Wenn Kinder ihre Eltern verlassen   - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Wenn Kinder ihre Eltern verlassen  

Lesedauer: 8 Minuten

Brechen Kinder den Kontakt zu ihren Eltern ab, ist das für viele Eltern überraschend und sehr schmerzhaft. Die Gründe für einen Kontaktabbruch können vielfältig sein, fast immer aber ist es Ausdruck grosser innerer Not. Eine Wiederannäherung ist manchmal möglich – wenn beide Seiten bereit sind, die Perspektive des anderen zu verstehen.

Es endet mit einem kurzen Satz: «Mama, machs gut, das war es jetzt.» Mit einer Mail oder auch ohne Worte. Plötzlich werden Anrufe nicht mehr angenommen, Nachrichten nicht mehr gelesen, wird auf das Klingeln an der Haustür nicht mehr reagiert. Wenn ein Kind sich entschliesst, den Kontakt abzubrechen, kommt das für viele Eltern überraschend. Sie denken, dass sie alles für ihr Kind getan haben und im Grunde doch alles in Ordnung war.

Viele Eltern leiden sehr unter dem Kontaktabbruch, sind verzweifelt, niedergeschlagen oder auch wütend. «Für die Eltern ist die plötzliche Funkstille ein Schock und löst oft starke Schuld- und Schamgefühle aus», sagt die Philosophin Barbara Bleisch, Autorin des Buches «Warum wir unseren Eltern nichts schulden». 

Fragt man die Kinder, ist häufig sehr viel vorgefallen, bevor es zu diesem weitreichenden Schritt kam.

Jochen Rögelein

Eltern, sagt Bleisch, stellten sich dann automatisch die Fragen «Warum?» und «Was habe ich falsch gemacht?». «Unsere Tochter ist jetzt 35 Jahre alt und hat vor drei Jahren den Kontakt zu uns abgebrochen», berichtet etwa Carmen (Name geändert), die mit ihrem Mann eine Selbsthilfegruppe für verlassene Eltern in der Schweiz besucht. «Sie hat einen Mann kennengelernt und uns mit der Aussage verlassen: ‹Ich will jetzt ein neues Leben beginnen›.

Mein Mann und ich haben sehr darunter gelitten und immer wieder versucht, Kontakt mit ihr aufzunehmen.» Beide hätten oft darüber diskutiert, könnten aber keine Gründe für den Kontaktabbruch erkennen.

Wie viele Kinder ihren Eltern den Rücken kehren, ist nicht bekannt. Soziologen schätzen, dass in Deutschland etwa 100 000 Familien betroffen sind. In der Schweiz dürfte der Anteil ähnlich hoch sein. «Möglicherweise betrifft das Thema jedoch deutlich mehr Familien», sagt Claudia Haarmann, Autorin des Buches «Kontaktabbruch in Familien» und Heilpraktikerin für Psychotherapie in Essen.

Kontaktabbruch sei ein Tabuthema, über das selten offen gesprochen wird. Viele Eltern denken daher, sie würden ganz alleine dastehen, so die Autorin. Allerdings sei der Umgang damit inzwischen etwas offener geworden. So gibt es in der Schweiz mittlerweile sechs Selbsthilfegruppen für «verlassene Eltern». 

Gravierende Vorfälle und subtile Verletzungen

Fragt man die Kinder, ist häufig sehr viel vorgefallen, bevor es zu diesem weitreichenden Schritt kam. «Die Eltern erleben den Abbruch häufig als abrupt. Aber es ist eher wie ein Fass, das irgendwann überläuft», sagt Jochen Rögelein, systemischer Familientherapeut in München.

«Der Auslöser ist häufig relativ banal – aber er hat oft mit dem Thema zu tun, welches das Kind schon lange beschäftigt.» Der Abbruch signalisiert: Der Kontakt tut mir nicht gut, ich möchte mich vor weiteren Verletzungen schützen. 

«Man sollte sich klarmachen, dass kein Kind seine Eltern verlassen will», betont Rögelein. «Oft ist es ein Signal des Kindes, dass es die Situation so nicht mehr akzeptiert. Es zeigt aber auch, dass ein Kind in Not ist.» Die Gründe für einen radikalen Bruch mit den Eltern können sehr unterschiedlich sein.

Häufig hatten betroffene Eltern selbst ein problematisches Verhältnis zu ihren Müttern und Vätern.

Claudia Haarmann.

Einige Kinder haben in ihrer Familie über Jahre gravierende Dinge erlebt: körperliche Misshandlungen, Vernachlässigung, das Alkoholproblem des Vaters, die ständigen Stimmungsschwankungen der psychisch kranken Mutter. Schaffen es nicht, Konflikte gemeinsam durch Gespräche zu klären.

Andere Faktoren können Lieblosigkeit und Kälte in der Familie, ständige Vorwürfe und Kränkungen oder eine strenge, unnachgiebige Erziehung sein. «Ich habe nacheinander den Kontakt zu beiden Eltern abgebrochen», berichtet eine 35-jährige Frau aus Deutschland. «Mein Vater war nie für mich da. Er hat mir früher oft gesagt, ich sei ein schlechter Mensch, und wir haben uns oft gestritten.

Links zum Thema Kontaktabbruch

Selbsthilfegruppen zum Thema Kontaktabbruch zwischen Eltern und Kindern: www.selbsthilfeschweiz.ch

Website der Philosophin Barbara Bleisch, mit Infos zu ihren Büchern und ihrer Forschung: www.barbarableisch.ch

Website des systemischen Therapeuten Jochen Rögelein: www.jochenroegelein.de

Website der Heilpraktikerin für Psychotherapie Claudia Haarmann: www.claudia-haarmann.de

Gedanken zum Thema Kontaktabbruch der Buchautorin Tina Soliman: www.tina-soliman.de/thema-kontaktabbruch

Meine Mutter war häufig krank und hatte psychische Probleme. Sie hat ständig anderen die Schuld gegeben, dass es ihr nicht gut geht. Den Kontakt abzubrechen, war für mich wie eine Befreiung.»

Doch die negativen Erfahrungen können auch subtiler sein. «In vielen Fällen konnte das Kind keine sichere Bindung zu seinen Eltern aufbauen», sagt Rögelein, der in seiner Praxis mit betroffenen Müttern und Vätern und auch mit Kindern, die den Kontakt abgebrochen haben, arbeitet.

«Oft wurde das Kind in irgendetwas emotional enttäuscht: Es hat sich nicht geliebt, nicht anerkannt oder mit seinen Wünschen und Bedürfnissen nicht wahrgenommen gefühlt.» Gleichzeitig steckt hinter dem Abbruch auch eine Störung der Kommunikation beider Seiten.

Oft haben die Eltern versucht, es bei ihren Kindern besser zu machen

Das Tragische dabei: Häufig hatten die Eltern selbst ein problematisches Verhältnis zu ihren Eltern und haben im eigenen Elternhaus Vernachlässigung, Schweigen oder emotionale Kälte erlebt. «Oft haben sie versucht, es bei den eigenen Kindern besser zu machen», erläutert Haarmann. «Es gibt auch Eltern, die ihr Kind brauchen, um eigene Bedürfnisse nach Liebe und Nähe zu befriedigen.

Manche haben ihre Kinder dann mit ihrer Nähe erstickt oder ihnen jede Verantwortung abgenommen.» Das könne bei den Kindern zu einem starken Wunsch nach Distanz und Unabhängigkeit führen.

Ob sich beide Seiten wieder aufeinander zubewegen können, hängt stark vom Grad der Verletzungen ab.

Claudia Haarmann

Aber auch ein anderer Punkt ist wichtig: Eltern müssen lernen, ihren Kindern, wenn sie älter werden, ihren eigenen, erwachsenen Weg zu ermöglichen. «Manche Eltern üben aber auch dann noch viel Einfluss aus», berichtet Rögelein. «Einige ‹bestechen› ihr Kind mit Geld oder üben Druck aus, damit es einen bestimmten Weg einschlägt.

Und in manchen Familien haben die Eltern die Erwartung, dass das Kind ‹in die Fussstapfen der Familie tritt› – etwa bei Adeligen oder in Akademikerfamilien. Die Kinder können sich dann nur mit enormem Aufwand aus dem Einfluss ihrer Eltern lösen: zum Beispiel, indem sie weit wegziehen oder eben den Kontakt abbrechen.»

Wie kann eine Wiederannäherung gelingen?

Viele Eltern wünschen sich sehnlich, wieder Kontakt zu ihren Kindern zu haben. Gleichzeitig sind sie unsicher, wie sie sich verhalten sollen. Einige rufen immer wieder an oder schreiben Mails und hoffen auf eine Antwort oder eine Erklärung. Aber sie haben auch Angst, etwas falsch zu machen, so dass ihr Kind sich noch mehr zurückzieht.

Was können Eltern – und vielleicht auch die Kinder – also tun, damit eine Wiederannäherung möglich ist? «Ob sich beide Seiten wieder aufeinander zubewegen können, hängt stark vom Grad der Verletzungen ab – und davon, wie stark die Positionen bereits verhärtet sind», betont Haarmann.

«Ausserdem muss eine Neugestaltung der Beziehung von Eltern und Kind wirklich gewollt sein.» Ganz wichtig sei zunächst, dass beide Seiten sich bewusst machen, dass sie unterschiedliche Wahrnehmungen des Familienlebens haben – und dass sie versuchen, sich in den anderen einzufühlen, so die Therapeutin.

«Das Kind hat sich vielleicht unterdrückt gefühlt, während der Vater findet, dass alles nicht so schlimm war.» Die Eltern können sich hier fragen: Was hat mein Kind erlebt, wenn es sagt, es habe sich nicht geliebt oder nicht akzeptiert gefühlt?

Sie können lernen, ihrem Kind zuzuhören, seine subjektive Empfindung anzuerkennen und ihm zu zeigen, dass sie es ernst nehmen.

Claudia Haarmann

Sie können lernen, ihrem Kind zuzuhören, seine subjektive Empfindung anzuerkennen und ihm zu zeigen, dass sie es ernst nehmen. Ähnliche Prozesse könnten auch auf Seiten des Kindes angestossen werden.

Professionelle Hilfe in Form einer Psychotherapie

Ähnlich sieht es auch Jochen Rögelein. «Durch die Bereitschaft, sich in die Perspektive des anderen hineinzuversetzen, können beide Seiten lernen, mehr Verständnis für den anderen zu entwickeln», sagt der Therapeut.

«So kann es auch bei Eltern, die zuvor die Gründe für den Kontaktabbruch nicht erkennen konnten, zu einer Einsicht kommen.» Viele Eltern würden im tiefsten Inneren die Gründe ahnen, so Rögelein. Allerdings spielt hier Verdrängung eine grosse Rolle. «Sich einzugestehen, dass etwas in der Familie nicht in Ordnung war, ist unglaublich schwer und auch schmerzhaft.»

Manche Eltern sind aus ihrer eigenen Vergangenheit so stark emotional belastet, dass die Verdrängung eine Art Selbstschutz ist. «Diese Eltern haben durch ihre Kindheit selbst kein gutes Fundament», sagt Haarmann. «Deshalb ist es für sie subjektiv gefährlich, sich mit den Gründen zu beschäftigen, die zum Bruch geführt haben.»

Bücher zum Thema Kontaktabbruch

Claudia Haarmann: Kontaktabbruch. Kinder und Eltern, die verstummen.
Orlanda Frauenverlag 2015, 300 Seiten, ca. 25 Fr.

Barbara Bleisch: Warum wir unseren Eltern nichts schulden.
Verlag BTB 2019, 205 Seiten, ca. 15 Fr.

Tina Soliman: Funkstille. Warum Menschen den Kontakt abbrechen.
Verlag Klett-Cotta 2017, 196 Seiten, ca. 29 Fr.

Die Eltern, aber auch die Kinder müssen also den Mut haben, sich mit unbequemen und auch schmerzhaften Themen auseinanderzusetzen. Oft lassen sich solche tiefer liegenden Beziehungsprobleme nur mit professioneller Unterstützung lösen – etwa in einer Psychotherapie. «Vieles in Beziehungen läuft ja unbewusst ab und die Probleme sind oft sehr komplex», sagt Rögelein.»

Wie ein verknotetes Wollknäuel, das in der Therapie allmählich entwirrt wird.» In einer systemischen Therapie, wie Rögelein sie durchführt, macht der Klient Übungen und Rollenspiele, bei denen er sich in die Perspektive der anderen Familienmitglieder hineinversetzt. «Der Therapeut nimmt dabei eine allparteiliche Rolle ein und kann so eine neue Sichtweise auf die Entwicklung ermöglichen», erläutert der Experte. 

Manche Eltern sind so stark emotional belastet, dass die Verdrängung eine Art Selbstschutz ist.

Jochen Rögelein

So zum Beispiel bei einer 60-jährigen Adoptivmutter, deren 25-jähriger Sohn seit seinem Auszug von zu Hause jeden Kontakt verweigerte – und die sich daraufhin therapeutische Unterstützung suchte. Im Gespräch und in den Rollenspielen wurde deutlich, dass sie ihren Sohn immer als ‹Problemkind› gesehen hat und es viel um die Therapien ging, die er bekommen hat», berichtet Jochen Rögelein.

«Der einzige Weg, sich daraus zu lösen und sich auf seine gesunden Seiten zu konzentrieren, war für den Sohn der Kontaktabbruch. Das wurde dann auch der Mutter klar – und sie konnte anfangen, ihrem Sohn Raum für seinen eigenen Weg zu ermöglichen.»

Andere Eltern kommen dagegen zu dem Schluss, dass ihr Kind eben schwierig oder «missraten» sei – oder sie machen sich selbst ständig Vorwürfe. «Solche Schuldvorwürfe und Selbstbeschuldigungen führen aber zu nichts», betont Haarmann. «Sie bewirken nur, dass jemand sich nicht wirklich mit der Situation auseinandersetzt, und verstellen so den Weg zu Veränderungen.» 

Die Vergangenheit akzeptieren und es in der Gegenwart besser machen

Stattdessen müssten beide Seiten bereit sein, anzuerkennen, dass sie in der Vergangenheit Fehler gemacht haben – und die Verantwortung dafür übernehmen. «Auch die Kinder sollten sich das Gesamtbild anschauen», so Haarmann. «Sie können sich fragen: Was hat meine Familie so werden lassen? Was haben meine Eltern erlebt, dass sie sich so kühl oder so unberechenbar verhalten haben?»

In einem nächsten Schritt kann die Beziehung dann neu verhandelt und können neue Spielregeln festgelegt werden. «Das bedeutet beispielsweise, dass beide Seiten sich auf Augenhöhe begegnen, den anderen ernst nehmen und ihn so akzeptieren, wie er ist», sagt Haarmann.

«Ausserdem gilt es, zu akzeptieren, dass die Vergangenheit nicht mehr veränderbar ist – und sich auf die Beziehung in der Gegenwart zu konzentrieren. »Dabei könne oft schon eine einfache Frage ausreichen: «Wie geht es dir?» Denn sie zeigt das aufrichtige Interesse am anderen in diesem Moment.

Was Eltern hilft, mit der Funkstille ihres Kindes umzugehen

Allgemein: Wenn Kinder erwachsen werden, ist es günstig, wenn Eltern in eine Art «Stand-by-Modus» wechseln: Sie sollten sich zurücknehmen und die Kinder ihr eigenes Leben leben lassen – aber im Hintergrund bereitstehen und für ihre Kinder da sein, wenn diese Unterstützung brauchen.

  • Auch wenn es schwerfällt: Eltern sollten den Kontaktabbruch erst einmal akzeptieren. Denn das Kind wird jede Kontaktaufnahme wieder als Einmischung empfinden und das Gefühl haben, dass sein Wille nicht respektiert wird. Eltern können jedoch versuchen, von Zeit zu Zeit eher in Form einer Frage Kontakt aufzunehmen, ohne ihr Kind zu bedrängen.
  • Die Eltern sollten versuchen, auch die Perspektive des Kindes einzunehmen, und sich fragen: Wie ging es meinem Kind damals, als es noch bei mir gelebt hat? Habe ich etwas übersehen, was mein Kind beschäftigt hat? Wo hat es mein Verhalten möglicherweise als nicht richtig empfunden? Sich professionelle Unterstützung in Form einer Psychotherapie zu suchen, kann für beide Seiten hilfreich sein. Diese kann dazu beitragen, «Chinesisch ins Deutsche zu übersetzen» und die Zusammenhänge auf eine neue Art und Weise zu sehen – und im nächsten Schritt etwas zu verändern.

Christine Amrhein
ist Psychologin. Sie lebt und arbeitet als freie Wissenschaftsjournalistin in München.

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