Hilfe, mein Kind tickt aus!

Peter, 56, aus Luzern, macht sich grosse Sorgen. Die Wutausbrüche seiner Tochter eskalieren immer öfter. Sie entgleitet uns zunehmend, schreibt er unseren Experten. Braucht die Familie professionelle Hilfe?
Eine Frage – drei Meinungen
Unsere elfjährige Tochter tickt immer öfter aus. Sie hatte bereits als kleines Kind heftige Wutausbrüche, aber jetzt wird es noch schlimmer. Ein Beispiel: Sie möchte, dass ihre Freundin bei ihr übernachtet. Wir sagen Nein, begründen dies, bieten an, gerne nächste Woche. Unsere Tochter flippt aus, weint, schreit uns an. Im Zimmer geht es weiter, sie schmeisst den Stuhl durch die Gegend, wirft sich auf den Boden, das ganze Programm. Das kann mehrere Stunden dauern. Ich finde, wir brauchen psychologische Unterstützung, weil uns unsere Tochter entgleitet. Meine Frau hat Angst vor diesem Schritt. Was raten Sie uns?
Peter, 56, Luzern
Das sagt unser Expertenteam:

Es ist nicht einfach, zu lernen, dass die Welt nicht immer so funktioniert, wie man gerne möchte. Hinter Wut ist oftmals viel Frust und Ohnmacht verborgen. Und dafür darf man Verständnis haben. Was hilft? Ruhe, Standhaftigkeit, Geduld. Im Moment der Wut können Sie nicht viel tun. Lassen Sie Ihrer Tochter Zeit, sich zu beruhigen. Sprechen Sie erst dann wieder miteinander, wenn alle ruhig sind. Hören Sie ihr zu, teilen Sie auch Ihre Ansicht und Meinung. Wenn Sie das Gefühl haben, dass sich die Situation nicht ändert, die Beziehung zueinander zu zerbrechen droht und Sie überfordert sind, suchen Sie Hilfe.

Bei uns schreit, tobt und wütet es ebenso – ich habe ein Kind im gleichen Alter. Für die Aussetzer mache ich gerne den Umbau im Gehirn unseres Sohnes verantwortlich. Auf der Grossbaustelle herrscht viel Betrieb, die Synapsen werden neu geschlossen – da kann es schon mal zu Kurzschlüssen kommen. Trotzdem: Nehmen Sie Ihre Tochter ernst und beziehen Sie sie unbedingt ins Gespräch mit ein. Worauf führt sie selbst ihre Ausbrüche zurück? Ist sie – wie mein Sohn – nicht gerne fremdbestimmt? Hat sie Ideen, wie Sie als Familie Streit vermeiden können? Geben Sie Ihrer Tochter etwas Macht zurück und schauen Sie, was es mit ihr macht.

Ich rate zu einer psychologischen Abklärung Ihrer Tochter. Und zu einer Beratung für Sie selbst. Die Reaktionen Ihrer Tochter übersteigen das, was man als individuelles Temperament bezeichnen kann, bei Weitem und scheinen mir dringend behandlungsbedürftig. Lassen Sie sich dabei von den in den Medien herumgeisternden Meldungen über die schädliche Psychopathologisierung «ganz normaler Kinder», die man mit Medikamenten «vollpumpt» und «ruhigstellt», nicht ins Bockshorn jagen. Ritalin oder Concerta sind keine Zeltli, aber auch keine Teufelsdrogen..
Das Expertenteam:
- Annette Cina, 51, arbeitet am Institut für Familienforschung und -beratung der Universität Freiburg. In ihrer eigenen Praxis berät die Psychologin, Psychotherapeutin und dreifache Mutter Jugendliche und Erwachsene. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die Prävention von kindlichen Verhaltensstörungen, Paarkonflikte, Kindererziehung und Stress.
- Andrea Jansen, 44, ist Gründerin der Elternplattform Mal-ehrlich.ch. Die Journalistin, Unternehmerin und Stiftungsrätin war früher Fernsehmoderatorin und Produzentin bei SRF. Andrea Jansen hat drei Kinder im Alter von 7, 9 und 11 Jahren. Sie lebt mit ihrer Familie auf Hawaii und in Zürich.
- Peter Schneider, 66, ist Psychoanalytiker, Kolumnist und Satiriker. War mal Professor für Pädagogische und Entwicklungs-Psychologie an der Uni Bremen, ist immer noch Privatdozent für Klinische Psychologie an der Uni Zürich. Vater und Ehemann eines erwachsenen Sohnes und einer erwachsenen Frau aus und in erster Ehe.
In dieser Rubrik beantworten Expertinnen und Experten Ihre Fragen zu Erziehung und Alltag mit Kindern.
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