauche es mehr Plätze in autismusspezifischen Einrichtungen.
Kinder mit dem Asperger-Syndrom hingegen würden von integrativer Beschulung profitieren. Ob Regel- oder Sonderschule – die schulische Arbeit mit autistischen Kindern stellt eine Herausforderung dar. «Lernen loszulassen», empfiehlt Christian Niederhauser seinen Angestellten. «Die Kunst ist, dass sich die Lehrkraft nicht verpflichtet fühlt für ein Bildungsziel, das nicht realisierbar ist, sondern dort ansetzt, wo das Kind Interesse zeigt.»
Ein Blick in Emilios Schulstube macht sein Interesse deutlich: Er liegt auf einem Sitzwürfel. «Sibe chugelrundi Söi, liged näbenand im Höi. Si tüend grunze, si tüend schmatze … », erklingt ein Lied aus den Lautsprechern. Emilios Aufmerksamkeitsphasen seien kurz, sagt seine Lehrerin Melanie Radalewski. Die Psychologin unterrichtet Emilio vormittags im Einzelsetting. In den Liederpausen sammelt Emilio Energie für die nächste Lerneinheit. Heute ist er konzentriert: Auf Anweisung seiner Lehrerin schreibt er Buchstabe für Buchstabe das Wort Sonne an die Tafel. Diese Fähigkeit verdankt er auch einer intensiven Therapie: Drei mal drei Stunden Verhaltenstherapie erhält er in der Woche.
Emilio ist einer von rund
80 000 Autisten in der Schweiz. Genaue Zahlen gibt es nicht.
Die geeignete Therapie zu finden, ist eine Herausforderung. Das Angebot reicht von psychotherapeutischen Massnahmen über spezielle Diäten bis hin zu Delfintherapien oder Medikamenten. Vom Schwimmen mit Delfinen hält Ronnie Gundelfinger nichts. Auch das heilende Medikament gebe es nicht. «Medikamentös behandelt werden die Begleitsymptome.»
So würden zum Beispiel viele autistische Kinder ADHS-Symptome aufweisen und von Ritalin profitieren. Für den Experten ist aber klar: «Die einzigen Ansätze, von denen man bis jetzt weiss, dass sie etwas bringen, sind spezifisch für Autismus entwickelte Therapieprogramme. Am besten untersucht sind verhaltenstherapeutische. Dabei spielen der frühe Beginn und die hohe Intensität der Behandlung eine entscheidende Rolle. »
Einzelne Aspekte der autistischen Störung können durch Ergotherapie oder Logopädie behandelt werden. Daneben arbeiten in der Schweiz viele heilpädagogische Schulen mit der TEACCH-Methode (Treatment and Education for Autistic and related Communication handicapped Children). Intensivere Therapien stützen oft auf den verhaltenstherapeutischen Ansatz ABA (Applied Behavior Analysis).
Letzteren kennt Emilio gut. Soeben sitzt er mit seiner ABA-Therapeutin Jessica Stauffacher über Aufgaben gebeugt, die seine sprachlichen, kognitiven, motorischen und sozialen Fertigkeiten fördern.
Bei Mädchen wird die Diagnose Autismus oft verpasst oder verspätet gestellt. Mädchen fallen weniger auf und versuchen sich eher anzupassen.
Der Raum ist abgedunkelt. Emilio ist sehr lichtempfindlich. «Wofür willst du arbeiten», fragt die Psychologin, «für einen Sirup oder für den Zottelbären? » Für seine gewünschte «Zoggubär»-Pause muss Emilio zuerst Kärtchen einer Bildergeschichte in die richtige Reihenfolge bringen. Danach setzt er sich aufs Sofa und sieht zu, wie der Bär durch den Raum segelt, um schliesslich auf seinem Bauch zu landen. Begeistert gibt sich Emilio dem Spiel hin. Dann steht die nächste Aufgabe an. Und die nächste Belohnung. Ein bisschen erinnert das Ganze an einen Dressurakt. «Das ist die häufigste Kritik», sagt Jessica Stauffacher. Emilio spreche jedoch gut auf diesen Ansatz an. «Er bleibt länger sitzen als früher, löst manche Aufgaben leichter und zeigt ausserdem kaum mehr aggressive Verhaltensweisen.»
Emilio begann seine Therapie mit vier Jahren. Der Trend heute ist ein anderer: Studien weisen auf den Nutzen eines möglichst frühen Therapiebeginns hin. In der Schweiz existieren sechs Frühinterventionszentren – zum Beispiel das FIAS in Basel, das 2010 aus dem
israelischen Mifne-Ansatz hervorging und Kinder zwischen 1,5- und 4-jährig aufnimmt. Die Frühinterventionen sind im Moment jedoch nicht allen autistischen Kindern zugänglich. Für manche Eltern ist der Aufwand zu gross – sei es wegen der Reise oder wegen der Kosten.
Zwar finanziert die IV pauschal 45 000 Franken für die Intensivbehandlung von frühkindlichem Autismus in einem der sechs Frühinterventionszentren. Der Betrag deckt jedoch die Gesamtkosten nicht. Im FIAS zum Beispiel kostet die 3-wöchige Intensivbehandlung mit 2-jähriger Nachsorge 90 000 Franken. Oft werden Diagnosen für eine Frühintervention auch zu spät gestellt.
«Vor 4-jährig ist es kompliziert, eine Diagnose zu erhalten», sagt Emilios Mutter Bruna Rausa. «Ich erkannte von Anfang an, dass mit meinem Baby etwas nicht stimmt. A
ber Kinderärzte erkennen die frühen Anzeichen zum Teil nicht.»
Emilio war schliesslich 3-jährig, als seine ASS ärztlich bestätigt wurde. Ronnie Gundelfinger vergibt die Autismusdiagnose in der Regel ab 2,5-jährig. Manchmal seien die Anzeichen schon früher deutlich. «Die Behandlung eines 1-jährigen Kindes finanziert aber niemand.» Es sei auch fraglich, Frühdiagnosen zu pushen. «Das Angebot für Frühinterventionen stagniert in der Schweiz.»
Es hat also zu wenig Plätze. «Für jeden Kanton sollte sichergestellt werden, dass mindestens ein Autismuskompetenzzentrum mit bedarfsdeckenden Kapazitäten zur Verfügung steht.» Unter anderem das empfahl der Bundesrat 2015 als Antwort auf ein Postulat von Claude Hêche, um die Lage autistischer Kinder und deren Umfeld zu verbessern. Die Ideen sind vorhanden.
Die Umsetzung braucht Zeit. Emilio nimmt sie sich. Seine Therapie ist zu Ende. Die Mutter wartet. Die Therapeutin wartet. Und Emilio? Der geht nochmals zurück in den Therapieraum. Die Storen sind nicht alle gleichmässig hochgezogen. Sorgfältig behebt er den Mangel, vertieft in seinen leisen Singsang: «I gaa itz, tschüüss. I gaa itz, tschüüss.»