Kinder die Liebe spüren lassen
Eltern können ihre Liebe nicht durch Beteuerungen beweisen, sondern nur durch ihr Tun, so Jesper Juul.
Wenn wir ein Kind bekommen, kennen wir es nicht: Wir wissen nicht, wie dieses Kind liebt und wie es geliebt werden möchte. Auch Kinder müssen auf unterschiedliche Arten geliebt werden, denn sie sind unterschiedlich. Wenn ich also merke, dass ein Vater sein Kind verletzt hat, ihm dann aber sagt: «Ich habe dies ja nur getan, weil ich dich liebe!», dann muss ich ihn darauf hinweisen: «An deiner Liebe ist nichts auszusetzen, ich hinterfrage sie gewiss nicht, aber ich hinterfrage dein Verhalten: Wenn du dein Kind so behandelst, läuft es immer weg, es kann dein Verhalten nicht als Liebe erkennen. Es hat eine andere Erfahrung von dem, was Liebe ist. Du musst also versuchen, dein Verhalten so zu verändern, dass es einen Wert für deine Tochter hat, dass sie es als Liebe übersetzen kann.»
Aber dafür muss man sich nicht schuldig fühlen, woher sollen wir das auch wissen? Wir sind alle so unterschiedlich und wollen auf so verschiedene Weisen geliebt werden! Das Kind hat ein ganz bestimmtes Temperament und entwickelt sich auf seine Weise. Wie können wir aber herausfinden, wie unser Kind geliebt werden möchte?
Kinder brauchen von ihren Eltern nichts als die elementare Mitteilung: ‹Du bist in Ordnung, einfach weil du bist!›
Erwachsene können sich das sprachlich mitteilen, für ein Kind ist das jedoch nicht so einfach. Wir werden oft sehr böse auf unsere Kinder – und diese Haltung drückt letztlich unsere Verzweiflung aus: Wir sind im Umgang mit unseren Kindern weniger erfolgreich, als wir es sein möchten. Aber wir können Kinder, selbst wenn sie noch sehr klein sind, um HiIfe bitten und ihnen sagen: «Schau, in den letzten drei Wochen war ich oft böse auf dich, wenn du dies oder das getan hast, und das macht mich wütend. Ich weiss nicht, was ich tun soll! Kannst du mir helfen?» Und meist sagen dir Kinder, was los ist, auch wenn sie es weniger differenziert ausdrücken.
Einer unserer dänischen Kinderspezialisten hat ein Projekt mit Kindern zwischen drei und sechs Jahren durchgeführt. Er hat dabei erfahren, dass 90 Prozent der befragten Kinder es so empfinden, dass Eltern 80 Prozent der Zeit, die sie mit ihnen verbringen, schimpfen. Die befragten Erwachsenen hingegen meinten, sie würden nur 10 Prozent der Zeit schimpfen. Was er sich nun gefragt hat: Was ist mit diesen 70 Prozent, in denen sich Kinder kritisiert und nicht gesehen fühlen, Erwachsene das hingegen gar nicht merken? Und er kam zu dem Schluss, dass Erwachsene unter Schimpfen «den Ton erheben und böse gucken» verstehen, während Kinder unter Schimpfen auch all die anderen Situationen verstehen, in denen sie kategorisiert und definiert werden.
Die Liebe im Tun erkennbar machen
Was können wir als Erwachsene also tun? Wenn du die Kinder fragst: «Was kann ich anders machen?», sagen dir die Kinder: «Nichts, hör mir einfach zu!» Und das wiederum bedeutet: «Wenn du, Papa, wüsstest, was in meinem Kopf vorgeht, wenn ich dies oder das tue, dann würdest du mich nicht so beschimpfen, dann wüsstest du, ich hatte einen guten Grund dazu.»
Wenn ich mit Teenagern zusammenkomme, sagen sie mir sehr oft: «Meine Familie hört mir nicht zu!» Und die Eltern werden entsetzt sein und sagen: «Wie? Wir sprechen doch die ganze Zeit, was meinst du damit: Wir hören dir nicht zu?» Eltern fühlen sich unfair behandelt, aber was ihnen das Kind mitteilt, ist sehr wertvoll: «Ihr hört zwar meine Worte, versteht aber meine Botschaft nicht! Ihr denkt nicht weiter darüber nach.»
Wenn Eltern ihre Liebe nur ausdrücken können, indem sie ihre Kinder mit Spielzeugen überhäufen, frieren die Kinder ein.
Was ich mit meinem Einsatz erreichen möchte, ist, in konkreten Beziehungen zu bewirken, dass liebevolle Emotionen – egal ob in Partnerschaften, zwischen Lehrern und Schülern oder Eltern und Kindern – in liebevolles Tun übersetzt werden. Und wir haben alle diese Schwierigkeit: «Ich liebe dich, wie kann ich es nun anstellen, dass du diese Liebe auch wirklich spürst?» Wir meinen, wenn wir jemanden lieben, dann kann der uns nur dankbar dafür sein. Wir meinen, wir hätten ein Ein- und Austrittsticket für die Seele des anderen: «Weil ich dich liebe, darf ich alles!»
Liebe kann gefährlich sein – vor allem für Kinder
Es ist in der Tat so, dass Menschen einander die furchtbarsten Dinge antun, weil sie sich lieben. Liebe kann somit auch gefährlich sein − vor allem für Kinder, denn Kinder müssen die Art und Weise, wie sie von ihren Eltern geliebt werden, einfach akzeptieren, selbst wenn sie sich nicht geliebt fühlen.
Wenn zum Beispiel Eltern ihre Liebe nur ausdrücken können, indem sie ihre Kinder mit Spielzeugen überhäufen, frieren die Kinder ein. Aber sie spüren, dass das die Art ihrer Eltern ist, sie zu lieben, also können sie gar nichts anderes tun, als mehr Spielzeuge zu verlangen. Und je mehr Spielzeuge in den Ecken des Kinderzimmers herumliegen, umso mehr frieren sie ein. Auch dies ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie feinsinnig Kinder kooperieren: Sie entwickeln ihre Lebenslogik, die sie dann auch später im Leben begleiten wird.
Zum Beispiel: Deine Mutter hat dir als kleines Kind, immer wenn du schlimm warst, gesagt: «Du bist wie dein Vater.» Nun bist du selber verheiratet und hast ein Kind – was sagst du ihm, wenn es schlimm ist? Genau denselben Satz, den deine Mutter zu dir gesagt hat, obwohl er dich damals immer verletzt hat. Aber das ist das, was du von ihr übernommen hast – ihre Art, dich zu lieben. Das ist das, was du über Liebe mitbekommen hast.
Kinder so sein lassen, wie sie sind
Kinder lieben uns unvoreingenommen und akzeptieren sogar unsere Lieblosigkeiten. Dabei könnten wir von ihnen lernen, dass man nichts tun muss, um geliebt zu werden – man darf einfach sein. Ja, die unvoreingenommene Liebe ist das, was Eltern gleich in der ersten Woche mit ihrem Neugeborenen erfahren: Das Baby liegt in seinem Bettchen und wir meinen, so wie es ist, ist es wunderbar. Nur, kurz danach schleicht sich schon der Wurm ein und wir meinen, unseren Nachwuchs dauernd korrigieren zu müssen. Das ist nicht besonders schlau, denn Kinder brauchen von ihren Eltern nichts als die elementare Mitteilung: «Du bist in Ordnung, einfach weil du bist!»
Als ich 18 Jahre alt und noch Matrose war, hatte einer meiner Onkel, zu dem ich mich gar nicht hingezogen fühlte, uns alle eingeladen. Dazu hatte ich nun aber gar keine Lust, denn ich wusste genau, was ablaufen würde: Die Erwachsenen würden mich fragen, wie es mir gehe, und mich dann völlig vergessen. Meine Eltern haben aber so viel Druck gemacht, dass ich schliesslich mitging.
Und was geschah? Genau das, was ich vorausgesehen hatte: Niemand hat sich nach den ersten zwei Minuten für mich interessiert, sodass ich nach einer halben Stunde beschlossen habe, zu gehen. Und als ich aufstand, um wegzugehen, sah plötzlich mein Vater in meine Richtung: Er fixierte mich und wusste genau, was ich vorhatte, und auch, weshalb ich aufstehen und weggehen wollte. Er hat mich nicht aufgehalten, sondern gehen lassen und mir das Gefühl gegeben, dass er mich versteht und dass es in Ordnung ist. Ich hätte es mir gewünscht, solche stillen Botschaften viel öfter zu erhalten – vor allem als Kind. Aber immerhin, es war einmal passiert, und das war viel!
Diese Art von Botschaften bestimmt die Qualität einer Beziehung zwischen Eltern und Kindern. Eltern können ihre Liebe zu den Kindern nicht beweisen, indem sie ihnen hundert Mal beteuern: «Wir lieben euch so sehr!» – sie müssen diese Botschaft vermitteln, indem sie sie lieben, das heisst mit ihrem Tun. Sie müssen ihnen zeigen, dass sie sie annehmen – so wie sie sind.