Wenn zwei sich streiten, leidet das Schulkind -
Merken
Drucken

Wenn zwei sich streiten, leidet das Schulkind

Lesedauer: 4 Minuten

Lehrpersonen erleben noch häufiger Konflikte mit Eltern als mit den Schülerinnen und Schülern. ­Die betroffenen Kinder geraten dann in einen Loyalitätskonflikt, der Hilflosigkeit und Sorgen auslöst.

Text: Christian Hugi
Bild: Adobe Stock

Gewalt kommt in unserer Gesellschaft leider immer wieder, an ­vielen verschiedenen Orten, in verschiedenster Ausprägung und in unterschiedlichen Situationen vor. Auch Lehrpersonen machen in ihrem Berufsalltag Gewalterfahrungen.

Der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz wollte genauer hinschauen und fragte die Lehrpersonen in der Deutschschweiz 2022 im Rahmen einer repräsentativen Studie, ob und in welcher Form sie in den letzten fünf Jahren Gewalt erlebt haben.

Zusammenarbeit ist ­mehrheitlich nicht konfliktbehaftet

Über 6700 Lehrpersonen und andere Fachpersonen aller Schulstufen aus der gesamten Deutschschweiz beteiligten sich. Grossmehrheitlich berichteten die befragten Lehrerinnen und Lehrer von psychischer Gewalt in Form von Beleidigungen, Beschimpfungen, Drohungen oder Einschüchterungen.

Am häufigsten gingen diese von Erziehungsberechtigten aus (36 Prozent). Zwar üben auch Schülerinnen und Schüler aus der eigenen Klasse häufig Druck aus, mit 34 Prozent der Nennungen aber etwas weniger als die Eltern. Mit deutlichem Abstand folgen Meldungen über Erlebnisse, bei denen die Gewalt vom Arbeitskollegium (15 Prozent) oder von Vorgesetzten (11 Prozent) ausgeht.

Lassen Sie mich das einordnen und ins Verhältnis setzen: Zwei Drittel der Lehrpersonen gaben an, dass sie in den zurückliegenden fünf Jahren mindestens eine Gewalterfahrung in Zusammenhang mit ihrem Beruf gemacht haben. Zu je rund einem Drittel verteilen sich diese auf Gewaltanwendungen, die von den Erziehungsberechtigten oder den Schülerinnen und Schülern ausgingen.

Es dürfte unbestritten sein, dass grundsätzlich jeder einzelne Vorfall einer zu viel ist. Trotzdem aber bedeutet das nicht, dass die Zusammenarbeit mit den Eltern oder der Unterricht mit den Kindern und Jugendlichen mehrheitlich konfliktbehaftet oder von Gewalt dominiert ist.

Streit zwischen Lehrpersonen und Eltern belastet die Kinder

Bei einer durchschnittlichen Klassengrösse von 25 Schülerinnen und Schülern und über einen Zeitraum von fünf Jahren unterrichtet eine Klassenlehrperson rund 75 Kinder oder Jugendliche und steht dabei im Kontakt mit doppelt so vielen Eltern.

Das ergibt innerhalb von fünf Jahren rund 225 schulbezogene Zusammenarbeitsbeziehungen zwischen Lehrpersonen und Eltern beziehungsweise Kindern oder Jugendlichen. Die allermeisten davon laufen konstruktiv und gegenseitig achtsam ab. Darauf legen in der Regel alle Beteiligten auch viel Wert, stehen doch das Wohlergehen und der Lernfortschritt der Kinder im Zentrum.

Einzelne Fälle sind so belastend, dass tiefgreifende Konsequenzen wie Wechsel des Arbeitsortes, Burnout oder gar Berufsausstieg die ­Folge sind.

Was die Studie zudem auch zeigt: Wenn es doch zum Konflikt kommt, kann dieser in den meisten Fällen rasch im gegenseitigen Austausch geklärt werden. Dennoch sind jene Fälle, in denen Lehrpersonen Gewalt erfahren, sehr belastend – manchmal für wenige Tage, manchmal über einen längeren Zeitraum und in seltenen Fällen auch so sehr, dass tiefgreifende Konsequenzen wie Wechsel des Arbeitsortes, Burnout oder gar Berufsausstieg die ­Folge sind, wie die Studie auch zeigt.

Ich möchte nun den Fokus vor allem auf die involvierten Schülerinnen und Schüler richten – und zwar in jenen Situationen, in denen es zu Konflikten zwischen den Lehrpersonen und den Erziehungsberechtigten kommt. Denn für die Kinder und Jugendlichen ist eine solche Situation oft sehr schwierig – ganz besonders dann, wenn die Kinder noch jung sind.

Oft geraten sie dabei in einen Loyalitätskonflikt. Selbst dann, wenn Lehrpersonen und Erziehungsberechtigte sich bemühen, die Auseinandersetzung vor den Kindern zu verbergen, ahnen oder bemerken diese die Spannungen zwischen den Eltern und der Lehrperson.

Noch schwieriger wird es, wenn eine oder beide Seiten den Konflikt vor dem Kind offen austragen oder das Kind gar einbeziehen. Wie soll es sich verhalten? Was sagen? Oft führt das in ein grosses Dilemma und löst bei den betroffenen Kindern Hilflosigkeit und Sorgen aus.

Wenn wir Kindern vorleben, wie man sich um die ­erfolgreiche Beilegung eines Streits bemüht, ist dies eine wertvolle Erfahrung für sie.

Selbst wenn wir uns alle bemühen: Meinungsverschiedenheiten und Auseinandersetzungen kommen vor und gehören mitunter auch zur Zusammenarbeit zwischen Eltern und Lehrpersonen. Häufig treten solche Konflikte dann auf, wenn es unterschiedliche Ansichten über den Förderbedarf oder die Leistungsfähigkeit des Kindes gibt, wenn Streit in der Klasse unter den Schülerinnen und Schülern ein ­Thema ist oder wenn das Verhalten des Kindes in der Schule Probleme macht.

Konflikte sind Chancen für Eltern und Lehrpersonen

Auch Beurteilungen, Zeugnisse und unterschiedliche Haltungen bei Übertrittsfragen oder manchmal auch bezüglich Hausaufgaben können Konflikte auslösen. Doch die gibt es auch sonst zwischen Menschen – nicht nur im schulischen Kontext. Es gibt in Fachkreisen auch die Haltung, das Leben sei um Konflikte gebaut und diese seien nicht per se schlecht.

In der Tat: Konflikte bergen auch Chancen. Sowohl die Lehrperson als auch die Erziehungsberechtigten können in solchen Situationen gute Vorbilder sein und den Kindern zeigen, wie man lösungsorientiert und respektvoll mit Meinungsverschiedenheiten umgeht. Das ist zwar nicht immer einfach – vor allem dann nicht, wenn die Sache schon länger schwelt oder bereits eskaliert ist.

Aber wenn wir den Kindern vorleben, wie man sich um die erfolgreiche Beilegung eines Streits bemüht, und es schliesslich auch schaffen, wieder einvernehmlich zusammen weiterzuarbeiten, dann ist dies eine wertvolle und prägende Erfahrung für sie.

Denn auch die Kinder und Jugendlichen selber erleben immer wieder Konflikte oder geraten in Auseinandersetzungen – in der Schule genauso wie zu Hause, in der Nachbarschaft oder im Sportverein. Manche Konflikte haben sie mit Gleichaltrigen, andere mit den Geschwistern oder den Eltern und manche mit einer Lehrerin, einem Lehrer oder anderen Bezugspersonen.

Ein konstruktiver Umgang mit Differenzen und Meinungsverschiedenheiten nützt damit letztlich uns allen, vor allem aber auch den Schülerinnen und Schülern. Ich hoffe darum, dass die Studie des LCH insbesondere in diese Richtung Wirkung zeigt und uns alle darin anspornt, selbst bei gröberen Differenzen die Achtung und Haltung zu wahren. Setzen wir uns gemeinsam für gute Lösungen und eine gute Zusammenarbeit ein!

Christian Hugi

Christian Hugi
ist Primarlehrer in der Stadt Zürich, Präsident des Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverbands (ZLV) und Mitglied der ­Geschäftsleitung des Dachverbands ­Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH).

Alle Artikel von Christian Hugi