Aggressive Kinder – was ist normal? -
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Aggressive Kinder – was ist normal?

Lesedauer: 4 Minuten

Wutanfälle, herumschreien, das kleine Geschwister hauen – wer Kinder erzieht, kennt diese Ausbrüche. Was aber, wenn die Aggression extrem wird?

Text: Jacqueline Esslinger
Bild: Adam Burn / Plainpicture

Welche Form von aggressivem Verhalten bei Kindern auftritt, ist stark altersabhängig. Bereits Säuglinge ab rund sechs Monaten können Ärger ausdrücken, sie verfolgen jedoch keine Schädigungsabsicht. Im zweiten und dritten Lebensjahr hingegen sind Wutanfälle und aggressives Verhalten nicht ungewöhnlich und richten sich oft gezielt gegen Er­­wachsene und andere Kinder. Ab dem Grundschulalter sind ge­­schlechtstypische Muster bei der Aggressionsäusserung sichtbar: Buben scheinen eher offene und körperliche Formen von Aggression zu zeigen.

Bei Mädchen hingegen kommen häufiger verdeckte sowie verbale Formen vor. Beispiele sind Lügen und die Verbreitung von Gerüchten, etwa um einer Person zu schaden oder sie auszuschliessen. 

Aggressives Verhalten bei Kindern und Jugendlichen

Aggressives Verhalten im Kindes- und Jugendalter wurde in gross angelegten Studien wie beispielsweise der KiGGS/BELLA-Studie bei bis zu acht Prozent der unter 17-Jährigen festgestellt. Es zeigt sich nicht nur in physischen Angriffen, sondern auch in verbaler Gewalt, Mobbing und Diebstählen.

In der Adoleszenz ist aggressives Verhalten in der Regel weniger häufig zu beobachten. Im Gegensatz zu kleinen Kindern, die Emotionen oder Impulse direkt ausdrücken, werden im Laufe der Jahre Selbstkontrolle und hemmende Mechanismen gelernt.

Allerdings fällt das aggressive Verhalten oft heftiger aus als im Kleinkindalter, bedingt durch zunehmende körperliche Kraft, mehr Freiheiten ausser Haus und grössere finanzielle Ressourcen. Entsprechend tritt die höchste Frequenz von aggressivem Verhalten im Vorschulalter auf, die gravierendsten Ausprägungen jedoch in der Jugendzeit und im frühen Erwachsenenalter. 

Von Kindern, die stark oppositionell auffällig sind, entwickelt rund die Hälfte eine Störung des Sozialverhaltens. Zeigt ein Kind schon sehr jung Muster von Aggressivität, behält es diese oft bei und läuft Gefahr, delinquent zu werden.

Aggressives Verhalten kann auch Ausdruck von Angst und Unsicherheit sein.

Tritt das strafrechtlich auffällige Verhalten schon früh auf, etwa im Alter von 14 Jahren, steigt die Wahrscheinlichkeit für dauerhaftes kriminelles Verhalten. Oppositionelles Verhalten ist jedoch ein typisches Merkmal der frühen Kindheit (Trotzalter) und der Adoleszenz. 

Eine Diagnose im Sinne einer Verhaltens­störung wird deshalb erst in Betracht gezogen, wenn Aggression häufiger sowie mit schwerwiegenderen Folgen auftritt als bei anderen Kindern und es für die Entwicklungsstufe des Kindes angemessen wäre. Das Verhalten muss über einen Zeitraum von sechs Monaten auftreten und familiäre, soziale oder schulische Bereiche drastisch beeinträchtigen. 

Aggressives Verhalten kann viele Gründe haben

Für aggressives Verhalten bei Kindern gibt es vielfältige Ursachen. Diese müssen unbedingt im Einzelfall untersucht werden. Die klassische Absicht der Aggression wird als egoistische Durchsetzung eigener Bedürfnisse und bewusste Schädigung und Verletzung anderer beschrieben.

Aggressives Verhalten kann jedoch auch Ausdruck von Angst und Unsicherheit sein. Diese Kinder fühlen sich schneller bedroht und angegriffen als andere. Sie handeln aus einer eigenen Abwehrhaltung, bedingt durch soziale Un­­sicherheit, heraus. So nehmen diese Kinder Bedrohungen vermehrt wahr und reagieren übersensibel.

Bedrohliche Situationen lösen ein inneres Spannungsgefühl aus, ein Wutausbruch soll diese Spannung wieder abbauen. Betroffene Kinder scheinen an der Zuneigung ihres Umfelds zu zweifeln und erwarten nicht selten übermässige soziale Anerkennung.

Aggressives Verhalten wird so zum Mittel, um sich Respekt zu verschaffen. Dies funktioniert besonders gut, wenn das Umfeld mit Respekt, Angst oder sogar Unterwürfigkeit antwortet. Je öfter dann soziale Angst mit aggressivem Verhalten gelöst wird, desto stabiler wird das Muster, auch in Zukunft aggressiv zu handeln.

In Krisen neigen Kinder eher zu aggressivem Verhalten

Ein weiterer möglicher Auslöser von aggressivem Verhalten kann eine Krise im sozialen Umfeld des Kindes sein, beispielsweise Konflikte in der Paarbeziehung der Eltern oder Stress in der Familie. Dies bedeutet nicht, dass alle partnerschaftlichen Konflikte oder Stress dazu führen, dass ein Kind aggressiv wird. Es wurde aber festgestellt, dass Kinder in Familienkrisen eher zu aggressivem Verhalten neigen. Familien in Belastungssituationen sind besonders gefährdet, da schwere Belastungen das Erziehungsverhalten und die Kapazität der Eltern beeinflussen.

Zeigen die Eltern selbst manchmal aggressives Verhalten, wird dies zu einer hohen Wahrscheinlichkeit vom Kind übernommen, auch wenn die Situationen verschieden sind oder sich die Aggression nicht gegen das Kind, sondern gegen Erwachsene richtet.

Es kann ein Teufelskreis der Aggression und Unbeliebtheit entstehen.

Weitere Ursachen sind Vernachlässigung und Misshandlung, manchmal jedoch auch eine Veränderung der Lebenssituation wie zum Beispiel ein Umzug in eine neue Stadt und ein Schulwechsel. Auch genetische Faktoren spielen eine Rolle. Kinder mit aggressivem Verhalten weisen meist eine mangelnde Impulskontrolle und niedrige Frustrationstoleranz auf. Kinder mit ADHS haben ein höheres Risiko für oppositionelles Trotzverhalten. So zeigen zwei von drei Kindern mit hyperkinetischer Störung auch aggressives Verhalten. 

Darüber hinaus scheinen impulsive Jugendliche weniger schnell aus ihren Erfahrungen zu lernen und Konsequenzen schlechter abschätzen zu können. Das Kind wird schnell zum Stör­element seines sozialen Umfelds, es wird als aggressiv und unkontrollierbar erlebt. Nicht selten ist das Kind deshalb weniger beliebt und wird selbst Opfer aggressiver Handlungen. Es kann ein Teufelskreis der Aggression und Unbeliebtheit entstehen. 

Aus der Perspektive der Kinder sind meistens die Eltern, die Lehrer, die anderen Kinder Schuld für ihre Reaktion. Häufig beurteilen sie selbst ihr Verhalten als nicht aggressiv. Mütter und Väter finden es jedoch herausfordernd, mit diesen Kindern Zeit zu verbringen, ebenso wie eine positive Beziehung zu ihnen aufzubauen. 

Ein weiterer Teufelskreis: Intensive Kinder mit beanspruchendem Verhalten sorgen für gestresste und/oder überanstrengte Eltern. Ist dieser Punkt erreicht, wird es schwierig, sensibel auf das Kind einzugehen, immer angemessen zu reagieren und emotional verfügbar zu bleiben. Kinder spüren solche Veränderungen. Oft versuchen sie, emotionale Aufmerksamkeit durch Provokation zu erlangen.

Langfristig bewirkt aggressives Verhalten bei Kindern eine Einschränkung ihres Verhaltens und verhindert dadurch die Ausbildung der Fähigkeit, ein Problem konfliktfrei zu lösen. Es wird empfohlen, extremes Verhalten so früh wie möglich mit einer Fachperson zu besprechen. Aggressive Kinder haben ein hohes Risiko, von Gleichaltrigen abgelehnt zu werden, sowie für schulischen Misserfolg. 

Sprechen Sie mit Ihrem Kind

Oft kann eine aussenstehende Person helfen – ein Berater oder eine Psychologin sowie andere Fachspezialisten können den Teufelskreis durchblicken und helfen, sich im Falle von Provokationen richtig zu verhalten. Sprechen Sie zudem mit der Lehrperson Ihres Kindes! Sie sieht es einen Grossteil des Tages und kann wichtige Informationen geben über Situationen, in denen das Verhalten auftritt, oder über vermutete Einflussfaktoren. 

Es ist wichtig, dass Eltern mit dem Kind üben, wie es Konflikte anders lösen kann. Hierbei ist konsequentes Reagieren und Intervenieren bedeutsam. Die Hilfestellung für alternative Umgangsweisen und Lob dafür sowie die eigene Vorbildhaltung sind Erfolg versprechend, denn auch die Kinder sind oft mit ihrer eigenen Reaktion nicht wirklich glücklich.

Das Kind zu fragen, was es braucht und zugrunde liegende Probleme ermitteln, gibt Aufschluss über mögliche Lösungen. Deshalb muss das Kind unbedingt miteinbezogen werden.

Jacqueline Esslinger
ist Psychologin und Doktorandin an der Universität Freiburg. Sie leitet eine Studie zur Regulation bei Kindern mit ADHS und aggressivem Verhalten.

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