Zwischen Kindern und bedürftigen Eltern
Es kommt die Zeit, in der die eigenen Eltern immer mehr auf Unterstützung angewiesen sind. Der Prozess ist oft schleichend und trifft Frauen wie unsere Bloggerin Valerie Wendenburg in einer ohnehin fordernden Lebensphase.
Als meine neunjährige Tochter zum ersten Mal allein Bus fährt, kommt sie strahlend nach Hause. Stolz marschiert sie in ihr Zimmer – mit dem Gefühl, eine neue Unabhängigkeit erlangt zu haben. Ihrem Papi sagt sie beim Abendbrot, er solle sie nun bitte nicht mehr vom Turnen abholen: «Ich kann das jetzt nämlich ohne dich».
Als sie abends zufrieden in ihrem Bett liegt, ruft mein Vater an. Er ist am Boden zerstört, da er mit seinen 81 Jahren im Chaos der Deutschen Bahn gestrandet ist. Die Erkenntnis, dass er beim Reisen (und auch sonst gelegentlich) auf die Hilfe Dritter angewiesen ist, deprimiert ihn zutiefst.
Mein Vater wartet schon seit Längerem vor dem Bahnhof auf mich, da ihm das Treppensteigen schwerfällt.
Dieser Tag im Mai ist für ihn wie auch für meine Tochter einschneidend. Während sie sich abnabelt und ein Gefühl der Freiheit spürt, fühlt sich mein Vater abhängig und in seinen Möglichkeiten eingeschränkt.
Schleichender Rollentausch
Ich merke, dass meine Eltern, die in Deutschland leben, über kurz oder lang immer mehr Unterstützung von uns Kindern brauchen werden. Daran, dass auch meine Mutter und mein Vater einmal alt werden, habe ich jahrelang gar nicht gedacht. Irgendwann aber hat sich die Situation angebahnt.
Mein Vater, der mich immer am Bahngleis abgeholt und meinen Koffer getragen hat, wartet schon seit Längerem vor dem Bahnhof auf mich, da ihm das Treppensteigen schwerfällt. Ich, die als Kind am liebsten stundenlang auf seinen Schultern herumgetragen wurde, stütze ihn heute oft beim Spazierengehen. Der Wandel kam schleichend, wir haben die Rollen immer mehr getauscht, was für beide Seiten oft schmerzlich ist.
Sorgen um die Eltern
Der Gedanke daran, dass meine Eltern in den kommenden Monaten und Jahren immer bedürftiger werden, ist belastend. Ich erlebe meine Situation stellvertretend für zahlreiche Frauen zwischen 45 und 60, die familiär und beruflich stark eingebunden und gefordert sind. Wenn die Sorge oder gar die Pflege der bedürftigeren Eltern oder der Schwiegereltern hinzukommt, gerät der Alltag leicht aus den Fugen.
Bei mir ist das Thema vor allem mental präsent, denn in meinem privaten und beruflichen Umfeld kümmern sich viele Frauen um ihre Mutter oder ihren Vater. Haben wir bis vor Kurzem beim Glas Wein abends noch über unsere Kinder geredet, so sind jetzt die Eltern ein Thema, das uns stark beschäftigt. Denn beansprucht werden nun Ressourcen, die wir in unserer Lebensphase mit Familie und Arbeit eigentlich gar nicht haben.
Würde die Care-Arbeit vollständig entlöhnt, wäre sie der grösste Wirtschaftssektor in der Schweiz.
Meine Eltern kommen zurzeit noch gut allein zurecht. Diese Situation aber ist endlich, das wurde mir auch bei meinem letzten Besuch schmerzlich vor Augen geführt. Mein Mann und ich hatten uns an einem verlängerten Wochenende aufgeteilt: Er hat seine Eltern besucht, ich bin mit unserer Tochter zu meinen Eltern gefahren. Anstatt gemeinsam eine kurze Familienauszeit zu verbringen, die uns auch gutgetan hätte, haben wir Zeit getrennt voneinander mit unseren älter werdenden Eltern verbracht.
Eine freiwillige Entscheidung
Warum nimmt man (oder besser frau) die Betreuung der Eltern so oft auf sich? Viele Menschen fühlen sich offenbar verpflichtet, sich um die alternden Eltern zu kümmern, sie zu betreuen oder sogar zu pflegen. Mir wurde es so vorgelebt: Meine Urgrossmutter hat mit uns unter einem Dach gewohnt, bis sie mit 103 Jahren gestorben ist – meine Mutter war nicht berufstätig und dennoch hat die Situation sie und die gesamte Familie gefordert.
Dass die Betreuung unserer Eltern keine Selbstverständlichkeit ist, schreibt die Philosophin Barbara Bleisch in ihrem Buch: «Warum wir unseren Eltern nichts schulden». Es heisst, aus ethischer Sicht hätten Erwachsene ihren Eltern gegenüber keine Pflichten «allein aufgrund des Umstands, dass sie ihre Kinder sind». Die Entscheidung, die Eltern zu pflegen, sollte freiwillig fallen – zumal der Einsatz oft kaum mit der eigenen Berufstätigkeit vereinbar ist.
Ein Blick ins Ausland lohnt sich: In Frankreich gibt es vergleichbar mit der Elternzeit auch das Anrecht auf eine Zeit, um kranke Angehörige zu pflegen. Für Barbara Bleisch macht dies durchaus Sinn, da es ja in erster Linie eine gesellschaftliche Aufgabe sein müsse, allen Menschen ein würdevolles Leben im Alter zu garantieren. In der Realität aber sind es oftmals Familienfrauen, die sich in ihrer ohnehin knapp bemessenen Zeit ehrenamtlich darum kümmern, dass nicht nur ihre Kinder, sondern auch ihre Eltern gut versorgt sind.
Unbezahlter Liebesdienst
In der Schweiz pflegen und betreuen rund 600 000 Menschen ihre Angehörigen, ohne dafür bezahlt zu werden. Würde diese sogenannte Care-Arbeit vollständig entlöhnt, wäre sie der grösste Wirtschaftssektor in der Schweiz. Zumindest in meinem Umfeld beobachte ich, dass sich nicht nur die Frauen, sondern immer mehr Männer verantwortlich fühlen, für ihre Eltern da zu sein. Für die Pflege Angehöriger kann man sich neuerdings bei einer Spitex anstellen lassen – das ist ein Schritt in die richtige Richtung, auch wenn nach wie vor ein Grossteil der Betreuung gratis geleistet wird.
Dieser Liebesdienst kann natürlich auch eine Form des Zurückgebens sein, die positive Gefühle auslöst. Aus diesem Grund möchte auch ich für meine Eltern da sein, wenn es an der Zeit ist. Ich habe mir vorgenommen, meine eigenen Ressourcen dabei gut im Blick zu behalten. Denn auch wenn meine Tochter nun selbstständiger wird, möchte ich meine eigene Familie und meinen Beruf nicht vernachlässigen. Wie die Zukunft aber aussehen wird, steht in den Sternen. Wie sagte schon John Lennon: «Leben ist das, was passiert, während du eifrig dabei bist, andere Pläne zu machen.»