Zwischen Kindern und bedürftigen Eltern -
Merken
Drucken

Zwischen Kindern und bedürftigen Eltern

Lesedauer: 4 Minuten

Es kommt die Zeit, in der die eigenen Eltern immer mehr auf Unterstützung angewiesen sind. Der Prozess ist oft schleichend und trifft Frauen wie unsere Bloggerin Valerie Wendenburg in einer ohnehin fordernden Lebensphase.

Text: Valerie Wendenburg
Bild: Adobe Stock

Als meine neunjährige Tochter zum ersten Mal allein Bus fährt, kommt sie strahlend nach Hause. Stolz marschiert sie in ihr Zimmer – mit dem Gefühl, eine neue Unabhängigkeit erlangt zu haben. Ihrem Papi sagt sie beim Abendbrot, er solle sie nun bitte nicht mehr vom Turnen abholen: «Ich kann das jetzt nämlich ohne dich».

Als sie abends zufrieden in ihrem Bett liegt, ruft mein Vater an. Er ist am Boden zerstört, da er mit seinen 81 Jahren im Chaos der Deutschen Bahn gestrandet ist. Die Erkenntnis, dass er beim Reisen (und auch sonst gelegentlich) auf die Hilfe Dritter angewiesen ist, deprimiert ihn zutiefst.

Mein Vater wartet schon seit Längerem vor dem Bahnhof auf mich, da ihm das Treppensteigen schwerfällt.

Dieser Tag im Mai ist für ihn wie auch für meine Tochter einschneidend. Während sie sich abnabelt und ein Gefühl der Freiheit spürt, fühlt sich mein Vater abhängig und in seinen Möglichkeiten eingeschränkt.

Schleichender Rollentausch

Ich merke, dass meine Eltern, die in Deutschland leben, über kurz oder lang immer mehr Unterstützung von uns Kindern brauchen werden. Daran, dass auch meine Mutter und mein Vater einmal alt werden, habe ich jahrelang gar nicht gedacht. Irgendwann aber hat sich die Situation angebahnt.

Mein Vater, der mich immer am Bahngleis abgeholt und meinen Koffer getragen hat, wartet schon seit Längerem vor dem Bahnhof auf mich, da ihm das Treppensteigen schwerfällt. Ich, die als Kind am liebsten stundenlang auf seinen Schultern herumgetragen wurde, stütze ihn heute oft beim Spazierengehen. Der Wandel kam schleichend, wir haben die Rollen immer mehr getauscht, was für beide Seiten oft schmerzlich ist.

Sorgen um die Eltern

Der Gedanke daran, dass meine Eltern in den kommenden Monaten und Jahren immer bedürftiger werden, ist belastend. Ich erlebe meine Situation stellvertretend für zahlreiche Frauen zwischen 45 und 60, die familiär und beruflich stark eingebunden und gefordert sind. Wenn die Sorge oder gar die Pflege der bedürftigeren Eltern oder der Schwiegereltern hinzukommt, gerät der Alltag leicht aus den Fugen.

Bei mir ist das Thema vor allem mental präsent, denn in meinem privaten und beruflichen Umfeld kümmern sich viele Frauen um ihre Mutter oder ihren Vater. Haben wir bis vor Kurzem beim Glas Wein abends noch über unsere Kinder geredet, so sind jetzt die Eltern ein Thema, das uns stark beschäftigt. Denn beansprucht werden nun Ressourcen, die wir in unserer Lebensphase mit Familie und Arbeit eigentlich gar nicht haben.

Würde die Care-Arbeit vollständig entlöhnt, wäre sie der grösste Wirtschaftssektor in der Schweiz.

Meine Eltern kommen zurzeit noch gut allein zurecht. Diese Situation aber ist endlich, das wurde mir auch bei meinem letzten Besuch schmerzlich vor Augen geführt. Mein Mann und ich hatten uns an einem verlängerten Wochenende aufgeteilt: Er hat seine Eltern besucht, ich bin mit unserer Tochter zu meinen Eltern gefahren. Anstatt gemeinsam eine kurze Familienauszeit zu verbringen, die uns auch gutgetan hätte, haben wir Zeit getrennt voneinander mit unseren älter werdenden Eltern verbracht.

Eine freiwillige Entscheidung

Warum nimmt man (oder besser frau) die Betreuung der Eltern so oft auf sich? Viele Menschen fühlen sich offenbar verpflichtet, sich um die alternden Eltern zu kümmern, sie zu betreuen oder sogar zu pflegen. Mir wurde es so vorgelebt: Meine Urgrossmutter hat mit uns unter einem Dach gewohnt, bis sie mit 103 Jahren gestorben ist – meine Mutter war nicht berufstätig und dennoch hat die Situation sie und die gesamte Familie gefordert.

Dass die Betreuung unserer Eltern keine Selbstverständlichkeit ist, schreibt die Philosophin Barbara Bleisch in ihrem Buch: «Warum wir unseren Eltern nichts schulden». Es heisst, aus ethischer Sicht hätten Erwachsene ihren Eltern gegenüber keine Pflichten «allein aufgrund des Umstands, dass sie ihre Kinder sind». Die Entscheidung, die Eltern zu pflegen, sollte freiwillig fallen – zumal der Einsatz oft kaum mit der eigenen Berufstätigkeit vereinbar ist.

Ein Blick ins Ausland lohnt sich: In Frankreich gibt es vergleichbar mit der Elternzeit auch das Anrecht auf eine Zeit, um kranke Angehörige zu pflegen. Für Barbara Bleisch macht dies durchaus Sinn, da es ja in erster Linie eine gesellschaftliche Aufgabe sein müsse, allen Menschen ein würdevolles Leben im Alter zu garantieren. In der Realität aber sind es oftmals Familienfrauen, die sich in ihrer ohnehin knapp bemessenen Zeit ehrenamtlich darum kümmern, dass nicht nur ihre Kinder, sondern auch ihre Eltern gut versorgt sind. 

Unbezahlter Liebesdienst

In der Schweiz pflegen und betreuen rund 600 000 Menschen ihre Angehörigen, ohne dafür bezahlt zu werden. Würde diese sogenannte Care-Arbeit vollständig entlöhnt, wäre sie der grösste Wirtschaftssektor in der Schweiz. Zumindest in meinem Umfeld beobachte ich, dass sich nicht nur die Frauen, sondern immer mehr Männer verantwortlich fühlen, für ihre Eltern da zu sein. Für die Pflege Angehöriger kann man sich neuerdings bei einer Spitex anstellen lassen – das ist ein Schritt in die richtige Richtung, auch wenn nach wie vor ein Grossteil der Betreuung gratis geleistet wird. 

Dieser Liebesdienst kann natürlich auch eine Form des Zurückgebens sein, die positive Gefühle auslöst. Aus diesem Grund möchte auch ich für meine Eltern da sein, wenn es an der Zeit ist. Ich habe mir vorgenommen, meine eigenen Ressourcen dabei gut im Blick zu behalten. Denn auch wenn meine Tochter nun selbstständiger wird, möchte ich meine eigene Familie und meinen Beruf nicht vernachlässigen. Wie die Zukunft aber aussehen wird, steht in den Sternen. Wie sagte schon John Lennon: «Leben ist das, was passiert, während du eifrig dabei bist, andere Pläne zu machen.»

Valerie Wendenburg

Valerie Wendenburg
ist Journalistin und lebt in Bottmingen BL. Neben dem alltäglichen Spagat zwischen Familienleben, Arbeit und selbstbestimmter Zeit ist es ihr wichtig, die Beziehung zu jedem ihrer vier Kinder und zu ihrem Mann in den unterschiedlichen Lebensphasen zu pflegen. www.valeriewendenburg.ch

Alle Artikel von Valerie Wendenburg

Mehr zum Thema Vereinbarkeit

Psychologin Filomena Sabatella über Mental Load
Gesellschaft
«Wer Mental Load reduzieren will, sollte ganze Bereiche abgeben»
Psychologin Filomena Sabatella forscht zu Mental Load und berät Paare, wie sie die unsichtbare Arbeit fair unter sich aufteilen können.
Familie mit Ifolor Wandkalender
Advertorial
Persönliche Fotoprodukte zu Weihnachten
Mit ifolor zaubern Sie individuelle Fotoprodukte, die von Herzen kommen. Sichern Sie sich jetzt 25 % Rabatt.
Putzen: Wir sind nicht ganz sauber!
Blog
Ordnung ist das halbe Leben? Nicht bei uns
Unser Kolumnist Christian Käser versucht seit Jahren, sich gute Strategien zum Putzen anzueignen. Aber es will einfach nicht so richtig klappen.
Elternbildung
So bilden Eltern ein starkes Team
Eltern sehen sich mit unzähligen Erwartungen und Aufgaben konfrontiert. Eine faire Aufgabenteilung hilft, Erschöpfung und Frust vorzubeugen.
familienbarometer 2024 pro familia pax philippe Gnaegi inflation mieten krankenkasseprämie finanzielle probleme elternmagazin fritz und fraenzi hg
Familienleben
Die finanzielle Situation für Familien verschärft sich weiter
Wie geht es Familien in der Schweiz? Die Lage ist angespannt, sagt das Familienbarometer. Die Studie untersucht, was Familien bewegt.
Fritz+Fränzi-Mitarbeiterinnen erzählen, was sie als Frau geprägt hat.
Redaktionsblog
Was mich als Frau wachgerüttelt hat
Fritz+Fränzi-Mitarbeiterinnen erzählen, was sie als Frau zum Thema Gleichberechtigung, Vereinbarkeit oder Körperbild geprägt hat.
Geld
«Unverheiratete Mütter gehen grosse ­Risiken ein»
In einer Studie hat die Swiss Life den Gender Pension Gap untersucht. Andreas Christen erklärt, wie Mütter sich besser absichern können.
Kommunikation in der Familie: Mehr Zeit für Gespräche
Erziehung
«Ich geniesse es, jetzt mehr Zeit für Gespräche zu haben»
Arbeiten in Zürich, wohnen im Engadin. So bewusst wie dieser Entscheid, so aktiv sei auch die familiäre Kommunikation, sagt Mutter Mona.
Familienleben
Väter würden gerne weniger arbeiten
Die Swiss Life untersucht in einer Studie die Gender Pension Gap in der Schweiz. Unverheiratete Mütter sind in Sachen Vorsorge oft im Nachteil. Und: Väter arbeiten mehr, als sie eigentlich gerne würden.
Welt
Blog
Zwei Welten – eine Not
Die Welt einer Profisportlerin und die Welt einer Mama sind grundverschieden. Doch wenn man hinter die Fassaden schaut, kommen Gemeinsamkeiten zum Vorschein.
Kita-Kosten
Familienleben
Kita-Kosten bestrafen erwerbstätige Eltern
Die Kita-Kosten in der Schweiz sind viel zu hoch und belasten viele Familien. Eine Petition von Allianz F soll dies ändern.
Stefanie Rietzler
Blog
Kann ich es hier eigentlich niemandem recht machen?
Viele Eltern stehen heute unter hohem Druck. Es tut gut, zu wissen, welche Ansprüche aus dem eigenen Umfeld man getrost über Bord werfen kann.
Familienleben
«Ich fühle mich oft zwischen Kindern und Karriere zerrissen»
Musikerin Jaël über Mental Load, ihre Perfektionsansprüche, einen sexuellen Übergriff und warum sich Eltern ihren Altlasten stellen sollten.
Es ist völlig okay zu sagen: Mir ist es zu viel!
Erziehung
«Es ist völlig okay zu sagen: Mir ist es zu viel!»
«Es ist völlig okay zu sagen: Mir ist es zu viel!» Elterncoach Sandra Schwendener sagt, wie Mütter und Väter es schaffen können, ihre eigenen Kräfte richtig einzuschätzen, bevor sie ausbrennen.
Elternbildung
Elternstress: «Wir haben alle oft zu viele Bälle in der Luft»
Psychologin und Zweifachmutter Larissa Hauser findet, man müsse sich in stressigen Phasen bewusst entscheiden: Was lasse ich sein, um wieder mehr Kontrolle zu erhalten?
Familienleben
Wie können Eltern besser mit Stress im Alltag umgehen?
Viele Eltern fühlen sich im Alltag mit seinen unendlichen To-do-Listen permanent gestresst und gehetzt. Woran liegt das? Und vor allem: Wie kommen wir da wieder raus?
Elternstress: Unser Thema im März
Fritz+Fränzi
Elternstress: Unser Thema im März
Warum sich immer mehr Väter und Mütter überlastet fühlen – und wie sie einem Ausbrennen vorbeugen können.
Warum Auszeiten für Mütter so wichtig sind
Elternblog
Warum Auszeiten für Mütter so wichtig sind
Erwerbstätige Mütter sind im Familienalltag besonders gefordert. Unsere Bloggerin Valerie Wendenburg nimmt sich daher bewusst Auszeiten.
Wie kann der Mental Load besser verteilt werden?
Erziehung
Wie kann der Mental Load besser verteilt werden?
Teilen Sie sich als Eltern die Kinderbetreuung auf und sind Sie beide erwerbstätig? Und trotzdem haben Sie das Gefühl, dass zuhause alles an Ihnen hängen bleibt?
Elternbildung
Wie gelingt eine gute Vater-Sohn-Beziehung? 
Väter sind für Söhne massgeblich in der Identitätsbildung und prägen die Handhabung aggressiver Gefühle.
Elternbildung
Wie gelingt eine gute Mutter-Tochter-Beziehung? 
Mütter prägen ihre Töchter ein Leben lang. Wie stark ist ihr Einfluss und was macht eine gute Mutter-Tochter-Beziehung wirklich aus?
Stefanie Rietzler
Elternblog
Warum ich allen Eltern eine Laura wünsche
Mit der Mutterschaft ändert sich vieles. Und das Glück wie die Sorgen mit einer echten Freundin teilen zu können, erhält einen unschätzbaren Wert. Ein offener Brief.
Fabian Grolimund Kolumnist
Blog
Liebe Väter, ich bin sauer!
Nur wenige Männer machen vom Vaterschaftsurlaub ­Gebrauch. Haben Väter noch immer nicht kapiert, wie wichtig sie für ihre ­Kinder sind?
Stefanie Rietzler
Elternblog
Wie Eltern sich als Paar wieder näher kommen
Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie kostet Kraft – da wird oft an der Beziehung gespart, schreibt Stefanie Rietzler. Doch es geht auch anders.
Elternblog
«Wir sollten den Muttertag abschaffen»
Mama ist die Beste! «Die Botschaft hinter dem Muttertag ist haarsträubend», schreibt Fritz+Fränzi-Redaktorin Maria Ryser. Sie möchte den Muttertag lieber durch den Tag der Familie ersetzen.