Psychische Gewalt: Narben auf der Seele - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Psychische Gewalt: Narben auf der Seele

Lesedauer: 11 Minuten

Jedes vierte Kind in der Schweiz erlebt regelmässig psychische Gewalt durch die Eltern. Manche dieser Gewaltformen sind so subtil, dass Eltern sie gar nicht als solche erkennen. Wo also beginnt psychische Gewalt, und wie schärfen wir unseren Sinn dafür?

Text: Virginia Nolan
Bilder: Anne Gabriel-Jürgens und Désirée Good  / 13 Photo

Für das vorliegende Dossier besuchten die Fotografinnen Anne Gabriel-Jürgens und Désirée Good drei Familien in den Kantonen Bern und Aarau.

Es sind weder die ­Ohrfeige noch der Klaps auf den Po, die zuoberst auf der Liste stehen. Die häufigste Gewaltform, die Kinder in der Schweiz erleben, zielt nicht auf ihren Körper – sie tut in der Seele weh. «Psychische Gewalt ist meist weniger gut sichtbar als körperliche Misshandlung und deshalb schwerer zu identifizieren», sagt Dominik Schöbi, Psychologe und Familienforscher an der Universität Freiburg. «Dies ist einer der Gründe dafür, weshalb sie noch immer kaum im Fokus der öffentlichen Diskussion steht und vergleichsweise seltener Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen ist als körperliche Gewalt.» 

Dabei besteht durchaus Handlungsbedarf, wie Befragungen zeigen, die Schöbi und sein Team von 2017 bis 2020 im Auftrag der Stiftung Kinderschutz Schweiz durchführten. An der daraus resultierenden «Studie zum Bestrafungsverhalten von Eltern in der Schweiz» aus dem Jahr 2020 beteiligten sich insgesamt über 3500 Eltern aus allen Sprachregionen. Die Untersuchung zeigt: Jedes zwanzigste Kind wird von seinen Eltern wiederholt körperlich bestraft – psychische Gewalt erlebt sogar jedes vierte regelmässig, also wöchentlich.

Die Kleinsten leiden am meisten

Kleinkinder und Kinder im Vorschulalter sind sowohl von körperlicher als auch psychischer Gewalt durch die Eltern häufiger betroffen als Schulkinder oder Jugendliche. «Aber im Gegensatz zu körperlichen Strafen», sagt Familienforscher Dominik Schöbi von der Universität Fribourg, «nimmt der Einsatz von psychischer Gewalt mit steigendem Alter der Kinder nicht ab.» Aus der Wissenschaft geht ebenfalls hervor, dass die Folgen gewaltsamer Erziehungshandlungen für jüngere Kinder insgesamt gravierender sind als für ältere. «Ein möglicher Grund dafür ist die noch wenig fortgeschrittene Entwicklung von Kleinkindern», sagt Schöbi. «Die fehlende Reife führt dazu, dass sie sich weniger vor Gewalt schützen und dagegen wehren können. Weiter sind in diesem Alter die Eltern oft die einzigen Bezugspersonen. Kommt die Gewalt von ihnen, hat das Kind keine andere Ansprechperson, die ihm helfen kann.»

Was aber genau ist unter psychischer Gewalt zu verstehen? Wo beginnt sie, und was unterscheidet sie von Konflikten, die in der Eltern-Kind-Beziehung nun einmal dazugehören? Welche Folgen hat sie auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen? Muss sich jetzt ­Sorgen machen, wer als Eltern ­zwischendurch die Nerven verliert – und dann zetert, mit «Wenn-Dann»-Szenarien droht oder das Weinen des Kindes als Theater abtut?

Die häufigste Gewaltform, die Kinder erleben, zielt nicht auf ihren Körper – sie tut in der Seele weh.

Eines steht fest: Psychische Ge­walt gegenüber Kindern betrifft nicht nur sogenannte Problemhaushalte, sondern uns alle. Und sie kommt mitunter in so subtiler Form daher, dass viele Eltern sie nicht als Gewalt wahrnehmen. Es lohnt sich also, genau hinzusehen.

Was ist psychische Gewalt?

Die Fachliteratur kennt keine einheitliche Definition von psychischer Gewalt in der Erziehung; Aspekte davon werden je nach Untersuchung anders ausgelegt oder gewichtet. «Zusammenfassend könnte man sie als wiederholtes Muster von schädlichen Interaktionen zwischen Eltern und Kind bezeichnen», sagt Schöbi.

Weit verbreitete Form psychischer Gewalt: Dem Kind die kalte Schulter zeigen.

Besonders häufig trete psychische Gewalt an Kindern in Form von verbalen Aggressionen auf. Das zeigt auch die von ihm geleitete Kinderschutzstudie. Für gut 40 Prozent der Mütter und Väter, die angaben, regelmässig psychische Gewalt anzuwenden, bedeutet dies, das Kind heftig zu beschimpfen oder ihm «mit Worten wehzutun». Weitere 30 Prozent drohen regelmässig mit Schlägen und rund 20 Prozent praktizieren Liebesentzug: Sie sagen dem Kind, sie hätten es nicht mehr gern, oder vermitteln ihm das Gefühl mit Gesten der Zurückweisung. Ins Repertoire der psychischen Strafen gehört für befragte Eltern auch, das Kind über längere Zeit in ein Zimmer einzusperren (15 Prozent) sowie die Drohung, es allein zu lassen (20 Prozent) oder wegzugeben, wenn es sich nicht bessert (10 Prozent).

Das Wichtigste zum Thema

Demütigungen, Drohungen, Liebesentzug: Eltern verletzen ihr Kind oft auch ohne Schläge. Doch im Gegensatz zu handfesten Aggressionen ist psychische Gewalt weniger gut sichtbar und daher kaum in der öffentlichen Diskussion angekommen. Dabei betrifft das Phänomen nicht nur sogenannte Problemhaushalte, sondern uns alle.

Studien zeigen: Jedes vierte Kind hierzulande erlebt regelmässig psychische Gewalt durch die Eltern. Meist beabsichtigen diese nicht, dem Kind wehzutun, sondern lassen sich unter Druck dazu hinreissen. Und manche Gewaltformen sind so subtil, dass Mütter und Väter sie gar nicht als solche erkennen. Wo beginnt psychische Gewalt im Alltag, und wie schärfen wir unseren Sinn dafür? Unser Dossier zum Thema gibt Antworten.

Gewalt kommt auch ohne laute Worte und Schläge aus

Anna weiss, wie sich psychische Gewalt anfühlt. Anna, die eigentlich anders heisst, ist 36 Jahre alt und hat zwei Buben im Primarschulalter. Ihre Eltern hätten ihr früh ver­mittelt, was sich für ein Mädchen ­gehöre. «Wenn sie mich gegen diese Ideale verstossen sahen, beispielsweise, indem ich ihnen widersprach oder mich falsch kleidete, bestraften sie mich mit Schweigen», sagt Anna. «Versuche, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, blockten sie ab. Manch­mal wiesen sie meine Brüder an, es ihnen gleichzutun. Einmal sprach zu Hause einen Monat lang niemand mit mir.» 

Ihr Erziehungsziel, sagt Anna, bestehe darin, es anders zu machen als ihre Eltern: «Sie vermittelten mir das Gefühl, ein Nichts zu sein. Freunden und meinem Partner habe ich es zu verdanken, dass ich mir ein gewisses Selbstwertgefühl erarbeiten konnte. Leider merke ich im Umgang mit meinen Jungs, wie fragil dieses ist. Wenn sie nicht auf mich hören, hat mich die Ohnmacht schnell und ich denke: Du bist denen egal. In solchen Momenten muss ich mir vergegenwärtigen: Die Kinder meinen es nicht böse. Sonst brauche ich manchmal Stunden, bis ich wieder auf sie zugehen kann.»

Viele Eltern praktizieren Liebesentzug: Sie sagen dem Kind, sie hätten es nicht mehr gern.

Kindern die kalte Schulter zu zeigen, ist eine weit verbreitete Form von psychischer Gewalt, weiss Psychologin Annette Cina aus ihrer Arbeit mit Familien. Meist handelten Eltern so, weil sie glaubten, das Kind wolle ihnen mit seinem Widerstand absichtlich schaden. Nicht selten steckten hinter dieser Schlussfolgerung Verletzungen aus der eigenen Kindheit, die nachhallten: Die Erfahrung beispielsweise, kein Gehör zu finden, als dumm hingestellt und nicht respektiert zu werden. «Ein Kind, das sich querstellt, kann solche Emotionen wieder aufbranden lassen», sagt Cina, «indem es nicht hinhört, unsere Bedürfnisse ignoriert, keinen Respekt zeigt. Schlimmstenfalls fühlen sich Mütter und Väter dadurch in Situationen zurückversetzt, die sie aus schmerzlicher Erfahrung mit den eigenen Eltern kennen.» 

Dann sei entscheidend, ob es Eltern gelinge, den Widerstand des Kindes als Ausdruck seiner Überforderung einzuordnen, statt ihn auf die eigene Person zu beziehen. In der eigenen Hilflosigkeit liege es oft näher, das Kind spüren zu lassen, was sein Verhalten mit einem macht, und ihm dieses in derselben Währung heimzuzahlen, sei es durch Nichtbeachtung, Abwertung oder Schimpftiraden. «Die Strategie der Wahl ist nicht selten jene, die einem die eigenen Eltern vorlebten», stellt Cina fest. «Diese Verhaltensmuster prägen Menschen. Wenn die Emotionen hochkochen, wirken sie wie Automatismen und sind schwer zu stoppen.» Zumal der damit verbundene «Erfolg» für sich spreche, wenn das Kind nach emotionaler Eiszeit oder demütigenden Worten der Eltern um deren Gunst buhle, weil es sich vor einer Wiederholung einer schmerzhaften Erfahrung fürchte.

Wenn Eltern wiederholen, was sie selbst erlebten

Der erste Schritt, solche Muster zu durchbrechen, liege darin, sich ihrer bewusst zu werden, sagt Cina. Sie empfiehlt Eltern, sich dafür in einem ruhigen Moment mit folgender ­Frage auseinanderzusetzen: In welchen Situationen löst mein Kind diese starken negativen Gefühle in mir aus, und warum? «Oft geht es dabei im Kern um grundlegende eigene Bedürfnisse, etwa nach Anerkennung und Zugehörigkeit oder der Erfahrung, etwas bewirken zu können», weiss Cina. «Festzustellen, dass einem da möglicherweise etwas fehlt, kann schmerzhaft sein. Aber es eröffnet Eltern die Möglichkeit, neue Wege einzuschlagen und etwas für sich selbst zu tun, statt vom Kind Kompensation einzufordern.» Denn es seien die Erwachsenen, die handeln und sich im Umgang mit herausfordernden Erziehungssituationen alternative Strategien aneignen müssten: «Die Eltern sind für die Beziehung zum Kind verantwortlich, nicht umgekehrt.»

Psychische Gewalt gegen Kinder betrifft uns alle.

Eltern wiederholen oft, was sie als Kind selbst erlebt haben, weiss Wissenschaftler Schöbi. Aber auch andere Faktoren machen sie anfällig für gewaltsame Erziehungshandlungen – Stress zum Beispiel scheint im Hinblick auf psychische Gewalt eine Schlüsselrolle zu spielen. «Wir haben festgestellt, dass sogenannte Makrostressoren wie finanzielle, gesundheitliche oder berufliche Probleme Eltern nicht häufiger zuschlagen lassen», sagt Schöbi, «das Risiko für psychische Gewalt in der Erziehung hingegen erhöhen.» 

Dabei ist laut Dominik Schöbi gar nicht so entscheidend, welche Art von Stressoren im Spiel sind, sondern vielmehr die Tatsache, dass sie alle zum gleichen Resultat führen: Die Eltern stehen unter Druck, ihre Ressourcen sind stark beansprucht. «Dann kann alltäglicher Knatsch das Fass zum Überlaufen bringen», sagt Familienberaterin Cina. Auslöser sind ihr zufolge oft wiederkehrende Streitpunkte, die Eltern an besseren Tagen mit Fassung tragen, sie an schlechten jedoch zur Weissglut treiben können: ständige Widerworte, aufgeschobene Hausaufgaben, mangelnde Hilfe im Haushalt. «Die Eltern merken, dass eine erzieherische Herausforderung ansteht», sagt Cina, «aber es fehlt ihnen an Zeit, Ruhe oder Wissen, um die Sache einigermassen besonnen anzugehen.» Das sind laut der Expertin typische Momente, in denen ­verbale Gewalt ins Spiel kommt.

«Bist du zu dumm dafür?»

Etwa in Gestalt einer Drohung, wenn der Fünfjährige vom Spielplatz nicht nach Hause will: «Ich gehe jetzt gleich ohne dich heim!» Wenn Eltern genervt sind, kommen ihnen auch demütigende Worte leichter über die Lippen: «Das kann doch nicht so schwer sein», sagt der Vater zu seiner Zwölfjährigen, die sich weigert, Hausaufgaben zu machen. Vielleicht doppelt er nach: «Bist du etwa zu dumm dafür?» 

«Was den Vater in dieser ­Situation vielleicht am meisten stresst», weiss Cina, «ist sein Unvermögen, einem wiederkehrenden Problem beizukommen: Die Tochter erledigt ihre Hausaufgaben nicht. Vielleicht scheut der Vater die damit verbundenen Umstände und Konflikte, vielleicht erkennt er nicht, dass sie überfordert ist. Jedenfalls wird das Problem der Tochter zu seinem eigenen, er kann es aber nicht lösen – um diese Hilflosigkeit zu kaschieren, wertet er das Kind ab.»

Stress zum Beispiel scheint im Hinblick auf psychische Gewalt eine Schlüsselrolle zu spielen.

Wie kommt das bei der Tochter an? «Der Vater erniedrigt sie und unterwandert die Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls», sagt Franz Ziegler, Psychologe, Heilpä­dagoge und Kinderschutzexperte. Was macht die Mutter mit ihrem Kleinkind, wenn sie ihm droht, davonzulaufen? «Sie schürt Angst, die das Vertrauen des Kindes zu ihr infrage stellt, und macht sich erst noch unglaubwürdig», sagt Ziegler. «Am Ende lässt ja niemand sein Kind wirklich auf dem Spielplatz zurück.» 

Wo die Gewalt anfängt

Für den Kinderschutzexperten beginnt psychische Gewalt da, wo Eltern die Entwicklung eines gesunden Selbstvertrauens und das Vertrauen des Kindes in seine Bezugspersonen untergraben. Zum Beispiel, indem sie ihre Liebe an Bedingungen knüpfen – wie etwa der Vater, der nach einem fruchtlosen Überzeugungsversuch beschliesst, sein Kind anzuschweigen, bis es sein Zimmer aufgeräumt hat. «Er vermittelt dem Kind, das es seine Zuneigung nicht auf sicher hat», sagt Ziegler. «Die Botschaft lautet: Ich trete erst wieder in Kontakt mit dir, wenn du dein Zimmer aufgeräumt hast. Das ist eine Form von Erpressung.»

Ist das jetzt schon Gewalt? Fragt sich schnell, wer seine Strategien mit dem Nachwuchs überdenkt. Die Antwort darauf ist komplex. Denn im Gegensatz zu handfesten Aggressionen, die ein Kind physisch spürt, lässt sich bei Erziehungshandlungen, die ohne Körpereinsatz auskommen, weniger trennscharf abgrenzen, ob sie als Gewalterfahrung einzustufen sind. «Bei psychischer Gewalt fallen die subjektive Komponente und der Kontext stärker ins Gewicht als bei körperlicher», sagt Ziegler. Sprich: Es kommt darauf an, wer in welcher Situation was und wie sagt oder tut.

Fehler passieren ständig, sie gehören zur Erziehung. Auch das sollten ­Eltern wissen.

Franz Ziegler, Psychologe

«Manchmal könnt ich dich glatt verkaufen» – es kann sein, dass dieser Satz einer Mutter die Tochter zum Kichern bringt, weil die Mutter ob einem Streich des Kindes zwar die Augen verdreht, dann aber herzhaft lacht. Der gleiche Satz mag wie ein Schlag in die Magengrube wirken, wirft ihn die Mutter dem Kind aus Ärger an den Kopf. Psychische Gewalt, weiss Ziegler, geht vom unbedachten Nebensatz – «Kapierst du das nie?» – bis zur unmiss­verständlichen Botschaft: «Ich ­wünschte, du wärst tot.» Gemein sei allen Formen, dass sie dem Kind ein Gefühl von Minderwertigkeit oder Wertlosigkeit vermitteln. «Es ist wichtig, dass Eltern ihren Sinn dafür schärfen, was sie mit Worten und Gesten bewirken», sagt Ziegler. Gleichzeitig betont er: «Fehler passieren ständig, sie gehören in der Erziehung dazu. Auch das sollten Mütter und Väter wissen. Nicht jedes Ungeschick zeitigt Folgen. Kinder sind in der Regel sehr widerstandsfähig.»

Die Folgen von psychischer Gewalt

Gibt es Formen von psychischer Gewalt, die schwerer wiegen als andere? «Das lässt sich nicht verallgemeinern», sagt Schöbi. «Was die verschiedenen Formen von gewaltsamen Erziehungshandlungen gemeinsam haben: Sie untergraben langfristig die emotionale Sicherheit des Kindes, die es für seine Entwicklung braucht.» 

Eltern müssen sich bewusst sein, was sie mit Worten und Gesten bewirken.

Am Beispiel seiner Bindung zu den Eltern lerne ein Kind, wie Beziehungen funktionierten und was es von anderen erwarten könne. Ob es seine engsten Bezugspersonen als zugewandt, verlässlich und liebevoll oder als distanziert, unberechenbar oder abweisend erlebe, fördere oder schwäche entsprechend seine emotionale Sicherheit, die das Selbstbild des Kindes und später auch sein Bindungsverhalten als Erwachsener präge. «Emotional stabile Menschen sind in ihren Beziehungen in der Regel zufriedener», sagt Schöbi, «während solche, denen diese Sicherheit fehlt, oft Mühe haben, selbst mit kleinsten Unstimmigkeiten angemessen umzugehen, weil sie diese auf sich selbst beziehen und dann beispielsweise auf Distanz gehen. Dieses Verhalten kann eine Beziehung langfristig belasten.»

Erfahrungen mit wiederkehrender psychischer Gewalt in der Kindheit beeinflussen unter Umständen aber nicht nur die Beziehungen, die ein Kind später pflegt, sondern auch seine Fähigkeit, die eigenen Gefühle zu regulieren. Auf diesem Weg führe mangelnde emotionale Sicherheit nicht direkt zu psychischen Störungen, «aber sie erhöht die Anfälligkeit dafür», sagt Schöbi. Im Fokus stehe hier ein erhöhtes Risiko für Depressionen sowie Angststörungen und Suchterkrankungen. 

Keine Frage der Herkunft

Die Forschung zeigt: Psychische Gewalt an Kindern betrifft nicht nur sogenannte Problemhaushalte, sondern alle sozialen Schichten. Dies spiegelt auch der Befund der «Studie zum Bestrafungsverhalten von Eltern in der Schweiz»: Im Gegensatz zu Körperstrafen, auf die im Schnitt öfter jüngere Eltern, solche mit mehreren Kindern oder jene mit Migrationshintergrund zurückgreifen, zeigen sich im Fall von psychischer Gewalt keine vergleichbaren Zusammenhänge. Gemein ist allerdings beiden Gewaltformen, dass sie bei Eltern mit höherem Bildungsstand weniger zum Einsatz kommen – dies, so die Forscherinnen und Forscher, zeige sich im Fall von psychischer Gewalt noch deutlicher als bei körperlicher.

Ob solche Probleme auch einträten, hänge stark von der Widerstandsfähigkeit des Kindes ab. «Hier kommt es darauf an, auf welche Ressourcen es zurückgreifen kann. Hat das Kind verlässliche Vertrauenspersonen ausserhalb der Kernfamilie, kann dies Belastungen abfedern und seine Resilienz stärken», sagt Schöbi. «Wie widerstandsfähig ein Kind ist, entscheidet aber nicht zuletzt, was es von Natur aus mitbringt. Da kommen auch die Gene mit ins Spiel.»

Gewaltsame Erziehungshandlungen untergraben die emotionale Sicherheit des Kindes.

Dominik Schöbi, Sozialforscher

«Eine der wichtigsten Erkenntnisse ist, dass Gewaltanwendung durch die Eltern in erster Linie nicht im Rahmen einer absichtsvollen Erziehungshandlung geschieht. Vielmehr lassen sich Eltern in schwierigen, stressigen Erziehungssituationen zu gewaltsamen Handlungen hinreissen», resümieren die Autoren der Kinderschutzstudie. «Meistens wollen sie ihren Kindern also nicht von vornherein Gewalt antun. Geschieht es trotzdem, fühlen sich Eltern deswegen schlecht und bereuen ihre Tat.» Gerade der in der Deutschschweiz so häufig praktizierte Liebesentzug reflektiere dies eindrücklich, findet Studien­autor Schöbi. «Vermutlich ist diese Massnahme deshalb so geläufig, weil sie aus Sicht vieler Eltern eine Einflussnahme darstellt, von der sie denken, sie setze dem Kind nicht zu.» Ein Trugschluss, über den Eltern im Affekt nicht nachdenken. Weil sie auch nur Menschen sind – vielfältigen Belastungen ausgesetzt und geprägt von eigenen Erfahrungen, die nicht immer hilfreich sind.

«Wenn Eltern gelegentlich die Nerven verlieren, ist das per se kein Drama», sagt die Psychologin Annette Cina.

Kommt es zum Kurzschluss, zu Schimpftiraden, Drohungen, Liebesentzug oder verbalen Entgleisungen dem Kind gegenüber, ist das noch keine Tragödie. Oder wie es Annette Cina formuliert: «Wenn Eltern gelegentlich die Beherrschung verlieren, ist das per se kein Drama, solange dahin­gehend keine Routine einkehrt und sie ihrem Kind grundsätzlich liebevoll zugewandt sind.» Und Dominik Schöbi ergänzt: «Problematisch ist es, wenn solche Ereignisse zum Programm werden. Wenn Kinder durch Erfahrung lernen, dass die Zuwendung der Eltern weder stabil noch selbstverständlich ist, sondern auf wackligen Beinen steht und erst mal verdient werden muss.»

Anlaufstellen und Informationen

Schweizer Elternnotruf
Fachpersonen bieten während 24 Stunden kostenlos Beratung und Hilfe bei Erziehungsfragen, Konflikten und Krisen in der Familie – für Eltern, Familien und Bezugspersonen, per Telefon, E-Mail oder im ­persönlichen Gespräch.
www.elternnotruf.ch oder 0848 35 45 55 (Festnetztarif)

Pro Juventute Elternberatung
Die Elternberatung von Pro Juventute unterstützt Mütter und Väter kostenlos bei kleinen und grossen Sorgen in Sachen Erziehung, Entwicklung, Betreuung und Familienorganisation – rund um die Uhr per Telefon sowie per Chat oder E-Mail.
www.projuventute.ch/de/elternberatung oder 058 261 61 61

Wissenswertes rund ums Thema
Auf der Website von Kinderschutz Schweiz klärt die gleichnamige Stiftung in verständlicher Sprache über unterschiedliche Formen der Gewalt in der Erziehung auf, ebenfalls gibt es weiterführende Lektüre sowie eine Übersicht zu Präventionsangeboten und Kursen für Eltern. www.kinderschutz.ch

Virginia Nolan
ist Redaktorin, Bücherwurm und Wasserratte. Sie liebt gute Gesellschaft, feines Essen, Tiere und das Mittelmeer. Die Mutter einer Tochter im Primarschulalter lebt mit ihrer Familie im Zürcher Oberland.

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