ADHS-Therapie ohne Medikamente: grosser Nutzen, kleines Risiko
Teil 11 der ADHS-Serie: Eine multimodale Therapie ohne Medikamente soll ADHS ganzheitlich angehen und neben den Symptomen auch die Ursachen für das unerwünschte Verhalten lösen.
Eine multimodale, an möglichst vielen Punkten ansetzende Therapie von ADHS ist heute die Norm. Allerdings wird die medikamentöse Behandlung mit Methylphenidat als therapeutischer Baustein immer noch häufig von Beginn an eingesetzt. Wegen des erhöhten gesundheitlichen Risikos und geringer therapeutischer Wirkung sollte dieser Therapiebaustein jedoch erst zum Einsatz kommen, wenn sich die anderen Therapien langfristig als wirkungslos erweisen und das Kind leidet.
Daher sollte die multimodale Therapie ohne Medikamente immer das erste Mittel der Wahl für Kinder mit ADHS-Diagnose sein. Je ausgeprägter die ADHS-Symptome ausfallen, desto mehr Strategien sollten verfolgt werden. Dieser Artikel fokussiert auf die wichtigsten Bausteine, die wegen ihrer wissenschaftlich erwiesenen Wirksamkeit für alle betroffenen Kinder und involvierten Erwachsenen als Grundtherapie empfohlen werden.
Ernährungsumstellung
Industrielle Lebensmittel führen zu einem Mangel an Mikronährstoffen, ohne die Nerven schlecht funktionieren. Bei Kindern führt Mangel- oder Fehlernährung der Nerven zu ADHS-Symptomen. Leider entwickelt der Körper der Kinder Lust auf genau jene Stoffe, die Schaden können: raffinierte Kohlehydrate, zuckerhaltige Lebensmittel, Säfte und Fertigprodukte. Auf diese Stoffe sollte die Familie verzichten und den Ernährungsplan umstellen. Ausnahmen sind erlaubt.
Das Erlernen eines Instruments kann die Symptome stark verringern.
Bei sensitiven Kindern sollten ausserdem künstliche Farbstoffe vermieden werden. Die Faustregel lautet: Iss das Essen, das schon Grossmutter gekannt hat. Gut für gestresste Nerven sind Nüsse, Linsen, Eier, Fisch, Gemüse und Obst.
Ergänzungspräparate
Zusätzlich zur Nahrungsumstellung sind ausserdem Präparate aus der Apotheke zu empfehlen. Gut wirksam gegen ADHS-Symptome sind Omega-3- und -6-Fettsäuren. Kinder, die einen Mangel an Vitaminen und Spurenelementen aufweisen, seien Vitamin-B-Komplex, Vitamin D, Biotin, Niacin, Zink, Jod, Kalium, Kupfer, Magnesium und Pantothensäure empfohlen. Es gibt diese Stoffe in Form von Kombinationspräparaten unterschiedlicher Zusammensetzung und richtiger Dosierung, die abgewechselt werden können.
Was genau für das eigene Kind in Frage kommt, sollte man im Gespräch mit dem Apotheker, der Apothekerin klären. Die Kosten werden nicht von der Krankenkasse übernommen. Omega-3- und -6-Fettsäuren sind für alle Kinder indiziert.
Wichtig zu wissen: Eine Verbesserung der Symptome tritt bei der Einnahme von Nervennahrung, angewandt als drei- bis viermonatige Kur, erst nach ein bis vier Wochen ein.
Sport und Bewegung
Kinder haben einen grossen Bewegungsdrang. Der Anteil an Sport in der Schule ist jedoch nur gering und sollte erhöht werden. Ein Mangel an Bewegung kann ADHS-Symptome verursachen. Bei mehr Bewegung verschwinden oder reduzieren sich die Symptome in kurzer Zeit.
Kinder mit ADHS sind manchmal wegen Unaufmerksamkeit, impulsiven Verhaltens, geringen Körperbewusstseins, Verspannung und Schwächen in Feinmotorik schlechter in leistungsorientierten Sportarten. Spezielles Training kann dies ausgleichen.
Gemäss Studien führt etwa fünf Mal pro Woche Bewegung in Form von Intervalltraining, Kinder-Yoga, Tai-Chi oder Aerobic zur Reduktion von ADHS-Symptomen bei Kindern. Generell sind alle Arten von Bewegung, die den Puls auf etwa 100 bis 140 erhöhen, mindestens 20 Minuten dauern und dem Kind zusagen, empfehlenswert.
Teil 1: Leben mit ADHS
Teil 2: Mein Kind hat ADHS
Teil 3: Kranke Kinder oder kranke Gesellschaft?
Teil4: ADHS – welche Rechte haben Kinder?
Teil 5: ADHS und Schule
Teil 6: Ritalin gegen ADHS – Fluch oder Segen?
Teil 7: Diagnose ADHS
Teil 8: Mein Kind hat ADHS – und jetzt?
Teil 9: ADHS und die ethischen Aspekte der Behandlung
Teil 10: ADHS und Psychotherapie
Teil 11: ADHS-Therapie ohne Medikamente. Grosser Nutzen, kleines Risiko
Hier können Sie die 11-teilige Serie über ADHS als PDF herunterladen
Psychoedukation: Das Lernen über ADHS
Der Begriff Psychoedukation bezeichnet die systematische Vermittlung von pädagogischem Wissen über ADHS, die Entstehung und den Verlauf der Symptome. Lehrpersonentraining und schulische Fördermassnahmen können eine Vielzahl an Lernstörungen und sozialen Verhaltensauffälligkeiten kompensieren.
Einfache Grundprinzipien sollen Eltern wie Lehrpersonen den Umgang mit dem betroffenen Kind erleichtern und die Situation verbessern:
- klare Regeln und Erwartungen, zeitnahe Konsequenzen
- positive Beziehung zum Kind, Lob, täglich aktiv Zuhören
- Zeitmanagement von Lernen, Pausen, Freizeit
- fester Platz im Klassenzimmer
- ruhige Bedingungen zum Schlafen und Hausaufgabenmachen
- strenge Reduktion des Medien-und Handykonsums auf maximal 30 Minuten täglich, keine Geräte im Kinderzimmer
Verhaltenstherapie
Die Verhaltenstherapie stellt eine Kombination aus Elterncoaching bzw. Erziehungstraining und idealerweise auch Lehrpersonentraining sowie einem Training zur Stärkung der Konzentrationsfähigkeit, Strukturierung und Emotionsregulation bei den betroffenen Kindern dar.
Dazu werden problembelastete Verhaltensmuster für konkrete Situationen zu Hause und in der Schule identifiziert und für jeden konkreten Fall Regeln zur Deeskalation für alle Beteiligten entwickelt.
Weitere mögliche Therapiebausteine bei ADHS
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sind die folgenden Therapiebausteine aufzuzählen:
- Schulische Musiktherapie und das Erlernen eines Instrumentes können die ADHS-Symptome laut aktueller Forschung stark minimieren.
- Die Wirkung von Physiotherapie auf ADHS wird aktuell detaillierter erforscht, um wirksame Programme zu identifizieren, welche Verkrampfungen lösen und Feinmotorik schulen.
- Bei einer Sprachstörung wird Logopädie empfohlen.
- Kognitive Therapie und Training des Sozialverhaltens sind bei diesbezüglichen Defiziten empfohlen.
- Eine spezielle Form von Verhaltenstherapie ist das Neurofeedback, das ADHS-Symptome reduzieren kann. Hier wird die aktive Steuerung von Hirnaktivität angestrebt, denn Kinder mit ADHS können Schwierigkeiten haben, einen aufmerksamen Bewusstseinszustand zu erreichen. Dies kann in etwa 20 Sitzungen in drei bis vier Monaten erreicht werden. Wichtig ist die Tatsache, dass Kinder mit ADHS keine abnormalen Hirnströme aufweisen.
- Bewegungstherapie, Ergotherapie und Psychomotorik können Selbst- und Körperbewusstsein und die Aufmerksamkeit des Kindes stärken, ihre Wirksamkeit sollte systematischer untersucht werden.
- Alternative Ansätze wie Homöopathie und Akupunktur können die körpereigenen Selbstheilungskräfte aktivieren. Ansätze wie Kinesiologie, Therapie mit Tieren, Kunsttherapie, Dramatherapie wurden noch nicht systematisch untersucht.
Fazit
Wie kann man einen Therapiebaustein beurteilen? Wichtig ist, dass bei jeder Therapie zwischen Nutzen und gesundheitlichem Risiko abgewogen wird. Die multimodale Therapie ohne Medikation ist hinsichtlich dieser Perspektive eine sichere und nachhaltige Wahl. Es sollte hauptsächlich auf wissenschaftlich wirksame Strategien gesetzt werden.
Welche Kombination im individuellen Fall Wirkung zeigt, wird erst im Laufe der Zeit deutlich werden. Daher bedarf jede Therapieform einer sorgfältigen Beobachtung durch Eltern und Fachpersonen.
Spannendes Interview zum Thema ADHS und Ritalin:
Der Wirkstoff Methylphenidat, enthalten in Ritalin, ist der meistverabreichte Wirkstoff bei ADHS. Bisher galt, dass er nur in schweren Fällen verschrieben werden soll. Nun empfiehlt eine neue Leitlinie, den Wirkstoff bereits in mittelschweren Fällen zu verabreichen. Susanne Walitza, Professorin für Kinder- und Jugendpsychiatrie, über die richtige Dosierung, alternative Behandlungsmethoden und «Blick-Diagnosen».
Für manche ist es die Modediagnose unserer Zeit, für andere die häufigste psychische Störung im Kindes- und Jugendalter: ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) bzw. ADS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom). Betroffen sind rund 5 bis 6 Prozent aller Kinder. Jungen deutlich öfter als Mädchen. Diagnostiziert wird die Krankheit aber weitaus häufiger.
Diese zehnteilige Serie entsteht in Zusammenarbeit mit dem Institut für Familienforschung und -beratung der Universität Freiburg unter der Leitung von Dr. Sandra Hotz. Die Juristin leitet zusammen mit Amrei Wittwer vom Collegium Helveticum das Projekt «Kinder fördern. Eine interdisziplinäre Studie», an dem auch die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW beteiligt ist. Das Projekt wird von der Mercator Stiftung Schweiz unterstützt.