27. Mai 2021
«Eltern sollten für eine Klassenwiederholung kämpfen, wenn sie grosse Lücken sehen»
Lesedauer: 6 Minuten
Die Psychotherapeutin Ruth Huggenberger sagt, Fernunterricht, Quarantäne und Homeoffice hätten Kinder wie Eltern an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gebracht. Sie warnt vor den Folgen und sagt, was Familien in den bevorstehenden Sommerferien brauchen.
Frau Huggenberger, Sie arbeiten als Psychotherapeutin in einer Gemeinschaftspraxis in Baden. In den letzten Monaten wurden Sie mit Anfragen bestürmt wie nie. Warum?
Wir Psychotherapeuten spüren die Auswirkungen der Pandemie ganz deutlich. Bei fast allen Kindern und Jugendlichen haben Massnahmen wie Homeschooling oder Fernunterricht, die Kontaktbeschränkungen, die damit verbundene Isolation und die vielen anderen Einschränkungen im Freizeitbereich zu einem hohen Leidensdruck geführt. Neu ist zudem, dass sich auch die Erziehungsberechtigten meiner jugendlichen Patienten bei mir melden und um Hilfe bitten. Ich stelle fest, dass viele Familiensysteme aufgrund der Erfahrungen der letzten anderthalb Jahre dysfunktional sind.
Was bedeutet das?
Aus psychotherapeutischer Sicht sind Familien ein System. Geht es einem Mitglied dieses Systems nicht gut, wirkt sich das auf alle anderen Mitglieder dieses Systems aus. Überforderte und frustrierte Kinder oder Jugendliche trafen auf Eltern, die selbst am Anschlag waren, weil sie Homeoffice, Care-Arbeit und Homeschooling irgendwie vereinbaren mussten und zum Teil auch noch müssen. Die Folgen treten nun deutlich zutage. Viele Mütter und Väter sind am Anschlag, leiden an Burnout, Depressionen und Angststörungen.
Wie genau sind Kinder durch die Pandemie belastet?
Kinder haben beispielsweise Angst, in der Schule nicht mehr mitzukommen oder den Anschluss nach den Sommerferien in der nächsten Klasse nicht zu schaffen. Sie realisieren jetzt, dass sie in der langen Phase des Homeschoolings im Frühling 2020 zu wenig lernten oder das wenige nicht festigen konnten.
Warum das?
Jede Schule, jede Lehrperson und jede Stufe hat im ersten Lockdown den Fernunterricht ganz unterschiedlich gehandhabt. Manche Kinder haben nur zwei bis drei Stunden pro Tag gelernt. Das heisst, Schülerinnen und Schüler mussten einen erheblichen Mehraufwand betreiben, um den verpassten Schulstoff nachzuholen. Das haben nicht alle getan. Das löst ein Gefühl des Ungenügens oder gar Versagensängste aus. Jugendliche, die es vorher schon schwer hatten in der Schule, haben nun noch mehr Angst vor der Zukunft.
Können Sie das erklären?
Versetzen Sie sich in das Leben eines oder einer jungen Erwachsenen, der oder die gerade erst das Studium an einer höheren Schule begonnen hat und anderthalb Jahre die Mitstudentinnen und Dozenten nur virtuell getroffen hat. Das ist doch gravierend. Normalität muss man erst wieder erlernen. Andere Jugendliche wiederum wollten eine Lehrstelle finden, was pandemiebedingt nicht möglich war, Schnuppern kann man eben nicht virtuell. So wählen wohl viele das 10. Schuljahr. Die Problematik wird aber dadurch nicht gelöst, sondern nur vertagt.
Wie erleben Sie das in Ihrer Praxis?
Schülerinnen und Schüler, die bereits vor der Pandemie eher knapp und/oder schulmüde waren, sind es nun noch mehr. Ich höre oft den Satz: «Corona ist doof.» Fast alle Kinder haben eine grosse Lückenlast. Jede neuerliche Quarantäne, jeder zusätzliche Unterrichtsausfall verschlimmert diese Situation.
Was ist mit den Eltern?
Viele Mütter und Väter haben wirtschaftliche Sorgen, Angst vor Arbeitsplatzverlust oder sind bereits arbeitslos. Andere sind ausgebrannt. Sehr viele machen sich Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder, besonders wenn diese schon etwas älter sind. Das alles zusammen ist eine sehr grosse Belastung.
Inwiefern belastet Fernunterricht die Eltern?
Besonders bei Müttern haben Homeschooling und Fernunterricht Gefühle der Verzweiflung aufkommen lassen. Viele hatten bereits in der ersten Welle Mühe, ihrem Kind die nötige Unterstützung zu bieten. Primarschulkinder haben oft gewechselt zwischen Präsenzunterricht und Homeschooling. Jede Quarantäne verschlimmert die Situation. Immer sind es die Eltern und sehr oft die Mütter, die solche Situationen auffangen müssen.
Sie sind Spezialistin für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Aufmerksamkeitsdefizit, AD(H)S. Welche Auswirkungen haben Fernunterricht und Homeschooling auf diese Kinder?
Kinder mit ADHS sind bis weit in die Oberstufe, in weiterführenden Schulen und sogar der Universität mit Fernunterricht überfordert. Sie brauchen wirklich viel Unterstützung, da es ADHS-Menschen an Selbststeuerung, an der Fähigkeit zur Strukturierung fehlt. Sie haben kein Zeitgefühl und vor allem keinen angemessen funktionierenden Reizfilter.
Was heisst das?
ADHS-Kinder können sich auf einer virtuellen Plattform schlecht konzentrieren, sind ständig abgelenkt und verlieren den Faden, die eigentliche Anforderung rasch aus den Augen. Oft träumen sie vor sich hin, schieben ungeliebte Aufgaben auf. Da fast alle einen Bereich haben, in dem sie besonders gut sind, wenden sie sich diesen Tätigkeiten zu, vertiefen sich und vergessen dabei aber, was sie sonst noch zu erledigen hätten. Wegen der Informationsflut und der mangelnden Reizfilterung sind sie zudem oft müde.
Wie kann man diesen Kindern helfen?
Kinder, die keinen Präsenzunterricht haben, brauchen unbedingt Hilfe von einem Elternteil, der mit ihnen die Hausaufgaben strukturiert und immer wieder den Fortschritt der Arbeit kontrolliert. Je nach Ausprägung benötigen sie jemanden, der sie von A bis Z betreut, also eins zu eins neben ihnen sitzt und mit ihnen lernt, schreibt, rechnet. Doch mit der Lösung der Hausaufgabe ist es ja noch nicht getan, im Fernunterricht muss man ja die Lösung der Lehrperson übermitteln, auf deren Antwort warten, eventuell korrigieren, neu schreiben und noch einmal übermitteln. Das ist für alle Kinder eine Herausforderung, für ADHS-Kinder aber eine noch grössere.
Nun fangen in den nächsten Wochen die Sommerferien an. Sollten Eltern in dieser Zeit versuchen, den verpassten Stoff mit ihren Kindern aufzuarbeiten?
Die Ferien sind für die Regeneration gedacht. Doch durch die Covid-19-Situation entstanden bei vielen Kindern und Jugendlichen – ob von ADHS betroffen oder nicht – Lücken im Schulstoff. Erklären die Eltern ihren Schützlingen, dass Stoff aufgeholt werden muss, damit ihnen das nächste Schuljahr leichter fällt, machen die meisten Kinder mit bei der Aufarbeitung. Ich rate Eltern, ihren Kindern erst Ferien zu gewähren und wenn nötig ab der zweiten oder dritten Woche morgens in kleinen Einheiten mit ihnen zu arbeiten. Müssen Englisch- oder Französischvokabeln nachgeholt werden, sollte pro Tag nicht mehr als eine Stunde gelernt werden. Haben die Kinder danach frei, ist dies zumutbar. Das Nachholen muss ohne Druck stattfinden und ein Elternteil sollte seine Hilfe anbieten.
Was brauchen die Eltern in den Sommermonaten?
Ebenfalls erst Erholung. Sie hatten ebenso mehr Energieverschleiss durch die erwähnten Schwierigkeiten im Schulalltag, in der Bewältigung des eigenen Jobs im Homeoffice, den Herausforderungen im Umgang mit Covid-19. Eltern und Kinder sollten die lang ersehnten Lockerungen geniessen, ohne fahrlässig zu werden bezüglich Maskenpflicht und Hygienemassnahmen.
Wie geht man mit einem Kind um, das die Klasse aufgrund seiner Wissenslücken wiederholen muss?
Eine Klasse zu wiederholen, ist nicht einfach. Seit einigen Jahren gilt in der Unterstufe das Prinzip, dass Kinder trotz ungenügender Noten meist die nächste Klasse besuchen können. Ich halte das für eine fatale Entwicklung. Kommt ein Kind mit dem Schulstoff nicht mehr mit, sinkt die Motivation und die Negativspirale beginnt. Negative Auswirkungen zeigen sich beim Übertritt in die Oberstufe. Sie werden nicht in diejenige Stufe eingeteilt, die ihrem Potenzial entspricht.
Was raten Sie Müttern und Vätern betroffener Kinder und Jugendlicher?
Die Eltern sollten für eine Wiederholung kämpfen, wenn sie grosse Lücken bei ihren Kindern sehen. Ich kann nur an die Lehrpersonen, Schulleitungen und die Schulpflegen appellieren, in einem solchen Fall die Repetition zu ermöglichen. Wird den Kindern erklärt, weshalb eine Repetition sinnvoll ist, gibt es von ihrer Seite zunächst meist Widerstand. Insgeheim sind sie sich aber bewusst, dass eine Klassenwiederholung Erleichterung bringen kann. Wichtig scheint mir, dass Eltern das in Ruhe mit ihren Kindern besprechen.
Und nach den Sommerferien? Wie können Eltern und Lehrpersonen den Kindern den Start ins neue Schuljahr erleichtern?
Durch Gelassenheit und Optimismus. Und: Kinder und Jugendliche erleben Erleichterung, wenn sie aufgeklärt werden. Das Schlimmste ist die Ungewissheit. Sie haben die Erfahrung gemacht, dass sie im letzten Jahr unbeschwert beginnen konnten und sich die Situation im Herbst verschlechtert hat. Bemerken die Eltern und Lehrer die Unsicherheit der Kinder, sollten sie die veränderte Lage im Vergleich zum letzten Jahr ansprechen: Die Situation ist aufgrund der Impfungen nun eine andere. Es soll keine Beschönigung stattfinden, sondern die Verbesserung der Lage vermittelt werden. Der Slogan ‹Gemeinsam schaffen wir das› sollte im Vordergrund stehen. Man kann den Kindern und Jugendlichen auch erklären, dass die Menschheit schon mehrere solche Krisen beziehungsweise Pandemien bewältigt hat.
Werden Lehrpersonen auf die Situation Rücksicht nehmen, gar den Lehrplan etwas anpassen?
Es wäre zu wünschen, dass Lehrpersonen die wichtigsten Ziele erreichen und Optionales weglassen. Bisher habe ich diese Haltung gerade in der Unterstufe vermisst. Wir dürfen nicht davon ausgehen, dass sich die schulische Situation stabilisiert hat, weil wir keine offiziellen Schulschliessungen hatten im Herbst und Winter 2020/2021. Quarantäne, Erkrankungen, häufige Wechsel der Lehrpersonen, schwierige Verhältnisse zu Hause sowie die Folgen der Schulschliessungen im Frühjahr 2020 fordern ihren Tribut. Ich erhoffe mir von den Lehrpersonen mehr Eigenverantwortung. Manchmal ist weniger mehr.
Während viele Erwachsene zu Beginn des nächsten Schuljahrs geimpft sein werden, ist das bei Kindern und Jugendlichen noch lange nicht der Fall. Wie kann die Schule, wie können die Eltern diese Situation auffangen?
Wir können die Kinder schützen, indem sich möglichst viele Erwachsene impfen lassen. Auf diese Weise sollte die Infektionsgefahr in den Schulen geringer werden. Es sollten ebenso einheitliche Regelungen eingeführt werden in einer Ansteckungssituation. Das gibt Sicherheit. Einen weiteren Vorteil bilden die Speichel-Selbsttests. Hat ein Jugendlicher den Verdacht, krank zu sein, kann ein solcher durchgeführt werden. Wird das Testen im eigenen Zuhause auf freiwilliger Basis als natürlich betrachtet, können auch Kinder geschützt werden. Aber auch hier gilt wieder: keine Panik aufkommen lassen. Denn Erkältungen und Grippen gibt es jedes Jahr. Ein Test sollte beim kleinsten Anzeichen eines Infektes nicht zur Gewohnheit werden, ansonsten besteht die erhöhte Gefahr, die Angst vor Covid-19 zu schüren und im dümmsten Fall chronisch werden zu lassen.