Wo Kinder sind, da ist es laut
Kinder schreien, lachen, toben – und nerven damit zuverlässig ihr Umfeld. Dabei können sie gar nicht anders, sagen Experten und geben Eltern Tipps, wie sie mit dem hohen Lärmpegel umgehen können.
Die Neunjährige sitzt beim Abendessen und beschwert sich über einen Klassenkameraden: «Max war heute in der Schule wieder so laut, da konnte ich mich gar nicht konzentrieren.» Kurz darauf kreischt sie los, weil eine Wespe auf ihrem Glas sitzt, und schlägt um sich. Das Glas fällt um, der eine Bruder lacht lauthals, der andere heult, weil er nass geworden ist. Die Eltern würden am liebsten den Raum verlassen. Schon wieder Rambazamba.
Lärm löst bei uns Menschen körperliche Stressreaktionen aus. Um das zu verstehen, begibt man sich gedanklich am besten in einen wilden Wald voller Gefahren. Wie praktisch ist es da, dass unser Gehirn auf auffällige Lärmquellen reagiert und den Körper über Stresshormone in Alarmbereitschaft versetzt – und das sogar, während wir schlafen. So weit die evolutionsbiologische Erklärung dafür, dass wir bei lauten Geräuschen in den Angriffs- oder Fluchtmodus schalten.
Eine laute Strasse hat einen Schallpegel von 80 Dezibel, ein weinendes Baby bringt es problemlos auf 120 Dezibel.
Das Problem ist: Auch der Lärm des eigenen Nachwuchses löst diese Empfindungen bisweilen aus. Mit der Geburt des ersten Kindes ist es mit der Ruhe nicht nur sprichwörtlich vorbei. Weinende Babys bringen es problemlos auf 120 Dezibel. Dezibel ist die gebräuchliche Masseinheit, um die Stärke eines Schallereignisses zu beschreiben. Ein Dezibel ist der schwächste Ton, den das menschliche Ohr wahrnehmen kann.
Hauptverkehrsstrassen haben am Strassenrand einen Schallpegel von 80 Dezibel – ähnlich wie spielende Kinder. Ab 90 Dezibel rät die Weltgesundheitsorganisation, einen Hörschutz zu tragen. Ab 140 Dezibel werden Schallwellen als Schmerz empfunden. Ein platzender Luftballon kann da locker mithalten, ebenso eine Trillerpfeife. Oder eine Turnhalle voller kreischender Kinder.
Wer laut ist, zieht Aufmerksamkeit auf sich
Wo Kinder sind, ist immer auch Lärm – aber warum eigentlich? «Entwicklungspsychologisch gibt es dafür mehrere mögliche Erklärungen», sagt Moritz Daum, Entwicklungspsychologe an der Universität Zürich. Einmal ist da die Sprachfähigkeit, die noch nicht voll ausgebildet ist. Je nach Alter und Entwicklungsstand fehlen Kindern manchmal noch die richtigen Worte, um sich ausdrücken zu können, gerade in Bezug auf Gefühle.
«Aus Frust darüber wählen sie dann eben ein Mittel der Kommunikation, welches sie beherrschen, nämlich die Lautstärke», sagt Moritz Daum. Praktisch daran: Wer laut ist, zieht automatisch die Aufmerksamkeit auf sich, weshalb die Kinder merken: Sie werden gehört, selbst wenn sie ihre Bedürfnisse nicht mit Worten mitteilen können.
Ausserdem müssen Kinder erst noch lernen, die Lautstärke ihrer eigenen Sprache überhaupt richtig einzuschätzen, zu regulieren – und dem Kontext entsprechend anzupassen. Draussen spielen ist bei einer anderen Lautstärke möglich als drinnen. In einem Klassenzimmer voller Mitschülerinnen und Mitschüler muss man leiser sprechen, als wenn man allein mit den Eltern am Tisch sitzt. Und auf dem Fussballplatz ist Herumschreien durchaus nützlich, beim Yoga dagegen eher nicht.
Mangelhafte Selbstregulation – wie bei Betrunkenen
Das Wissen darüber ist das eine. Hinzu kommt jedoch, dass sich auch die emotionale wie kognitive Selbstkontrolle von Kindern noch in der Entwicklung befindet. «Ihre Gefühle gehen einfacher mit ihnen durch als bei Erwachsenen», sagt Moritz Daum. Er vergleicht die kindliche Selbstregulation mit der eines betrunkenen Erwachsenen. «Bei denen ist die Stimme dann auch mal lauter als angebracht.» Sprich: Selbst wenn Kinder wissen, dass sie während der Unterrichtszeit oder im Restaurant leise sein sollten, können sie das noch nicht immer umsetzen.
Laut sein ist ein Versuch der Kinder, überschüssige Energie abzubauen.
Julia Mori, Erziehungswissenschaftlerin
Besonders laut wird es meist dann, wenn mehrere Kinder aufeinandertreffen. Und das nicht nur, weil mehrere Stimmen grundsätzlich lauter sind als eine. «Gerade während der Primarschulzeit entwickelt sich das Sozialverhalten der Kinder stark», sagt Julia Mori, Erziehungswissenschaftlerin an der Universität Bern. Gleichaltrige werden für die Kinder immer wichtiger. Sie suchen ihren Platz in diesem Sozialgefüge, knüpfen Freundschaften, handeln Regeln untereinander aus. Das geht nicht ohne Emotionen. «Und dabei kann es eben auch mal laut werden», so die Expertin.
Hinzu kommt, dass Primarschüler über jede Menge Energie verfügen – und die muss raus. Mindestens 60 Minuten Bewegung in moderater bis hoher Intensität empfiehlt das Bundesamt für Sport täglich – besser wäre deutlich mehr. Möglichst vielfältig sollte diese zudem sein und neben Ausdauer auch Muskeln und Knochen stärken sowie Beweglichkeit und Geschicklichkeit fördern. Mit einem langen Schultag mit viel Stillsitzen lässt sich das nicht immer vereinbaren. «Dann staut sich die Energie über den Vormittag hinweg auf. Laut sein ist ein Versuch der Kinder, diese Energie abzubauen», betont Julia Mori.
Kinder können ihre Lautstärke emotional, kognitiv und sozial noch nicht so gut regulieren wie Erwachsene. Deshalb wird ihnen auch per Gesetz ein Recht auf Lautsein zugestanden. Kinder dürfen auch in Mietwohnungen herumtoben, ein Instrument lernen oder Kindergeburtstag feiern – kurz: ein normales Leben führen.
Da in einem Miethaus jedoch auch noch andere Parteien wohnen, gibt es meist eine Klausel im Mietvertrag oder in der Hausordnung, die das Thema Lärm beziehungsweise Ruhe konkretisiert. Meist geht es darin um eine Nachtruhe ab 22 Uhr sowie eine Ruhepause über die Mittagsstunden. Zu diesen Zeiten sind lautes Spielen oder das Üben eines Instruments nicht gestattet.
Auch ausserhalb dieser Zeiten empfiehlt sich gegenseitige Rücksichtnahme. Denn laut einer Umfrage des Vereins Nachbarschaftsmediation wird jeder dritte Nachbarschaftskrach durch Kinderlärm in der Mietwohnung oder durch Lärmbelästigung von im Freien spielenden Kindern ausgelöst. Oft würde es schon reichen, die Nachbarin zu fragen, wann genau sie ihren Mittagsschlaf macht, einen Kindergeburtstag vorher anzukündigen oder den Fussball gegen einen Stoffball auszutauschen.
Kurz: mit den Nachbarn in Kontakt zu treten, bevor ein Streit eskaliert – und womöglich nur noch der Auszug bleibt. Denn obwohl Familien das Recht auf ein gesundes Mass an Kinderlärm auf ihrer Seite haben: In einem von Streit geprägten Umfeld wohnt auf Dauer niemand glücklich.
Dem hohen Lärmpegel mit Verständnis begegnen
Mit zunehmendem Alter können Kinder beziehungsweise dann Jugendliche sich zwar besser kontrollieren und kennen Kommunikationsstrategien, um auch ohne hohe Lautstärke auf sich aufmerksam zu machen. Schreien, Türenknallen und laute Musik gehören zur Pubertät aber dennoch bei den meisten Teenagern dazu. «Auch hier geht es wieder um Emotionen, die man in dieser Zeit nicht immer kontrollieren kann, und Gefühle, die sich vielleicht manchmal nur über Lautstärke ausdrücken lassen», sagt die Erziehungswissenschaftlerin.
Es gibt also viele gute Gründe für Kinder, um laut zu sein. Was nichts daran ändert, dass der Lärm für Eltern, Lehrer oder Nachbarn zur Belastung werden kann. Um dieses Dilemma aufzulösen, empfiehlt Julia Mori, Kinderlärm nicht als mutwillige Ruhestörung zu verstehen, die sich einfach ausschalten lässt. «Es lohnt sich, Verständnis und Empathie für die Lautstärke aufzubringen. Erst wenn ich die Ursachen verstehe, kann ich auch gegenlenken.» Fehlt es also beispielsweise an Bewegung? Sind grosse Emotionen im Spiel? Oder ist den Kindern vielleicht nicht klar, dass gerade Mittagszeit ist und die Nachbarin ihr Nickerchen macht?
«Klare Regeln und Vereinbarungen, wann und warum man leise sein muss, helfen den Kindern sicherlich», sagt Julia Mori. Und statt immer nur zu schimpfen, dass es zu laut ist, rät sie dazu, mehr mit positiver Verstärkung zu arbeiten. «Wenn sich ein Kind mal eine halbe Stunde ruhig beschäftigt hat, darf ich ihm das auch gern mal sagen.»
Und dann gibt es ja auch noch die Tage, an denen Eltern lautes Rufen, Brüllen und Kichern überhaupt nicht als Lärmbelästigung empfinden – sondern die ungehemmte Lebensfreude des Nachwuchses einfach nur geniessen können. Lärm hat nämlich durchaus auch eine psychologische Komponente, sonst würde niemand freiwillig ein Rockkonzert besuchen. Und: So ein bisschen Leben in der Bude, war das nicht auch einer der Gründe, warum man eine Familie gegründet hat?
- Lärm generell und damit auch Kinderlärm lösen Stress aus. Kein Wunder also, dass Eltern davon genervt sind.
- Kinder sind nicht laut, um ihre Eltern oder Lehrer zu ärgern, sondern weil sie durch ihren Entwicklungsstand oft noch nicht anders können.
- Laut sein kann ein Ventil sein für Emotionen, für mangelnde Bewegung oder fehlende Möglichkeiten, sich kommunikativ anders auszudrücken.
- Wer die Ursachen kennt, warum Kinder laut sind, kann besser mit ihnen darüber ins Gespräch kommen.
- Klare Regeln helfen, die Lautstärke auch in Mietshäusern erträglich zu gestalten.