«Funkstille ist schlimmer als der schlimmste Streit» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Funkstille ist schlimmer als der schlimmste Streit»

Lesedauer: 8 Minuten

Wenn das eigene Kind den Kontakt abbricht, bleiben verzweifelte Eltern mit der Frage nach dem Warum zurück. Claudia Haarmann forscht seit vielen Jahren zum Thema Kontaktabbruch. Er bahne sich schon lange vorher an, weiss die Psychotherapeutin – und habe eine klare Botschaft.

Interview: Irena Ristic
Bilder: Thekla Ehling

Frau Haarmann, wieso bricht ein Kind den Kontakt zu seinen Eltern ab? 

Das kann viele verschiedene Gründe haben. Grundsätzlich lässt sich sagen: Ein Mensch, der den Kontakt zu seinen Eltern abbricht, empfindet eine tiefe Not. Er fühlt sich in seiner Person, in seinem Kern nicht wahrgenommen. Er hat lange versucht, seinen Eltern deutlich zu machen, was ihn bewegt, ist dabei aber nie auf Verständnis gestossen. Wenn ein Kind sieht, dass es nicht mehr mit seinen Eltern zusammenkommt, kann es sein, dass es diesen Schritt macht.

Sie kennen solche Fälle aus Ihrer therapeutischen Praxis. Was erleben Sie in Ihrem Arbeitsalltag?

Ich möchte ein Beispiel erzählen: Die Eltern einer jungen Frau machten Karriere im Ausland. Nannys kümmerten sich um die Kinder, als diese klein waren. Kamen die Eltern müde nach Hause, empfanden sie die Kinder, die viel Tamtam machten, oft als Störung. Beide Elternteile wuchsen in einer emotional sehr kalten Familie auf. Sie hatten nie erfahren, wie sich Nähe anfühlt und wie man sie herstellt. Sie hatten nur gelernt, zu funktionieren …

… und als sie selbst Eltern wurden, waren sie emotional abwesend für ihre Kinder?

Ja. Über die Jahre hat sich viel Leid angestaut. Die junge Frau fragte sich: Wollten mich Mama und Papa überhaupt? Sie konfrontierte die Mutter mit vielen Vorwürfen. So gab es etwa Nannys, die die Kinder nicht gut behandelten, was die Mutter offenbar nicht bemerkt hatte. Die Konfrontation mit diesen Erlebnissen führte zu einem grossen Konflikt zwischen den beiden Frauen.

Claudia Haarmann ist als Psychotherapeutin in eigener Praxis in Essen tätig. Ihre Arbeit fokussiert sich auf die Bindungs- und Beziehungsdynamiken in Familien und deren Auswirkungen im Erwachsenenalter. www.claudia-haarmann.de
Claudia Haarmann ist als Psychotherapeutin in eigener Praxis in Essen tätig.
Ihre Arbeit fokussiert sich auf die Bindungs- und Beziehungsdynamiken in Familien und
deren Auswirkungen im Erwachsenenalter. www.claudia-haarmann.de

Wie reagierte die Mutter auf die Vorwürfe ihrer Tochter?

Total fassungslos. Das ist das Verrückte daran. Subjektiv meinte die Mutter, alles für das Kind getan zu haben: Sie hatte gearbeitet, um den Kindern alles zu ermöglichen, die tollsten Spielzeuge gekauft, teure Ferien ermöglicht und das Studium finanziert. Die Eltern verstanden die Vorwürfe nicht, weil sie ehrlich das Gefühl hatten, alles richtig gemacht zu haben. Auch schockierte sie die Tatsache, dass sie nicht mitbekommen hatten, wie es der Tochter wirklich ergangen ist.

Nach dieser Konfrontation kam es zum Kontaktabbruch?

Ja. Der Kontaktabbruch ist übrigens das Massivste, was ein Kind tun kann. Dafür braucht es aber eine gewisse Reife.

Wie meinen Sie das?

Gerade für kleine Kinder ist das, was Eltern tun, grundsätzlich richtig. In diesem Alter ist man mit seinen Eltern emotional sehr stark verbunden – weil man sie existenziell braucht. Erst mit der Pubertät fragt sich ein Bub, ein Mädchen: Wer bin ich? Wenn das Kind in dieser Zeit durch Freunde oder Mitschüler mitbekommt, wie andere Familien miteinander umgehen, beginnt es zu reflektieren. Das Kind spürt: Ich reife zu einer eigenständigen Persönlichkeit, die Fragen an die Eltern hat.

Was sind das für Fragen?

Warum geht es immer um dich? Warum siehst du nicht, dass ich Probleme in der Schule hatte oder dass ich gemobbt wurde? Oder: Warum fühlt sich alles so kühl an zwischen uns? Wieso kuschelst du nicht mit mir? Eine wichtige Frage lautet auch: Warum akzeptierst du mich nicht, wie ich bin?

Ist die starke Verbindung zur Mutter gestört, bleibt der Vater als Positivfigur.

Welches sind die Auslöser, die ein Kind zum Kontaktabbruch bewegen?

Erst einmal: Ein Kontaktabbruch bahnt sich viel länger an, als es für die Eltern den Anschein hat. Die Konflikte haben eine Geschichte. Es brodelte schon lange, aber nie wurde darüber in der Familie gesprochen. Auslöser sind häufig die Lebensumbrüche: wenn junge Menschen ins Berufsleben einsteigen oder von zu Hause ausziehen. Oder wenn sie selbst Eltern werden und merken, wie übergriffig sich Mutter und Vater verhalten und wie viel Einfluss sie nehmen wollen.

Da gibt es die Mutter, die ihren Sohn nicht loslassen kann und sich massiv in seine Ehe einmischt. Es eskaliert, als das erste Enkelkind auf die Welt kommt. In diesem Fall musste der Sohn, zum Schutze seiner Familie, den Kontakt zu seiner Mutter kappen. Er selbst konnte nie richtig Kind sein. Die alleinerziehende Mutter hatte ihn – im emotionalen Sinne – als Partnerersatz missbraucht. Ein klarer Fall von zu viel Nähe.

Was auffällt: Häufig brechen Kinder den Kontakt nur zu ihrer Mutter ab, nicht aber zu ihrem Vater. Warum?

Durch die Schwangerschaft besteht zwischen Mutter und Kind eine symbiotische Verbindung. Das hat auch hormonelle Gründe. Wenn ich als Kind auf die Welt komme, ist es für mich existenziell, dass meine Mutter froh ist, dass ich da bin, dass sie in der Lage ist, auf meine Bedürfnisse einzugehen. Wenn die Mutter das nicht kann, sei es wegen einer Depression, Arbeitslosigkeit, einer schwierigen Beziehung zum Vater oder aus anderen Gründen, spürt dies das Kind. Diese Mütter sind zwar physisch präsent, aber für das Kind in Wirklichkeit emotional abwesend. Das Kind fühlt sich nicht wahrgenommen und dadurch nicht geliebt.

Eine Familie funktioniert wie ein Uhrwerk: Jedes Familienmitglied ist ein Zahnrad.

Was ist mit den Vätern? Spricht man im Bekanntenkreis über Familienkonflikte, entsteht der Eindruck, dass über Mütter oft härter geurteilt wird als über Väter.

Das ist auch meine Wahrnehmung. Gerade Töchter sind mit dem Vater oft milder und viel wohlwollender. Ich kenne viele Fälle, wo noch mit dem Vater gesprochen wird, aber mit der Mutter nicht mehr. Ist die starke Verbindung mit der Mutter gestört, bleibt der Vater als Positivfigur, die man nicht auch noch entthronen möchte.

Es gibt auch Eltern, die den Kontakt zu ihrem Kind abbrechen.

Meiner Erfahrung nach sind das Eltern, die es nicht aushalten, wenn das Kind nicht so «funktioniert», wie sie es für richtig halten. Dann gibt es Eltern, die sagen: Wenn du so bist, dann möchte ich keinen Kontakt zu dir. Diese Mütter und Väter haben innerlich ein Gerüst aus Konzepten und Vorstellungen gebaut, das ihnen Sicherheit gibt und definiert, was richtig und falsch ist. Da gibt es wenig Flexibilität. Letztlich geht es diesen Eltern darum, dass sich das Kind ihren Vorstellungen beugt. Dahinter steht eine grosse Angst, sozial nicht anerkannt zu werden.

Bringt ein Kontaktabbruch diese unflexiblen Vorstellungen nicht ins Wanken?

Es gibt Eltern, die bleiben hart. Aber meist kommt mit dem Kontaktabbruch etwas in Bewegung. Eine Familie funktioniert bildlich gesprochen wie ein Uhrwerk: Jedes Familienmitglied ist ein Zahnrad. Erstarrt die Familie in ihren Mustern, bleibt dieses Uhrwerk stehen. Meist ist es das Kind, das anfängt, über ungesunde Muster nachzudenken. Wenn es geht, sagt es damit: Mama, Papa, hier fehlt mir etwas.

Die Kinder müssen für sich herausfinden: Was tut mir gut in meinem Leben?

Was macht die Funkstille mit den Eltern?

Die Eltern sind, wenn sie nicht total zurückweisend sind, richtig verzweifelt. Das Kind war ja ihr Lebensglück. Sie haben viel für ihr Kind getan. Sie haben ihren Bub, ihr Mädchen grossgezogen, geliebt … und dann geht das Kind auf einmal. Damit bricht für die betroffenen Eltern ihr Lebensplan zusammen. Ich erlebe in meiner Praxis sehr verzweifelte Eltern, die die Welt nicht mehr verstehen.

Was ist aus Ihrer Sicht bei «verlassenen» Eltern schiefgelaufen?

Ich frage betroffene Eltern immer, wie ihr Verhältnis zu den eigenen Eltern war. Oft antworten sie mir, dass sie, wie im eingangs erwähnten Beispiel, selbst keine guten Erfahrungen mit ihren Vätern oder Müttern erlebt haben. Viele verlassene Eltern haben von ihren eigenen Eltern nicht gelernt, Liebe auszudrücken und emotionale Nähe zu schaffen. Und das ist dann das Schwierige: Eltern tun dies ja nicht absichtlich, es passiert einfach. Eltern wollen immer das aus ihrer Sicht Beste für ihr Kind. Aber das muss nicht tatsächlich das Beste für das Kind sein.

Kontaktabbrüche zwischen Eltern und Kindern sind heute keine Seltenheit mehr. Offizielle Zahlen gibt es keine, Schätzungen zufolge nehmen sie aber zu. Ist das auch Ihre Erfahrung?

Das ist so. Der Kontaktabbruch mit den Eltern gehört in meiner therapeutischen Arbeit zur Tagesordnung. Früher hat man sich das nicht getraut. Heute leben wir unseren Kindern eine Vielzahl an Möglichkeiten vor: Beziehungen gehen auseinander, Jobs werden gekündigt. Trennungen und Scheidungen sind heute gesellschaftlich akzeptiert. Die subjektive Vorstellung von Lebensglück spielt eine entscheidende Rolle: Passt eine Beziehung da nicht hinein, ist es heute legitim, zu gehen. Das erleben auch die Kinder. Trotzdem ist der Kontaktabbruch mit den Eltern ein Tabuthema, das erst jetzt langsam aufbricht.

«Ich erlebe in meiner Praxis viele verzweifelte Eltern», sagt die erfahrene Therapeutin. 
«Ich erlebe in meiner Praxis viele verzweifelte Eltern», sagt die erfahrene Therapeutin. 

Welche Rolle spielt das Internet?

Social Media und die Digitalisierung haben die Kommunikation zwischen Kindern und Eltern zweifellos verändert. Das Internet hat Menschen einen Raum geöffnet, in dem sie sich jederzeit und einfach austauschen können. Man bekommt in Chats oder Foren mit: «Aha, das, was ich fühle, das kennen andere auch. Und es ist wichtig oder sogar richtig, dass ich das so empfinde.» Betroffene erleben auch eine Art des Zuhörens oder eine Kommunikation, die sie in ihrer Familie nicht erleben.

Das erwachsene Kind realisiert, dass es gar nicht so falsch liegt mit der Selbstwahrnehmung.

Das ist so. Das grosse Problem in Familien mit einer dysfunktionalen Beziehung ist, dass das «kleine» Kind glaubt, die Schuld für den Stress liege bei ihm. Denn es ist abhängig von seinen Eltern, liebt sie und ist total auf sie bezogen. Es entwickelt ein Lebensgefühl «mit mir stimmt etwas nicht» und zieht damit ins Leben und merkt hoffentlich später, dass dies nicht so ist.

Ich rate Eltern, sich in die Lage ihres Kindes zu versetzen.

Was raten Sie Eltern, deren Kinder den Kontakt zu ihnen abgebrochen haben?

Nichts tun. Akzeptieren. Sie können nichts tun, weil das Kind jede Kontaktaufnahme als Nichtrespektieren seiner Entscheidung ansehen wird. Ich rate Eltern, sich in die Lage ihres Kindes zu versetzen und sich zu fragen: Wie war das, als mein Kind noch bei mir war? Hatte ich überhaupt die Kapazität, mitzubekommen, was los ist? Gab es Ereignisse, die mich das Kind übersehen liessen? Viele Eltern beginnen dann, sich ernsthaft zu hinterfragen.

Einfach nichts tun hört sich für viele Mütter und Väter unerträglich an.

Funkstille ist schlimmer als der schlimmste Streit. Und ja, es ist ein sehr starker Schmerz. Aber wenn es zu einem Kontaktabbruch kommt, wird dies leider zur neuen Realität in der Familie, die Eltern annehmen lernen müssen. Der Begriff Funkstille kommt ja aus der Schifffahrt. Wenn ein Schiff in Not ist, müssen die anderen den Funkverkehr einstellen, um das in Not geratene lokalisieren zu können. Auf die Familie übertragen, sendet der Kontaktabbruch den Eltern die Botschaft: Hörst du in meinem Schweigen meine Not?

Die Möglichkeit, wieder in Kontakt zu treten, ist da, wenn die Kinder sich in ihrem Leben gut und sicher eingerichtet fühlen.

Was kann man als Mutter oder Vater stattdessen tun?

Selbsthilfegruppen oder auch professionelle Unterstützung sind für Eltern sicherlich gute Wege, damit umzugehen. Auch als Paar kann man sich gegenseitig stützen. Auf jeden Fall sollte der Kontaktabbruch auch als Möglichkeit gesehen werden, die Vergangenheit aus einem neuen Blickwinkel zu analysieren. So schwierig gewisse Erkenntnisse auch sein mögen, im Idealfall helfen sie Eltern, den Entscheid ihres Kindes zu verstehen.

Was geht in den Kindern vor, die den Kontakt abbrechen?

Ich zitiere dazu einen Satz aus meinem Buch, den ich von einer jungen Frau habe, die zu mir in die Praxis kam: «Ich kann den Kontakt nicht mehr aushalten, weil sie keine Ahnung haben von mir. Aber dass ich den Kontakt abgebrochen habe, tut mir bis in die Zellen weh.» Die Kinder müssen sich während dieser Funkstille erst selbst finden. Sie müssen sehen, wo sie den Halt, die Sicherheit und die Liebe bekommen, die sie brauchen, und für sich herausfinden: Was tut mir gut in meinem Leben? Aus dieser Stabilität heraus kann etwas Neues entstehen.

Es gibt also einen Weg zurück, auch nach jahrelangem Schweigen?

Mit Ausnahme von Missbrauchsfällen, die ich hier ausklammern möchte: ja, auf jeden Fall. Es kommt oft wieder zum Kontakt. Aber dazu müssen sich beide Seiten bewegen. Die Möglichkeit, wieder in Kontakt zu treten, ist da, wenn die Kinder sich in ihrem Leben gut und sicher eingerichtet fühlen. Und die Eltern im Gegenzug merken, dass beispielsweise ihre Rechthaberei dem Kind nicht guttut, und sie es schaffen, sich daraus zu lösen. Dann können sich Eltern und Kind, manchmal erst nach vielen Jahren, auf einer erwachsenen Ebene, also auf Augenhöhe, wieder begegnen.

Irena Ristic

Irena Ristic
arbeitet seit 2012 als feste freie Online-Redaktorin bei Fritz+Fränzi. Die gebürtige Baslerin bewegt sich gern in freier Natur.

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