Wie viele Kinder ihren Eltern den Rücken kehren, ist nicht bekannt. Soziologen schätzen, dass in Deutschland etwa 100 000 Familien betroffen sind. In der Schweiz dürfte der Anteil ähnlich hoch sein. «Möglicherweise betrifft das Thema jedoch deutlich mehr Familien», sagt Claudia Haarmann, Autorin des Buches «Kontaktabbruch in Familien » und Heilpraktikerin für Psychotherapie in Essen. Kontaktabbruch sei ein Tabuthema, über das selten offen gesprochen wird. Viele Eltern denken daher, sie würden ganz alleine dastehen, so die Autorin. Allerdings sei der Umgang damit inzwischen etwas offener geworden. So gibt es in der Schweiz mittlerweile sechs Selbsthilfegruppen für «verlassene Eltern».
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Wenn Kinder ihre Eltern verlassen

Bild: iStockphoto
Es endet mit einem kurzen Satz: «Mama, machs gut, das war es jetzt.» Mit einer Mail oder auch ohne Worte. Plötzlich werden Anrufe nicht mehr angenommen, Nachrichten nicht mehr gelesen, wird auf das Klingeln an der Haustür nicht mehr reagiert. Wenn ein Kind sich entschliesst, den Kontakt abzubrechen, kommt das für viele Eltern überraschend. Sie denken, dass sie alles für ihr Kind getan haben und im Grunde doch alles in Ordnung war. Viele Eltern leiden sehr unter dem Kontaktabbruch, sind verzweifelt, niedergeschlagen oder auch wütend. «Für die Eltern ist die plötzliche Funkstille ein Schock und löst oft starke Schuld- und Schamgefühle aus», sagt die Philosophin Barbara Bleisch, Autorin des Buches «Warum wir unseren Eltern nichts schulden».
Der Abbruch signalisiert: Der Kontakt tut mir nicht gut, ich möchte mich vor weiteren Verletzungen schützen.

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Gravierende Vorfälle und subtile Verletzungen
«Man sollte sich klarmachen, dass kein Kind seine Eltern verlassen will», betont Rögelein. «Oft ist es ein Signal des Kindes, dass es die Situation so nicht mehr akzeptiert. Es zeigt aber auch, dass ein Kind in Not ist.» Die Gründe für einen radikalen Bruch mit den Eltern können sehr unterschiedlich sein. Einige Kinder haben in ihrer Familie über Jahre gravierende Dinge erlebt: körperliche Misshandlungen, Vernachlässigung, das Alkoholproblem des Vaters, die ständigen Stimmungsschwankungen der psychisch kranken Mutter. schaffen es nicht, Konflikte gemeinsam durch Gespräche zu klären.
Doch die negativen Erfahrungen können auch subtiler sein. «In vielen Fällen konnte das Kind keine sichere Bindung zu seinen Eltern aufbauen», sagt Rögelein, der in seiner Praxis mit betroffenen Müttern und Vätern und auch mit Kindern, die den Kontakt abgebrochen haben, arbeitet. «Oft wurde das Kind in irgendetwas emotional enttäuscht: Es hat sich nicht geliebt, nicht anerkannt oder mit seinen Wünschen und Bedürfnissen nicht wahrgenommen gefühlt.» Gleichzeitig steckt hinter dem Abbruch auch eine Störung der Kommunikation: Beide Seiten
Oft haben die Eltern versucht, es bei ihren Kindern besser zu machen
Aber auch ein anderer Punkt ist wichtig: Eltern müssen lernen, ihren Kindern, wenn sie älter werden, ihren eigenen, erwachsenen Weg zu ermöglichen. «Manche Eltern üben aber auch dann noch viel Einfluss aus», berichtet Rögelein. «Einige ‹bestechen› ihr Kind mit Geld oder üben Druck aus, damit es einen bestimmten Weg einschlägt. Und in manchen Familien haben die Eltern die Erwartung, dass das Kind ‹in die Fussstapfen der Familie tritt› – etwa bei Adeligen oder in Akademikerfamilien. Die Kinder können sich dann nur mit enormem Aufwand aus dem Einfluss ihrer Eltern lösen: zum Beispiel, indem sie weit wegziehen oder eben den Kontakt abbrechen.»
Wie kann eine Wiederannäherung gelingen?
«Ausserdem muss eine Neugestaltung der Beziehung von Eltern und Kind wirklich gewollt sein.» Ganz wichtig sei zunächst, dass beide Seiten sich bewusst machen, dass sie unterschiedliche Wahrnehmungen des Familienlebens haben – und dass sie versuchen, sich in den anderen einzufühlen, so die Therapeutin. «Das Kind hat sich vielleicht unterdrückt gefühlt, während der Vater findet, dass alles nicht so schlimm war.» Die Eltern können sich hier fragen: Was hat mein Kind erlebt, wenn es sagt, es habe sich nicht geliebt oder nicht akzeptiert gefühlt? Sie können lernen, ihrem Kind zuzuhören, seine subjektive Empfindung anzuerkennen und ihm zu zeigen, dass sie es ernst nehmen. Ähnliche Prozesse könnten auch auf Seiten des Kindes angestossen werden.
Professionelle Hilfe in Form einer Psychotherapie
Manche Eltern sind aus ihrer eigenen Vergangenheit so stark emotional belastet, dass die Verdrängung eine Art Selbstschutz ist. «Diese Eltern haben durch ihre Kindheit selbst kein gutes Fundament», sagt Haarmann. «Deshalb ist es für sie subjektiv gefährlich, sich mit den Gründen zu beschäftigen, die zum Bruch geführt haben.» Die Eltern, aber auch die Kinder müssen also den Mut haben, sich mit unbequemen und auch schmerzhaften Themen auseinanderzusetzen. Oft lassen sich solche tiefer liegenden Beziehungsprobleme nur mit professioneller Unterstützung lösen – etwa in einer Psychotherapie.
«Vieles in Beziehungen läuft ja unbewusst ab und die Probleme sind oft sehr komplex», sagt Rögelein.»Wie ein verknotetes Wollknäuel, das in der Therapie allmählich entwirrt wird.» In einer systemischen Therapie, wie Rögelein sie durchführt, macht der Klient Übungen und Rollenspiele, bei denen er sich in die Perspektive der anderen Familienmitglieder hineinversetzt. « Der Therapeut nimmt dabei eine allparteiliche Rolle ein und kann so eine neue Sichtweise auf die Entwicklung ermöglichen», erläutert der Experte.
stark emotional belastet,
dass die Verdrängung eine Art
Selbstschutz ist.
«Der einzige Weg, sich daraus zu lösen und sich auf seine gesunden Seiten zu konzentrieren, war für den Sohn der Kontaktabbruch. Das wurde dann auch der Mutter klar – und sie konnte anfangen, ihrem Sohn Raum für seinen eigenen Weg zu ermöglichen.» Andere Eltern kommen dagegen zu dem Schluss, dass ihr Kind eben schwierig oder «missraten» sei – oder sie machen sich selbst ständig Vorwürfe. «Solche Schuldvorwürfe und Selbstbeschuldigungen führen aber zu nichts», betont Haarmann. «Sie bewirken nur, dass jemand sich nicht wirklich mit der Situation auseinandersetzt, und verstellen so den Weg zu Veränderungen.»
Die Vergangenheit akzeptieren und es in der Gegenwart besser machen
In einem nächsten Schritt kann die Beziehung dann neu verhandelt und können neue Spielregeln festgelegt werden. «Das bedeutet beispielsweise, dass beide Seiten sich auf Augenhöhe begegnen, den anderen ernst nehmen und ihn so akzeptieren, wie er ist», sagt Haarmann. «Ausserdem gilt es, zu akzeptieren, dass die Vergangenheit nicht mehr veränderbar ist – und sich auf die Beziehung in der Gegenwart zu konzentrieren. » Dabei könne oft schon eine einfache Frage ausreichen: «Wie geht es dir?» Denn sie zeigt das aufrichtige Interesse am anderen in diesem Moment.
Was Eltern hilft, mit der Funkstille ihres Kindes umzugehen
- Auch wenn es schwerfällt: Eltern sollten den Kontaktabbruch erst einmal akzeptieren. Denn das Kind wird jede Kontaktaufnahme wieder als Einmischung empfinden und das Gefühl haben, dass sein Wille nicht respektiert wird. Eltern können jedoch versuchen, von Zeit zu Zeit eher in Form einer Frage Kontakt aufzunehmen, ohne ihr Kind zu bedrängen.
- Die Eltern sollten versuchen, auch die Perspektive des Kindes einzunehmen, und sich fragen: Wie ging es meinem Kind damals, als es noch bei mir gelebt hat? Habe ich etwas übersehen, was mein Kind beschäftigt hat? Wo hat es mein Verhalten möglicherweise als nicht richtig empfunden?
- Sich professionelle Unterstützung in Form einer Psychotherapie zu suchen, kann für beide Seiten hilfreich sein. Diese kann dazu beitragen, «Chinesisch ins Deutsche zu übersetzen» und die Zusammenhänge auf eine neue Art und Weise zu sehen – und im nächsten Schritt etwas zu verändern.
Links und Bücher zum Thema Kontaktabbruch:
Selbsthilfegruppen zum Thema Kontaktabbruch zwischen Eltern und Kindern:
www.selbsthilfeschweiz.ch
Website der Philosophin Barbara Bleisch, mit Infos zu ihren Büchern und ihrer Forschung:
www.barbarableisch.ch
Website des systemischen Therapeuten Jochen Rögelein:
www.jochenroegelein.de
Website der Heilpraktikerin für Psychotherapie Claudia Haarmann:
www.claudia-haarmann.de
Gedanken zum Thema Kontaktabbruch der Buchautorin Tina Soliman:
www.tina-soliman.de/thema-kontaktabbruch
Bücher
Claudia Haarmann: Kontaktabbruch. Kinder und Eltern, die verstummen. Orlanda
Frauenverlag 2015, 300 Seiten, ca. 25 Fr.
Barbara Bleisch: Warum wir unseren Eltern nichts schulden. Verlag BTB 2019, 205 Seiten,
ca. 15 Fr.
Tina Soliman: Funkstille. Warum Menschen den Kontakt abbrechen. Verlag Klett-Cotta 2017,
196 Seiten, ca. 29 Fr.

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