Osteopathie: Heilen mit den Händen
Kopfschmerzen, Hyperaktivität oder Lernschwierigkeiten: Wie Osteopathie bei Kindern funktioniert, bei welchen Anwendungsgebieten diese Therapie besonders Sinn ergibt – und wo die Grenzen liegen.
Leon ist ein fleissiger Schüler, doch beim Lesen und Schreiben tut sich der Drittklässler sichtlich schwer. Die Schrift ist noch sehr krakelig, er liest recht langsam und er verwechselt häufig Buchstaben und Silben. «In stressigen Situationen, beispielsweise wenn er vorlesen muss, zeigt Leon auch Tics wie Augenblinzeln oder den Kopf in den Nacken werfen», sagt Leons Mutter. Ein Visualtraining und Ergotherapie verbessern zwar die Situation, aber erst eine osteopathische Behandlung findet die entscheidende Ursache und kann umfassender helfen. «Die Osteopathie ist eine vergleichsweise junge Behandlungsmethode, die hauptsächlich mit den Händen arbeitet», erklärt Karin Huber, Diplom-Osteopathin und Vorstandsmitglied des Schweizerischen Osteopathieverbands Suisseosteo.
Ziel der Behandlung ist immer, bestehende Blockaden, Verklebungen und Spannungsmuster zu lösen.
Karin Huber, Osteopathin
Sie geht auf den Arzt Andrew Taylor Still zurück, der diese ganzheitliche Therapieform Ende des 19. Jahrhunderts in den USA etablierte. Die Methode wurde seitdem ständig weiterentwickelt. In der Schweiz und im deutschsprachigen Raum wird Osteopathie ungefähr seit den 1980er-Jahren praktiziert.
Die Osteopathie betrachtet den Körper als Einheit, dessen unterschiedliche Systeme und Strukturen – also der Bewegungsapparat, das Nervensystem und die inneren Organe – sich fortwährend gegenseitig beeinflussen. Dies geschieht auf der mechanischen, neurologischen und metabolischen (den Stoffwechsel betreffenden) Ebene.
Ist die Harmonie im Körper wiederhergestellt, verschwinden die Beschwerden oft sehr schnell
Die Osteopathie geht ausserdem davon aus, dass der Körper über ein grosses Mass an Selbstheilungskräften verfügt, solange die verschiedenen Strukturen sich frei gegeneinander bewegen und frei fliessen können. «Kommt es aber beispielsweise durch einen Sturz oder Schlag zu Verletzungen, können Blockaden entstehen, die einerseits Auswirkungen auf das direkte Umfeld des Traumas haben. Es können andererseits aber auch teilweise weit entfernte, jedoch anhängende Strukturen wie die Wirbelsäule, der Schädel oder auch innere Organe betroffen sein», so Huber.
Auch bei einem ADHS hat sich die Osteopathie als unterstützendes Element gut bewährt.
Diese Spannungsmuster könne der Osteopath oder die Osteopathin mit den Händen erspüren und anschliessend beseitigen. Karin Huber: «Ziel der Behandlung ist also immer, bestehende Blockaden, Verklebungen und Spannungsmuster zu lösen, damit sich die unterschiedlichen Systeme wieder ungehindert zueinander bewegen können.» Ist die Harmonie im körperlichen Regelkreis wiederhergestellt, verschwinden die Beschwerden oft sehr schnell.
Für jedes Alter geeignet
Osteopathie kann grundsätzlich in jedem Alter und bei einer Vielzahl an Beschwerden alleine oder ergänzend zu einer schulmedizinischen Behandlung helfen. «Ausnahmen sind jedoch akute medizinische Notfälle», betont die Diplom-Osteopathin. Auch stellt die Osteopathie keine schulmedizinischen Diagnosen. «Von daher ist es hilfreich, sämtliche bereits erhobenen Befunde beziehungsweise schulmedizinischen Diagnosen zum ersten Besuch mitzubringen», so Huber. «Ist nichts davon vorhanden, wird der Osteopath den Patienten bei Bedarf zu weiteren Abklärungen zurück an den Hausarzt verweisen.»
Osteopathie kann bei vielen Traumata helfen
Als typische Anwendungsgebiete bei Kindern im Schulalter gelten alle Formen von Traumata, also Unfälle, Stürze, Frakturen am Muskel-Skelett-System, die nicht ordentlich ausheilen. «Ein weiteres grosses Anwendungsfeld sind kieferorthopädische Behandlungen bei Gelenkstellungsproblemen wie Kreuz-, Rück- und Vorbiss, Kieferknacken oder auch Kieferklemme», so Huber. «Hier kann die Osteopathie dazu beitragen, die Spange besser zu tolerieren, indem Spannungsfelder abgebaut werden. Das lindert die häufig auftretenden Kopf- und Kieferschmerzen.»
Hilfe verspricht die manuelle Behandlungsform darüber hinaus auch bei allen Formen von unklaren chronischen Kopf- und Bauchschmerzen sowie bei Zyklus- und Menstruationsproblemen von jungen Mädchen. Aber auch bei der interdisziplinären Behandlung einer Lese-Rechtschreib-Schwäche, ADHS sowie nächtlichem Bettnässen hat sich die Osteopathie als unterstützendes Element gut bewährt.
Erfolgreiche Behandlung von Wachstumsbeschwerden
Speziell bei Schulkindern können auch starke Wachstumsschübe Beschwerden verursachen. Das war bei Selina der Fall: Etwa zum Ende der dritten Klasse hin setzten bei der Achtjährigen heftige Refluxbeschwerden ein. «20-mal am Tag und öfter schoss der hochsaure Mageninhalt zurück in die Speiseröhre meiner Tochter und verursachte starkes Sodbrennen und ständige Magenschmerzen», erinnert sich Selinas Mutter.
Zwei Magenspiegelungen brachten kein Ergebnis und auch Medikamente sowie eine spezielle Diät besserten die Beschwerden kaum. Erst eine osteopathische Behandlung konnte als Ursache starke Spannungsfelder in der Magengegend durch sehr schnelles Körperwachstum ausmachen und entsprechend behandeln. «Seit fast zwei Jahren ist Selina nun beschwerdefrei», sagt Selinas Mutter. «Sollte sich daran wieder etwas ändern, gehen wir erneut zur Osteopathin.»
Auf der Website des Schweizerischen Osteopathieverbands Suisseosteo gibt es viele Hintergrundinformationen zum Thema: www.suisseosteo.ch
Der Osteopathieverband bietet auf seiner Website auch eine Datenbank, in der man Osteopathinnen und Osteopathen in der Nähe seines Wohnortes finden kann: www.suisseosteo.ch
Wer sich über die Studienlage in der Osteopathie informieren möchte, kann sich über die brandneue, unabhängige und kostenfreie Datenbank Ostlib gezielt schlau machen: www.ostlib.de/search
Informationen zum Forschungsstand finden Interessierte auch auf den Seiten der Swiss Osteopathy Science Foundation, dem Kompetenzzentrum für osteopathische Forschung in der Schweiz: www.osteopathyfoundation.ch
Auch bei Leon mit der Lese-Rechtschreib-Schwäche konnte die Osteopathie helfen. «Bei meinem Sohn entdeckte die Osteopathin, dass frühkindliche Reflexe nicht vollständig abgebaut waren, was dem flüssigen Lesen und Schreiben im Wege stand», sagt Leons Mutter. «Durch die Behandlung verschwanden zuerst die Tics, anschliessend hat sich auch das Lesen und Schreiben deutlich verbessert.»
Auch psychische Faktoren sind wichtig
Am Anfang einer osteopathischen Behandlung steht immer ein sehr ausführliches Anamnese-Gespräch. «In der ersten Sitzung frage ich nach der genauen Krankheitsgeschichte und möglichen Vor- beziehungsweise zusätzlichen Erkrankungen, danach, was bisher alles schon an Therapien versucht wurde und welche Diagnose vorliegt. Ausserdem checke ich die mitgebrachten Befunde», sagt Huber.
«Wichtig sind darüber hinaus aber auch psychische Faktoren, das Familiensetting, die Umstände der Schwangerschaft und der Geburt sowie mögliche Verhaltensauffälligkeiten und Vorkommnisse im Kindes- und Kleinkindalter und so weiter.» Anschliessend erfolgt eine diagnostische Untersuchung am Körper des Kindes mit den Händen. «Das sind ganz sanfte Berührungen, mit denen ich mögliche Spannungsfelder identifizieren kann. Und ich erstelle eine osteopathische Diagnose», erläutert Huber. «Steht die Diagnose, kann die eigentliche osteopathische Therapie beginnen.»
Die ersten Sitzungen werden meist in kurzen Zeitabständen vereinbart. Oft treten bereits nach drei bis fünf Behandlungen deutliche Besserungen ein, so dass die Abstände anschliessend entsprechend vergrössert werden können.
Zunehmende Forschung zur Wirksamkeit
Zur Wirksamkeit der Osteopathie liegen inzwischen immer mehr hochwertige wissenschaftliche Studien vor. Sie können seit Juni 2022 über die kostenlose und unabhängige Datenbank Ostlib abgerufen werden. Die vorhandenen Forschungsergebnisse beziehen sich allerdings schwerpunktmässig auf die Behandlung von Rückenschmerzen bei Erwachsenen sowie die Therapie von Säuglingen und Schwangeren.
Zur Wirksamkeit von osteopathischen Behandlungen bei älteren Kindern und Jugendlichen gibt es bislang nur vereinzelte Untersuchungen zu speziellen Diagnosen und einige wenige Übersichtsarbeiten, wie etwa die «Untersuchung zum Einfluss der Osteopathie auf den körperlichen und mentalen Zustand von Teenagern» aus dem Jahr 2015 oder auch die «Pilotstudie zur therapeutischen Wirksamkeit der osteopathischen Behandlung bei Kindern mit auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen».
In der Regel übernehmen die Zusatzversicherungen die Kosten der Behandlung.
Die Osteopathie ist in der Schweiz seit 2020 ein anerkannter Gesundheitsberuf mit geschützter Berufsbezeichnung, gesetzlich geregelter akademischer Ausbildung und kantonaler Zuteilung von Berufskompetenzen. «Damit gehört die Osteopathie in der Schweiz zu dem Bereich der medizinischen Erstversorgenden», so Huber.
«Patientinnen und Patienten können eine Osteopathin oder einen Osteopathen direkt aufsuchen und benötigen dazu keine Überweisung vom Arzt.» In der Regel übernehmen die Schweizer Zusatzversicherungen die Kosten der osteopathischen Behandlung. «In welchem Umfang und welcher Höhe, kann jedoch von Zusatzversicherung zu Zusatzversicherung und jeweiligem Tarif unterschiedlich sein», weiss Huber. «Hier sollte im Vorfeld sicherheitshalber immer genau nachgefragt werden.»
- Die Osteopathie ist eine ganzheitliche Methode aus dem Bereich der Komplementärmedizin, die vorwiegend mit den Händen arbeitet, und basiert auf den Grundlagen der Schulmedizin.
- Ziel ist es, die Selbstheilungskräfte anzuregen, die nach Ansicht der Osteopathie aktiv sind, wenn sich alle Körpersysteme frei gegeneinander bewegen können.
- Blockaden, Verklebungen usw., die diesen natürlichen Regelkreis stören, kann die Osteopathin mit den Händen aufspüren und beseitigen.
- Haupteinsatzgebiete der Osteopathie bei Schulkindern sind schlecht heilende Verletzungen nach Unfall, Sturz, Operationen usw. sowie kieferorthopädische Behandlungen. Weitere Anwendungsgebiete sind unter anderem unklare Kopf- und Bauchschmerzen, ADHS, Menstruationsbeschwerden bei jungen Mädchen.
- Wissenschaftliche Studien bestätigen die Wirksamkeit dieser Therapieform.
- Osteopathie ist in der Schweiz ein anerkannter Gesundheitsberuf, die Therapeutinnen und Therapeuten gehören zu den Erstversorgenden.
- Die Kosten werden in der Regel von den Zusatzversicherungen übernommen.