«Buben müssen einen gesunden Umgang mit ihrer Aggression erlernen»
Jungs-Coach Anton Wieser weiss, dass Buben den Ruf haben, anstrengender zu sein als Mädchen. Dabei mangle es ihnen vor allem an Selbstbewusstsein. Der Mentaltrainer über raufende Jugendliche und Eltern, die darin gefordert sind, ihre Söhne zu stärken.
Herr Wieser, Jungen gelten als lauter und rücksichtsloser als Mädchen. Warum fällt es auffällig vielen Jungen so schwer, sich ihrem Umfeld anzupassen?
Da möchte ich mit einer Gegenfrage antworten. Wollen wir denn angepasste Kinder? Ich persönlich glaube nicht, dass wir das wollen. Folgsame und unterwürfige Kinder hatten wir doch schon einmal in unserer Vergangenheit, und das hat Deutschland, Österreich und die ganze Welt in entsetzliche Zustände geschickt.
Eigentlich wollen wir selbständige, verantwortungsbewusste und selbstbewusste Kinder. In meinen Coachings habe ich sehr oft mit Eltern zu tun, die mir sagen: «Mein Sohn hat kein Selbstvertrauen. Kannst du ihn unterstützen?» Ich erwidere dann immer: «Selbstverständlich kann ich das. Daraus werden sich aber auch Veränderungen und Herausforderungen zu Hause ergeben.»
Das klingt zuerst einmal nach einer Menge Schwierigkeiten. Hat ein grösseres Selbstvertrauen denn nicht vor allem positive Auswirkungen?
Der Nachwuchs wird sich von Mutter und Vater dann nicht mehr alles sagen lassen. Ich habe in meiner Praxis kürzlich mit einem Jungen gearbeitet, der jedes Gefühl für sich selbst verloren hatte. Übrigens passiert das häufiger bei Jungs, die sehr erfolgreiche Väter haben. Der Vater erscheint ihnen als Vorbild so unerreichbar in seiner Männlichkeit, in seinem Status und mit seiner Macht, dass die Söhne gar nicht wissen, wie sie dahin kommen können. Und dann ziehen sie sich aus dem realen Leben zurück und suchen ihre Vorbilder häufig online.
Es müsste in der Schule mehr um ein Miteinander als um Anpassung gehen.
Auf jeden Fall habe ich diesen Teenager gecoacht und wenig später folgte der Anruf des Vaters, der mich fragte: «Was hast du mit dem Jungen gemacht? Der widerspricht mir.» Was soll ich da sagen? Der Junge kann mit seinem Umfeld nicht anders agieren als daheim.
Damit sind wir zurück beim Thema Angepasstheit.
Ich glaube, dass es mehr um ein Miteinander gehen sollte als um Anpassung, auch im Hinblick auf die Schule. Das bedeutet, dass auch das schulische System sich um dieses Miteinander bemühen müsste. Dazu gibt es bereits etliche Studien und Empfehlungen, die bisher aber weitestgehend nicht berücksichtigt wurden. Also sind die Eltern darin gefordert, die Jungen auf ihrem Weg zu begleiten und ihnen den Rücken zu stärken.
Tun die meisten Eltern das nicht ohnehin?
Sie tun es jedenfalls nicht, wenn sie nicht akzeptieren können, dass es zwischen Mädchen und Jungen Unterschiede gibt. Sie tun es nicht, wenn sie insgeheim hoffen, dass der Sohn doch ein bisschen mehr wie seine Schwester sein könnte.
Wo sehen Sie denn die grössten Unterschiede?
Eins vorweg: Natürlich gibt es nicht den prototypischen Jungen, da gibt es grosse individuelle Ausprägungen. Aber Jungen sind im Durchschnitt bewegungsfreudiger, objektinteressierter, grobmotorischer als Mädchen. Jungen entdecken und erfahren ihren Körper in der Regel auch anders, sie gehen anders mit ihrer Körperlichkeit um. Das zeigt sich übrigens schon sehr früh.
Haben Sie ein Beispiel?
Hunderte! Ich wähle mal eines, das viele von uns kennen dürften. Wem ist noch nicht aufgefallen, welche Faszination Stöcke auf Jungen ausüben? Stöcke sind eine gewisse Zeit lang Waffe, Werkzeug, wichtige Begleiter. Viele Jungen haben eine beachtliche Stocksammlung zu Hause. Für Eltern ist das manchmal echt verwunderlich, wie Jungen mit Stöcken interagieren und beispielsweise einfach mal auf den Boden einschlagen.
Jungen entdecken und erfahren ihren Körper anders, sie gehen mit ihrer Körperlichkeit anders um als Mädchen.
Mein zwölfjähriger Sohn steht ab und zu mit seinem Lieblingsstock im Garten, versinkt eine Stunde lang in seiner Welt und kämpft gegen alles Mögliche. Wenn er das macht, ist er ganz in seiner Welt, im Flow und mit sich selbst und seinem Stock beschäftigt. Das ist aber Jungen ureigen. Das machen Mädchen in der Regel nicht – aber nicht, weil sie nicht dürfen. Es interessiert sie nicht.
Fallen Raufen und Kämpfen untereinander in die gleiche Kategorie?
Auch das ist ein Weg, wie Jungs sich über ihren Körper ausdrücken.
Als Eltern ist man aber schon versucht, zu denken oder gegebenenfalls auch zu sagen: Müsst ihr euch denn jetzt wieder prügeln? Könnt ihr nicht mal friedlich miteinander spielen?
Die Reaktion ist zwar nachvollziehbar, aber nicht unbedingt hilfreich. Wenn wir davon ausgehen, dass Jungs körperlich sind, heisst das auch, dass sie einen Zugang zu ihrem Körper finden müssen. Und das passiert auch häufig durch Überschreiten einer bestimmten Grenze. Wenn sie dem anderen richtig wehtun, wollen sie das in der Regel nicht. Das ist aber eine Lernerfahrung. Dann wissen sie hinterher: Wenn ich meinem Gegenüber zu fest in den Bauch boxe, dann tut ihm das weh, und das mache ich dann nicht nochmal. Jungen lernen aus ihren Fehlern, auch wenn man es oft nicht glaubt.
Man kann als Erwachsener solchen Prügeleien aber doch nicht einfach ihren Lauf lassen.
Natürlich müssen wir Erwachsenen angemessen reagieren. Dazu gehört aber auch ein gewisses Vertrauen, dass die Jungs schon wissen, was sie tun. Die liegen nicht morgens im Bett und überlegen: Was stelle ich heute an? Wem tue ich heute weh? Das ergibt sich aus der Situation heraus. Das ist das System Trial and Error. Wenn es dann wirklich zu weit geht, sieht man das als Aussenstehender oftmals im extrem angespannten Gesichtsausdruck. Wenn das Ganze in Wut und Hass ausartet, muss man spätestens eingreifen. Aber davor rate ich: ruhig mal machen lassen.
Sollen Eltern also akzeptieren, dass gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Jungen dazugehören?
Ich bin vollkommen gegen Gewalt. Aber ich gehe ganz stark davon aus, dass es eine Form von Gewaltprophylaxe ist, wenn Jungs sich körperlich messen dürfen. Eine generelle Anti-Aggressions-Haltung ist nicht hilfreich. Jungen müssen einen gesunden Umgang mit ihrer Aggression erlernen. Das muss in die richtigen Bahnen gelenkt werden.
Brauchen Jungen andere Regeln als Mädchen, um ein soziales Miteinander zu erlernen?
Wenn man sich das Gehirn oder die Art und Weise, wie Jungen die Welt sehen, anschaut, und das, was bildgebende Verfahren zeigen, analysiert, dann weiss man, dass Jungen sich eher auf eine Sache konzentrieren, als viele verschiedene Dinge wahrzunehmen und einzubeziehen. Das ist als Hintergrund wichtig, um zu klären, wie man mit Regeln und Grenzen bei Jungen umgeht.
Eltern müssen die Einhaltung von Regeln und Grenzen einfordern, wenn sie wirklich wichtig sind.
Es ist deshalb sinnvoll, einem Jungen glasklar zu sagen: «Das ist deine Grenze.» Punkt. Wenn ich sage, am Montag ist die Grenze da und am Dienstag unter anderen Bedingungen dort, und wenn es regnet, ist es noch ein bisschen anders und wenn es nicht regnet, wieder ein bisschen anders, dann kann vielleicht ein Mädchen damit irgendwie umgehen, aber ein Junge auf keinen Fall.
Das trifft auf einen sechsjährigen Jungen genauso zu wie auf einen 15-jährigen Teenager?
Alle Regeln müssen natürlich dem Alter angepasst werden. Einem Achtjährigen sage ich, dass er zu Hause sein muss, wenn es dunkel ist. Mit dem 15-Jährigen vereinbare ich gemeinsam eine Zeit. Die ist dann aber verbindlich. Das ist logisch. Ich frage dann: «Du, was hast du heute Abend vor?» – «Ja, das und das.» – «Okay. Alles klar. Wann bist du zu Hause?» – «Um 21 Uhr.» – «Okay, das passt. Morgen hast du Schule. Punkt 21 Uhr bist du zu Hause.» Wenn der dann nicht um 21 Uhr da ist, rufe ich um 5 nach an. «Was ist los? Du hast gesagt 21 Uhr.»
Und dann halten sich Jungen an die getroffenen Vereinbarungen?
Es ist eine Illusion, zu glauben, dass ein Junge sich dann auch an die Regeln hält. Der denkt nicht: «Oh, Mama oder Papa haben da vorne eine Grenze gesetzt. Da gehe ich mal lieber nicht hin.» Sehr viele Jungen werden, bildlich gesprochen, mit dem Fuss mal auf die Grenze tippen. Wenn nichts passiert, werden sie diese Grenze überschreiten. Das ist schliesslich abenteuerlich. Man tut etwas Verbotenes, Spannendes. Und wenn immer noch keine Reaktion kommt, hat das Kind und nicht der Erwachsene die Grenze verschoben und eine neue Grenze gesetzt.
Deshalb ist es auch wichtig, diese Grenzen, gerade bei jüngeren Jungen, einzufordern. Ich sage sogar: zu exekutieren. Das klingt hart. Aber man muss die Einhaltung von Regeln und Grenzen einfordern, wenn sie wirklich wichtig sind. Deshalb ist es auch ratsam, zu überlegen, wo ich eine Grenze setzen sollte. Schränke ich mein Kind damit zu sehr ein? Passt das? Regeln müssen passen.
Ein Bereich, in dem viele Eltern nicht genau wissen, wie sie Regeln setzen sollen, sind Onlinegames. Dieser Grenzgang scheint deutlich mehr Jungen als Mädchen zu betreffen.
Das hat verschiedne Gründe. Man weiss, dass die meisten Computerspiele nicht für Mädchen geschrieben werden. Vor zwei Jahren habe ich mich darüber intensiv mit einem Entwickler des Survival-Shooter-Games «Fortnite» ausgetauscht.
In Shooter-Games können Jungen ihren Drang nach Status, Macht und Wirksamkeit ausleben.
Der hat mir bestätigt, dass sein Unternehmen diese Programme im Hinblick auf eine Zielgruppe entwickelt: 10- bis 16-jährige Jungs. Die Firmen stellen Kinder- und Jugendpsychologen und sogar Suchtforscher ein, um ganz tief in das Gehirn der Jungs vorzudringen. Und das schaffen sie auch!
Warum verfallen so viele Jungen diesen Ego-Shooter-Spielen?
Weil sie in diesen Spielen wieder wirksam sein können. Weil sie dort den Drang nach Macht, Status, Wirksamkeit ausleben können. Weil sie in diesen Spielen zielstrebig sein können und mit dem Wunsch, etwas zu erreichen, Erfolge haben.
Mich erreichen ganz viele Anfragen im Sinne von: «Hey, mein Sohn gamt die ganze Zeit, sitzt nur am Computer, geht nicht raus, hat keine Freunde» und so weiter. Das hat ausschliesslich mit Selbstwertgefühl zu tun. Am Bildschirm kann er beweisen, wie toll er ist, mit einem anderen Namen und einer anderen Figur.
Eltern müssten demnach versuchen, Jungen das Gefühl von Wirksamkeit auch in der realen Welt zu ermöglichen.
Unbedingt. Es geht darum, am Selbstwertgefühl der Jungen zu arbeiten. Bei Onlinespielen werden auch Glückshormone wie Dopamin und Serotonin ausgeschüttet, wenn man irgendwelche neuen Levels erreicht. Und davon sind die Jungen abhängig. Man muss also einen Ausgleich, einen ähnlichen Effekt im realen Leben erzielen. Der passende Sport ist eine wunderbare Möglichkeit. Ein Kurs im Graffiti-Sprayen. Oder ein cooles Musikinstrument.
Ich empfehle Eltern manchmal einfach: Kauft eurem Sohn einen Boxsack, den ihr an die Wand schraubt. Tatsächlich geht der Gamekonsum oft schnell zurück. Statt sich, wenn sie frustriert sind, an den Computer zu setzen, um ihre Glückshormone zu bekommen, dreschen sie ein paar Mal auf den Boxsack. Die Hand tut dabei vielleicht ein bisschen weh, aber sie haben sich gespürt. Das tut gut.
Viele Männer halten sich nach wie vor aus der Care-Arbeit heraus. Wie wichtig sind männliche Vorbilder für Jungen?
Sie fehlen, wenn sie nicht präsent sind. Ich habe diese Erfahrung persönlich gemacht. Ich hatte einen Vater, zu dem ich keinen guten Kontakt hatte. Es gab keine männliche Nähe. Das hat mich in ein toxisches Rollenverständnis getrieben, das mir sehr geschadet hat. Ich habe mein Leben früher ausschliesslich nach messbarem Erfolg ausgerichtet – bis ich zusammengebrochen bin.
Jungs wünschen sich von uns mehr Verständnis für ihre Persönlichkeit und ihre Sicht der Dinge.
Ich habe mein Leben dann komplett neu aufgestellt. Seitdem arbeite ich mit Vätern und Söhnen an ihrem Verhältnis zueinander. Wenn die Jungs in meinen Coachings ein gewisses Alter erreicht haben, rate ich ihnen auch, sich selbst um das zu kümmern, was sie vermissen. Sie sollen zu ihren Vätern sagen: «Hey, Papa, ich möchte gerne Zeit mit dir verbringen.»
Was raten Sie den Vätern?
Kinder lernen durch Nachahmung. Wenn wir wollen, dass unsere Jungen liebevolle, zärtliche Männer werden, müssen sie das selbst im Alltag erfahren. Ab einem bestimmten Alter nehmen Väter ihre Söhne aber nicht mal mehr an die Hand. Nicht alle, aber extrem viele. Dabei haben pubertierende Jungen in der Regel auch weniger körperlichen Kontakt zu ihren Müttern. In dem Augenblick, wo sie ihre eigene Sexualität entwickeln, wenden sich viele Jungen von der mütterlichen Zärtlichkeit ab. Ab da fehlt eine gewisse Art von inniger Berührung.
Das ist die Zeit, in der Jungen den körperlichen Kontakt zum Vater suchen. Wenn sie den dann nicht bekommen, dann kriegen sie erst mal gar keine Berührung, weil sie in dem Alter auch meistens noch keinen Sexualpartner haben. Das prägt die Jungen ein Leben lang. Da entsteht einfach das Gefühl: Okay, ich bin nicht in Ordnung. Mein Körper ist nicht in Ordnung. Das kann später auch das sexuelle Verhalten der Partnerin oder dem Partner gegenüber nachhaltig prägen.
Sie haben in Coachingsitzungen unzählige Gespräche geführt, um herauszufinden, was Jungen bewegt und was sie sich wünschen. Was ist die Quintessenz? Was ist gerade besonders wichtig?
Die Jungen wünschen sich mehr Verständnis für ihre Persönlichkeit und ihre Sicht der Dinge. Wie Jungen sein sollen, wird durch gesellschaftliche Normen, durch Medien und die Eltern diktiert. Viele Eltern nehmen ihren Sohn nicht als den Menschen wahr, der er ist, sondern eher als den, der er in ihren Augen sein soll. Das entspricht nicht der Persönlichkeit des Jungen, seiner Einstellung, seinen Werten. Jungs wollen keinen Freibrief haben, dass sie alles tun und lassen können, was sie wollen. Aber sie wünschen sich mehr Offenheit und auch mehr Vertrauen.
Anton Wieser betreibt den Onlineblog «Boys Up – Das Magazin für Eltern von Jungs».
Vor Kurzem hat er das Buch «Boys Up! Das Eltern-Buch. Wie Jungs ticken und was sie sich von ihren Eltern wünschen» (mvg Verlag) veröffentlicht.