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Kann ich es hier eigentlich niemandem recht machen?

Lesedauer: 4 Minuten

Viele Eltern stehen heute unter hohem Druck. Es wirkt befreiend, sich bewusst zu machen, welche Ansprüche aus dem eigenen Umfeld man getrost über Bord werfen kann.

Text: Stefanie Rietzler
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren

Viele Eltern fühlen sich heute erschöpft und ausgelaugt. Bin ich eine gute Mutter, ein guter Vater? Wieviel darf ich meinem Kind zumuten, ohne dass es und unsere Beziehung Schaden nehmen? Warum bin ich permanent so unter Druck?

Von allen Seiten prasseln Erwartungen auf uns ein, denen man entsprechen soll. Diese sind häufig so widersprüchlich, dass wir es am Ende offenbar sowieso nur verkehrt machen können. Eltern klagen über die Doppelbelastung, die es mit sich bringt, gute Eltern und beruflich erfolgreich sein zu wollen. Während die Anforderungen im Berufsleben ständig zu steigen scheinen, wollen wir heute auch als Eltern alles besonders gut und richtig machen.

Wie gehen wir damit um, wenn wir uns als Eltern schuldig und unzulänglich fühlen und den Eindruck haben, ständig kritisch beäugt zu werden?

Aber was bedeutet «gut und richtig»? «Verlass dich einfach auf dein Bauchgefühl. Du kennst dein Kind schliesslich am besten», wird uns zugerufen. Aber was, wenn uns dieses Bauchgefühl nicht weiterhilft und wir blockiert sind? Wie gehen wir damit um, wenn wir uns als Eltern oft schuldig und unzulänglich fühlen und ständig den Eindruck haben, von unserem Umfeld kritisch beäugt zu werden?

Raus aus dem Erwartungskarussell

Immer wieder gibt es Phasen, in denen wir uns von all den Erwartungen, die wir selbst und andere an uns richten, überrollt fühlen. Mir selbst hat dann oft eine leicht veränderte Version des sogenannten «Auftragskarussells» des systemisch-lösungsorientierten Psychotherapeuten Arist von Schlippe geholfen. Diese Methode setze ich sehr gerne auch in Beratungen ein. Sehen wir uns dazu ein Beispiel an:

Die Mutter eines sensiblen, schüchtern wirkenden achtjährigen Buben ist in letzter Zeit ständig gehetzt, unter Druck und erschöpft. Sie fühlt sich oft unzulänglich und hat den Eindruck, es niemandem recht machen zu können. Sehr ­präsent in ihrem Leben ist der Anspruch, eine gute Mutter zu sein – es gelingt ihr aber nicht, herauszufinden, weshalb sie daran fast verzweifelt. 

Viel Klarheit entsteht, als sie sich ganz bewusst fragt: Wer hegt welche Erwartungen an mich als Mutter? Welche davon werden offen kommuniziert? Welche liegen eventuell unausgesprochen in der Luft?

Dazu nehmen wir ein grosses Blatt Papier, wobei die Klientin eine Holzfigur in die Mitte setzt, die sie in ihrer Rolle als Mutter repräsentiert. Als Nächstes überlegen wir, welche Personen oder Instanzen im Umfeld der Mutter Erwartungen an sie stellen. Rasch füllt sich das Blatt mit weiteren Holzfiguren, die beschriftet werden: der Partner, die eigenen Eltern und Schwiegereltern, die Klassenlehrkraft, die «Gesellschaft», ihr Arbeitgeber, ihr Sohn selbst. Nun lassen wir jede einzelne Figur zu Wort kommen und ihre Anliegen formulieren. Anschliessend schreiben wir für jede mindestens eine «offen ausgesprochene» und eine «unausgesprochene» Erwartung auf.

Dabei werden schnell sehr widersprüchliche Ansprüche an die Mutter deutlich: Da ist die Schwiegermutter, die ihr klar zu verstehen gibt, dass sie den Achtjährigen stärker in Kontakt mit Gleichaltrigen bringen müsste – und ihr zwischen den Zeilen vorwirft, dass sie an der Unsicherheit des Kindes schuld ist, weil sie ihm «kein Geschwister schenken wollte». So hat die Schwiegermutter beispielsweise kürzlich kommentarlos einen Artikel per E-Mail weitergeleitet, in dem behauptet wird, Einzelkinder seien weniger durchsetzungsfähig. 

Wer hegt welche Erwartungen an mich als Mutter? Welche davon werden offen kommuniziert? Welche liegen unausgesprochen in der Luft?

Dazu gesellen sich die eigenen Eltern, die beide stets betonen, wie viel Wert sie früher darauf gelegt hatten, den Nachwuchs zu Selbst­sicherheit zu erziehen und ihm nicht alles abzunehmen – und ihr unterschwellig mitteilen, wie enttäuscht sie darüber sind, dass sie den Enkel nicht einmal dazu bringt, bei ihnen zu übernachten. Der Ehemann, der sie vordergründig unterstützt und ihr sagt, sie solle sich nicht so viele Gedanken machen, die Schüchternheit verschwinde irgendwann von selbst – sie aber spüren lässt, dass er beruflich genügend Stress hat und sie ihn nicht immer mit unnötigen Sorgen belasten soll.

Die Gesellschaft, von der sie die Botschaft wahrnimmt: «Sorge dafür, dass dein Sohn selbstsicher und durch­setzungsfähig wird. Sonst wird er es in Zukunft schwer haben.» Die ­Klassenlehrerin, die betont, wie intelligent das Kind sei und wie schade, dass es sich mündlich kaum beteilige. Man müsste möglicherweise zu Hause seine Stärken mehr fördern und ihm mehr Selbstvertrauen mitgeben – ein anderer Junge hätte von Judo sehr profitiert. Unterschwellig fühlte sich die Klientin im schulischen Standortgespräch als Helikoptermama abgestempelt, die die Unsicherheit des Kindes befeuert, weil sie angeblich nicht loslassen kann.

Und dann ist da noch ihr Sohn, der ihr deutlich zeigt: «Ich brauche Sicherheit und deine Nähe! Ich will bei dir übernachten, wenn ich Angst habe.» Und ihr immer wieder signalisiert: «Alle wollen so viel von mir! Ich schaffe das alles nicht! Du darfst mich nicht auch noch überfordern und im Stich lassen.» 

Schon blickt die Mutter auf die Aufstellung auf dem Tisch und sagt: «Ich glaube, nun haben wir alle …» – dabei hat sie sich selbst vergessen! Nun ergründen wir, welche Ansprüche sie an sich als Mama stellt. Auch diese sind widersprüchlich: Als «gute Mutter» möchte sie für ihr Kind da sein und es vor beängstigenden Situationen bewahren. Auf der anderen Seite fragt sie sich, ob ihm das guttut. Sie selbst sehnt sich nach mehr Unabhängigkeit, Flexibilität und würde gerne ihr Arbeitspensum aufstocken. 

Als sich die Klientin als Holzfigur in der Mitte all dieser Erwartungen sieht, ruft sie: «Kein Wunder, dass ich so verunsichert bin!» Gleichzeitig gewinnt sie an Selbstsicherheit. Als sie die Erwartungen ihrer Eltern schwarz auf weiss niederschreibt, schüttelt sie den Kopf: «Das ist doch eigentlich nicht mein Problem! Es ist nicht meine Aufgabe, meinen Sohn dazu zu zwingen, bei den Grosseltern zu übernachten.» 

An manchen Stellen wird ihr aber auch bewusst, dass sie mögliche unterschwellige Ansprüche explizit auf den Tisch bringen möchte: Beruflicher Stress hin oder her, sie wird von ihrem Mann einfordern, dass er sich künftig bei Fragen rund um die Erziehung positioniert, Entscheidungen mitträgt und gegenüber seinen Eltern vertritt. Ihrem eigenen Sohn möchte sie weiterhin Verständnis entgegenbringen, ihm aber auch etwas mehr zutrauen und dem eigenen Wunsch nach mehr Freiraum stärker Rechnung tragen. 

Jetzt sind Sie dran!

Vielleicht haben Sie ebenfalls Lust, Ihr eigenes Erwartungskarussell zum Anhalten zu bringen und darüber nachzudenken:

  • wer was von Ihnen erwartet.
  • welche dieser Erwartungen mit Ihren Wünschen und Zielen übereinstimmen und Sie daher gerne annehmen.
  • von welchen Ansprüchen Sie sich bewusst distanzieren möchten.
  • wo es ein klärendes Gespräch darüber braucht, welche unausgesprochenen Erwartungen wirklich im Raum stehen und was diese in Ihnen auslösen.
  • an welchen Stellen Verantwortungsbereiche neu verhandelt werden sollten, damit es Ihnen langfristig gut gehen kann.

Stefanie Rietzler
ist Psychologin und Autorin. Gemeinsam mit Fabian Grolimund leitet sie die Akademie für Lerncoaching, ein Beratungs- und Weiterbildungsinstitut. Rietzler ist Mutter eines Sohnes und einer Tochter und lebt mit ihrer Familie in Zürich.

Alle Artikel von Stefanie Rietzler

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