Wie entwickeln sich Kinder von 8 bis 12 Jahren? -
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Wie entwickeln sich Kinder von 8 bis 12 Jahren?

Lesedauer: 4 Minuten

Beziehungen zu Gleichaltrigen werden jetzt immer wichtiger. Erfahren Sie, was sonst noch auf physischer, psychischer und sozialer Ebene in dieser Lebensphase passiert.

Text: Julia Meyer-Hermann
Bilder: Catherine Falls

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Noch Kind, bald Teenager – so könnte man die mittlere Kindheit von acht bis zwölf knapp zusammenfassen. Bei Kindern dieser Altersgruppe wird die Ich-Entwicklung wichtiger. Sie träumen oft davon, allein zurechtzukommen. Einige überlegen, welches Leben sie einmal führen werden und welcher Mensch sie einmal sein werden. Sie machen sich auf die Suche nach ihrem Platz in der Welt.

Der Prozess dieser Selbstfindung verlangt den meisten Kindern viel ab. Obwohl in dem Alter gleichaltrige Freunde eine zunehmend wichtige Rolle im Leben der Kinder spielen, bleiben die Eltern die engsten Vertrauten und wichtigsten Bezugspersonen.

Physische Entwicklung: Das Gewicht und die Grösse variieren in dieser Altersspanne stark, da jedes Kind individuell wächst. Die motorischen Fähigkeiten verbessern sich unabhängig davon. Koordinationsfähigkeit und Geschicklichkeit wachsen.

Die Kinder sind immer besser in der Lage, komplexe Bewegungen auszuführen, ihre Feinmotorik zu verbessern und ihre Körperkontrolle zu verfeinern. Einige Kinder beginnen mit einer Sportart, gehen in einen Verein. Davon profitiert die körperliche Entwicklung in jedem Fall. Das Gefühl von Könnerschaft stärkt ausserdem das Selbstbewusstsein.

Soziale Kompetenz und Beziehungen: Die soziale Kompetenz entwickelt sich in diesem Alter stark. Kinder zwischen acht und zwölf Jahren beginnen, komplexe soziale Interaktionen zu verstehen und selbst zu steuern. Sie entwickeln ein tieferes Verständnis für die Perspektiven anderer Menschen und sind immer besser in der Lage, Empathie zu zeigen. Die Bedeutung von Freundschaften nimmt zu und Kinder beginnen, ihre eigenen Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzubauen und zu pflegen.

Um sich selbst zu erkunden und zu regulieren, ist es für Kinder wichtig, dass ihr Alltag nicht völlig durchgetaktet ist.

Claudia Roebers, Professorin für Entwicklungspsychologie

Sie lernen, Konflikte zu bewältigen, Kompromisse einzugehen und ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche zu kommunizieren. Allerdings kann auch Mobbing ein Problem sein. Es ist wichtig, Kinder in ihren sozialen Interaktionen zu unterstützen und sie über den respektvollen Umgang miteinander aufzuklären.

Heidi Simoni, Fachpsychologin für Psychotherapie, sagt: «Kinder haben schon mit etwa fünf Jahren Erwartungen, was den Umgang mit Konflikten betrifft. Sie unterscheiden, ob ein zweijähriges Kind handgreiflich wird oder ob das ein Gleichaltriger tut. Beim jungen Kind sind sie eher tolerant. Bei Gleichaltrigen erwarten sie, dass diese sich verbal äussern können und nicht einfach zuschlagen.»

Kognitive Entwicklung: Die kognitive Entwicklung ist von einer zunehmenden Fähigkeit zum abstrakten Denken geprägt. Kinder beginnen, komplexe Zusammenhänge zu erkennen und Probleme auf abstrakterer Ebene zu lösen. Ihr Gedächtnis wird besser und sie können sich Informationen über längere Zeit hinweg merken. Der Erwerb von Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und Rechnen steht im Vordergrund.

Das logische Denken und die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme nehmen im Verlauf der mittleren Kindheit zu, was es Kindern ermöglicht, verschiedene Standpunkte einzunehmen und immer komplexere Standpunkte zu verstehen. Allerdings sind auch diese Fähigkeiten individuell, also sehr unterschiedlich ausgeprägt. Oskar Jenni, Kinderarzt und Professor für Entwicklungspädiatrie: «Bei der Perspektivübernahme beispielsweise sind die schwächsten Kinder im Alter von zwölf Jahren so gut wie die besten Fünfjährigen.»

Interessen und Langeweile: Kinder sind in der Regel von Natur aus neugierig und interessiert. In dieser Altersspanne entwickeln sie oft eigene Interessen und suchen aktiv nach neuen Erfahrungen. Langeweile oder Desinteresse können auftreten, wenn die Angebote keine Relevanz für das Kind haben oder es sich unterfordert fühlt. Abwehrende Reaktionen sind aber auch dann möglich, wenn einem Kind zu viel Freizeit- und Schulstress zugemutet wird und ein Gefühl der Überforderung entsteht.

Beziehungen zu Gleichaltrigen werden jetzt immer wichtiger.

«Studien zeigen, dass es für die Selbstregulation von Kindern wichtig ist, dass ihr Alltag nicht völlig durchgetaktet ist. Diese sogenannten ‹overscheduled children›, also verplanten Kinder, haben zu wenig Zeit, um sich selbst zu erkunden und zu regulieren», sagt Claudia Roebers, Professorin für Entwicklungspsychologie.

Ängste und Bindung: Die Ängste in diesem Alter beziehen sich auf die Themen des kindlichen Alltags. Einige Kinder haben Angst, in der Schule zu versagen. Sie fürchten sich, keine Freunde zu finden oder Freundschaften zu verlieren. Viele Kinder erleben Unsicherheiten und Selbstzweifel, während sie ihre Identität entwickeln. Durch ihr wachsendes Wissen können auch Ängste vor realen Gefahren wie Gewalt, Unfällen oder Naturkatastrophen entstehen.

Strenge Regeln führen in dem Alter dazu, dass sich ein Kind von seinen Eltern distanziert.

«Kinder prüfen in diesem Alter immer wieder ihre Fähigkeiten und Grenzen, und das führt zu unbekannten Situationen, die Angst auslösen können», sagt Moritz Daum, Professor für Entwicklungspsychologie. «Es ist wichtig, Kindern dabei zu helfen, mit ihren Ängsten umzugehen, indem man ihnen zuhört, sie nicht belächelt, sondern ernst nimmt und ihnen Sicherheit und Unterstützung bietet.»

Sexualität: In diesem Alter beginnt die Entwicklung der Sexualität und Kinder können erste Fragen und Neugier entwickeln. Wann sich die hormonellen und körperlichen Veränderungen zeigen, ist dabei von Kind zu Kind verschieden. Bei Buben beginnen die sichtbaren Veränderungen im Durchschnitt mit 12 bis 13 Jahren, bei Mädchen sind die ersten Zeichen der Pubertät in der Regel schon deutlich früher sichtbar. Es ist wichtig, Kindern diesbezüglich altersgerechte und korrekte Informationen zu geben und zu signalisieren, dass über Fragen der körperlichen Veränderung offen gesprochen werden kann.

Was braucht mein Kind?

Eltern wünschen sich, dass ihre Kinder sich gut entwickeln. Was das konkret bedeutet, ist vielen aber gar nicht bewusst. Eine «gute Entwicklung» ist in der eigenen Vorstellung oft verknüpft mit einer unauffälligen, störungsfreien oder leistungsstarken Kindheit.

Wenn Eltern mit sorgenvollem Blick die Entwicklung ihrer Kinder beobachten, fragen sie sich oftmals auch, was sie im Familienalltag besser machen könnten. Vielleicht muss das Kind stärker gefördert werden. Vielleicht braucht es einen Schubs in die richtige Richtung, denken einige.

Doch Studien zeigen: Die Bandbreite dessen, was gut und richtig ist, ist viel grösser, als Eltern gemeinhin annehmen. Es hilft, diese Entwicklungsvariabilität zu akzeptieren – und bei Fragen einen Experten zu konsultieren.

Wir haben das getan. In unserem Dossier «kindliche Entwicklung» fassen wir Grundlegendes zu Entwicklungsschritten in verschiedenen Altersgruppen zusammen.

Generell ist es in dieser Entwicklungsphase besonders wichtig, offen und wertschätzend mit den Kindern zu kommunizieren, auch, um die Basis für ein gutes Miteinander während der Pubertät zu legen. Rigide Regeln führen dazu, dass Kinder sich ab diesem Alter von den Eltern distanzieren. «Viele Kinder sagen zu Hause gar nicht, wie es ihnen wirklich geht, sondern verschliessen das, was sie quält, in sich. Und das wiederum führt zu Einsamkeit und Schamgefühlen», so die schwedische Familientherapeutin Hedvig Montgomery.

Julia Meyer-Hermann
lebt mit ihrer Tochter und ihrem Sohn in Hannover. Ihre Schwerpunkte sind Wissenschafts- und Psychologiethemen.

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