Aggressionen in der Familie
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren
Originaltitel «Ondt i familien», aus dem Dänischen übersetzt von Knut Krüger.
Aggressionen sind ein unerlässlicher Bestandteil menschlicher Beziehungen, sowohl innerhalb als auch ausserhalb der Familie. Sie sind kein Symptom dafür, dass eine Familie auseinanderbricht. Sondern ein Zeichen, dass sie lebt.
Früher suchte man die Erklärung für individuelle Probleme ausschliesslich innerhalb des Individuums – in Kindheitserlebnissen, chemischen Reaktionen im Gehirn oder anderen inneren Vorgängen.
Doch inzwischen richten auch die Experten unter uns ihre Aufmerksamkeit auf die innerfamiliären Beziehungen. Was allein noch kein Fortschritt ist, solange wir uns nicht von der althergebrachten Auffassung lösen, irgendwas sei verkehrt oder nicht in Ordnung, wenn es uns schlecht geht. Denn das hiesse, die Familie als Wurzel alles Bösen zu betrachten, als Ort, an dem all unsere Probleme ihren Ursprung haben – ein Gedanke, der ebenso nutzlos wie «antifamiliär» ist.
Kein Defekt, sondern ein Mangel
Die Erfahrung der letzten vierzig Jahre lehrt uns, dass nichts «verkehrt» ist, wenn es zu Schulproblemen, Depressionen oder Alkoholismus kommt, sondern dass etwas fehlt. Dieser Mangel als Element des Zusammenspiels in der Familie wurde schlicht übersehen beziehungsweise seine Behebung nicht als notwendig erachtet. Den Problemen liegt der unerfüllte Wunsch zugrunde, füreinander von Wert zu sein.
Dieses elementare Bedürfnis löst vor allem zwei Dinge aus: zum einen den starken Drang zur Kooperation, zum anderen eine ausgeprägte Loyalität. Kooperation muss auf Augenhöhe geschehen. Auch das machte uns die Frauenbewegung klar, die sich gegen die oftmals neurotischen Formen weiblicher Kooperation auflehnte: Ich tue, worum du mich bittest, weil du mich bittest, nicht weil ich es selbst will. Die Kunst der Kooperation besteht eben darin, seine Eigenart und Autonomie zu bewahren, mit anderen Worten, unsere persönliche Integrität.
Kinder bringen Eltern ein Maximum an Loyalität entgegen. Deshalb treten innerfamiliäre Konflikte oft nicht zu Hause auf.
Loyalität ist bei Kindern besonders ausgeprägt. Kinder bringen ihren Eltern ein Maximum an Loyalität entgegen. Deshalb treten innerfamiliäre Konflikte oft nicht zu Hause, sondern in der Schule oder in anderen Betreuungseinrichtungen zutage.
Pädagogen, die von Problemen berichten, die Eltern gänzlich unbekannt sind, wird oft mit grosser Skepsis begegnet. Doch in der Regel bringen sie wichtige Themen zur Sprache, welche die Eltern nicht wahrnehmen, weil die Kinder einfach zu loyal sind, ihre Konflikte in den eigenen vier Wänden auszutragen. Das gilt insbesondere für Familien, deren Streit- und Konfliktkultur nicht sehr ausgeprägt ist.
Was es bedeutet, sich wertvoll für andere zu fühlen, kennen die meisten von uns durch das Verhältnis zu unseren Kindern, da es für uns von zentraler Bedeutung ist, sich als gute Eltern zu empfinden. Unser Bedürfnis, sich als gute Partner und Freunde zu sehen, ist jedoch nicht minder ausgeprägt.
Signale für Störungen
Nur haben wir nicht unbedingt gelernt, wie wir uns verhalten müssen, damit andere uns auch als wertvoll empfinden. Manchmal kommt uns etwas in die Quere, das verhindert, dass wir uns wertvoll verhalten. Das passiert selbst in nahezu idealen Familienverhältnissen. Manchmal kommen diese Störungen von aussen – etwa durch Arbeitslosigkeit oder schwierige Lebensverhältnisse im Allgemeinen – und belasten Familien ohne deren Zutun.
Solche Störungen lösen Symptome oder Signale aus. Wir kennen die offensichtlichsten Symptome wie Nahrungsverweigerung, Kriminalität oder Untreue, doch sollten wir uns vergegenwärtigen, dass Familienmitglieder weitaus weniger dramatische Signale aussenden können, die oftmals viel früher einsetzen. Es beginnt mit einer leichten Gereiztheit, aus der alle Gefühle erwachsen können, die wir gemeinhin als Aggression bezeichnen: Irritation, Frustration, Zorn, Wut bis hin zu glühendem Hass.
Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass. Das Gegenteil von Liebe ist Resignation.
In psychologischer Hinsicht handelt es sich hierbei nicht, wie viele glauben, um negative oder destruktive Gefühle. Sie alle sind ein Teil der Liebe in der Familie, nicht ihr Gegenteil. Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass. Das Gegenteil von Liebe ist Resignation.
Signale treten nicht immer in ihrer reinen Form zutage. Kinder zwischen vier und sechs Jahren bis hin zur Pubertät reagieren am Morgen oft mit Müdigkeit, Appetitlosigkeit und Unausgeglichenheit, vor allem, wenn es sich um Einzelkinder handelt. Geschwister hingegen «ziehen es oft vor», sich zu streiten oder zu schlagen.
Unterdrückte und reine Emotionen
Auch bei Erwachsenen äussert sich die erste Irritation oft indirekt. Viele Frauen haben beispielsweise gelernt, dass es nicht sehr feminin sei, ihrer Wut freien Lauf zu lassen. Also zeigen sie sich verletzt und bedrückt. Männer, die ihre wahren Gefühle unterdrücken, werden oft mürrisch, wortkarg und missmutig.
Dennoch treten unsere Emotionen am häufigsten in ihrer reinen Form zutage. Alle Familien kennen Phasen einer allgemeinen Gereiztheit. Man gerät schnell aneinander, streitet sich scheinbar ohne Grund, trägt immer wieder dieselben Konflikte aus.
Wenn das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern von aggressiven Gefühlen beherrscht wird, sollte man sich klarmachen, dass 99,9 Prozent der Eltern ihre Kinder über alles in der Welt lieben. Und es gibt keine Kinder, die ihre Eltern nicht über alles lieben. Natürlich gibt es Familien, in denen dies schwer zu erkennen ist, weil sich alle so verhalten, als könnten sie sich nicht ausstehen. Oft ist das ein Zeichen dafür, dass ihr Bedürfnis, sich als wertvoll für die anderen zu empfinden, nicht befriedigt wird, was ein frustrierendes Erlebnis ist.