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Hörschäden erfolgreich vorbeugen

Lesedauer: 6 Minuten

Hörstörungen bei Kindern und Jugendlichen nehmen zu. Als Ursachen sehen Experten die Nutzung von Smartphones, Besuche in Clubs und Konzerten sowie lautes Spielzeug. Weil lärmbedingte Hörschäden nicht heilbar sind, ist Vorbeugen das A und O.

Text: Anja Lang
Bild: Deepol / Plainpicture

Das Wichtigste in Kürze

  • Sehr hohe beziehungsweise dauerhaft zu hohe Schallpegel bei der Nutzung von Smartphones über Kopfhörer, durch häufige Club- und Konzertbesuche sowie Spielzeug mit Knall-und Soundeffekt können die Haarsinneszellen im Innenohrschädigen.
  • Lärmschwerhörigkeit entsteht in der Regel schleichend und infolge häufiger und wiederholter Lärmüberlastung.
  • Typische Symptome wie Tinnitusgeräusche und Hörverlust verschwinden anfangs oft wieder, bleiben ab einem gewissen Stadium der Schädigung aber dauerhaft bestehen.
  • Lärmschwerhörigkeit ist nicht heilbar.
  • Vorbeugen ist das A und O: Wichtig ist, Schallquellen über 85 Dezibel langfristig zu meiden, beispielsweise durch: 1.) Verwendung von lärmgedrosselten Spielzeugen, Abspielgeräten und Kopfhörern 2.) Lautstärke-Apps und Geräuschdiät mit aktiven Pausen 3.) mechanischen Gehörschutz mit Ohr

Ein leichtes Klingeln in den Ohren ist für den 16-jährigen Manuel nach dem Clubbesuch nichts Neues. Normalerweise ist der Spuk aber nach wenigen Stunden wieder vorbei. Doch diesmal will das nervige Piepen einfach nicht verschwinden.

«Dauerhafte Tinnitusgeräusche im Ohr sind ein typisches Zeichen für einen beginnenden Hörschaden durch Lärm», sagt Christof Stieger, Leiter der Audiologie der HNO-Klinik am Universitätsspital Basel. «Dabei spielt es keine Rolle, ob der zuvor einwirkende Schall als Genuss oder Störfaktor empfunden wurde.» 

So kommt der Ton ins Gehirn

Um zu verstehen, wie Hörschäden durch Lärm entstehen, muss man grundsätzlich wissen, wie das Hören funktioniert. Jedes Geräusch erzeugt Schallwellen. Diese Schallwellen gelangen über die Ohrmuschel in den Gehörgang und versetzen dort das am Ende liegende Trommelfell in Schwingung. Diese Bewegungen werden von den Gehörknöchelchen im Mittelohr aufgenommen, verstärkt und an die Cochlea, die Gehörschnecke im Innenohr, weitergeleitet.

Die Cochlea ist ein mit Flüssigkeit gefülltes Organ, das mit Tausenden feinen Haarsinneszellen ausgekleidet ist. Diese hochempfindlichen Haarsinneszellen wiederum nehmen die ankommenden mechanischen Schwingungen auf und wandeln sie in elektrische Impulse um, die sie an den Hörnerv weitergeben. Der Hörnerv schliesslich leitet die Impulse an das Gehirn weiter, wo sie entsprechend verarbeitet werden. 

Leider ist das eigene Gefühl zur Beurteilung der richtigen Lautstärke wenig hilfreich: Die subjektive Lärmtoleranz hängt von persönlichen Vorlieben ab.

Hören ist also ein hochkomplexer und fein abgestimmter Prozess, der an unterschiedlichen Stellen gestört werden kann. Besonders anfällig für Störungen sind die Haarsinneszellen in der Cochlea. Sie sind sehr sensibel, um auch feinste Nuancen im Tonspektrum wahrnehmen und weitergeben zu können.

Entsprechend verletzlich reagieren diese feinen Strukturen, wenn sie zu hohem beziehungsweise zu lange andauerndem Schalldruck ausgesetzt sind. Das passiert, wenn ein extrem lautes Geräusch, beispielsweise ein Knall, über kurze Zeit oder anhaltend laute Geräusche, etwa bei voll aufgedrehter Musik, über ­längere Zeit auf das Ohr einwirken.

Mechanische Überlastungen sowie langfristig wirkende, stoffwechselbedingte Schäden an den Haarsinneszellen sind oft die Folge davon.

Wie Lärm den Haarsinneszellen irreversiblen Schaden zufügt

«Besonders gut veranschaulichen lässt sich dieser Vorgang, wenn man sich den Bereich der Haarsinneszellen als Getreidefeld vorstellt, über das der Schall wie ein Sturm hinwegfegt», sagt Stieger. «Je nachdem, wie lange und stark der Sturm wütet, sind die Halme anschliessend zur Seite gedrückt oder auch komplett abgeknickt.»

Jede Überlastung schwächt die Haarsinneszellen nachhaltig.

Leicht geschädigte Haarsinneszellen können sich nach entsprechenden Ruhephasen wieder erholen. «Komplett abgeknickte Haarsinneszellen sind dagegen unwiederbringlich zerstört und können ihre Funktion nicht mehr erfüllen», weiss Stieger.

Dies wirke sich immer zuerst auf die hohen Töne aus. «Denn die Haarsinneszellen für diesen Tonbereich befinden sich am Eingang der Cochlea und sind damit mechanisch besonders stark beansprucht», so der Audiologe.

Ohrgeräusche sind immer ein Alarmsignal

«Leichte Hörschäden im Hochtonbereich bleiben anfangs noch weitgehend unbemerkt und lassen sich nur im Hörtest feststellen», sagt Ohrenexperte Stieger. «Auffälliger sind Tinnitusgeräusche wie Klingeln, Pfeifen, Brummen oder auch ein taubes, wattiges Gefühl im Ohr. Solche Beschwerden verschwinden nach einer Ruhephase meist wieder, hinterlassen aber trotzdem Spuren.» Denn: Jede Überlastung schwächt die Haarsinneszellen nachhaltig.

«Es handelt sich um einen kumulativen Effekt, der schleichend entsteht», sagt Stieger. «Je länger und stärker Lärm einwirkt und die Haarsinneszellen stresst, desto weniger gut können sie sich im Nachgang erholen und umso früher können dauer­hafte Hörprobleme wie bleibender Tinnitus und spürbare Lärmschwerhörigkeit auftreten.»

Wenn störende Ohrgeräusche auch 24 Stunden nach dem Lärm­ereignis weiter anhalten, sollte man einen Arzt aufsuchen, rät Gehörspezialist Stieger. «Medizinisch lässt sich gegen die lästigen Ohrgeräusche jedoch nur wenig ausrichten, denn geschädigte Haarsinneszellen wachsen nicht nach und können von aussen auch nicht repariert werden.»

Aus demselben Grund lassen sich auch spürbare Hörverluste durch Lärm nicht ursächlich behandeln. «Zwar können in bestimmten Fällen Hörgeräte helfen, bestehende Defizite auszugleichen», sagt Stieger. «Auch gibt es verschiedene Möglichkeiten, Tinnitus subjektiv erträglicher zu machen, um besser damit umgehen zu können – wirklich heilen lassen sich durch Lärm entstandene Hörschäden allerdings nicht.»

«100 Dezibel, wie sie in Clubs aufs Ohr einwirken, sind für nur zehn Minuten unbedenklich», sagt die ­Hörexpertin Tanja Kampus.

Das A und O gegen vorzeitige Lärmschwerhörigkeit lautet deshalb Vorbeugen – und das Gehör vor zu viel Schall schützen. Lautstärke wird über den Schallpegel gemessen, der auf das Ohr einwirkt, und in der Masseinheit Dezibel (dB) ange­geben. Eine Zunahme von zehn Dezibel beschreibt eine subjektiv empfundene Verdoppelung der Lautstärke. «Ein Gespräch aus einem Meter Entfernung hat etwa 70 Dezibel», weiss Stieger. «Ein zehn Meter entfernt vorbeifahrender LKW kommt bereits mit rund 80 Dezibel im Ohr an, ein Presslufthammer mit 100 und ein Martinshorn mit 110 Dezibel. Kopfhörer erreichen mitunter 80 bis 100 Dezibel.»

«Ob ein Geräusch für das Ohr schädlich ist, hängt neben seiner Lautstärke vor allem auch von der Dauer der Schalleinwirkung ab», sagt Tanja Kampus, Pädakustikerin aus Baden im Aargau. «Aus der Arbeitsmedizin weiss man, dass das Gehör eines Erwachsenen bei einer 40-Stunden-Arbeitswoche eine Geräuschbelastung von 85 Dezibel bis zu acht Stunden pro Tag aushalten kann, ohne Schaden zu nehmen.»

Steige die Lärmbelastung auf 95 Dezibel an, verkürze sich die ­risikofreie Zeit für das Ohr bereits auf 48 Minuten pro Arbeitstag. «100 Dezibel, wie sie in Clubs oder über Kopfhörer aufs Ohr einwirken, sind für gerade einmal zehn Minuten unbedenklich», betont Kampus.

Schallquelle und ihr Pegel in Dezibel:

Wie laut ist das? Beispiele für Schallquellen

  • Pistole 160
  • Spielzeugwaffe 150
  • Knallkörper 130
  • Schmerzschwelle 130
  • Düsenjet-Start in 100 Metern Entfernung 125
  • Spielzeuginstrumente 120
  • Musik bei Rockkonzerten 85–120
  • Musik in Clubs 85–120
  • Motorkettensäge 110
  • Guggenmusik im Übungsraum 100
  • Musik mit Ohrhörern an tragbaren Abspielgeräten 80–100
  • Strassenverkehr 80
  • Unterhaltung 70
  • Büro 60
  • Leseraum 40
  • Blätterrascheln 35
  • Radiostudio 20
  • Hörschwelle 10

Leider ist das eigene Gefühl für die Beurteilung der richtigen Lautstärke wenig hilfreich, denn die subjektive Lärmtoleranz hängt stark von den persönlichen Vorlieben ab. Grundsätzlich gilt: Alles im Bereich von Zimmerlautstärke – also von rund 70 bis 80 Dezibel – ist unbedenklich, alles darüber hängt von der Höhe der Lautstärke sowie der Dauer der Schalleinwirkung ab.

«Spielzeug mit Musik oder anderen Soundeffekten kann sehr laut sein, deshalb rate ich Eltern, beim Kauf auf eine ausgewiesene Drosselung bis maximal 85 Dezibel zu achten», sagt Kampus. «Spielzeugwaffen wie Zündplättchenpistolen, aber auch die klassischen Knackfrösche und Quietschtiere, bei denen die Drosselung fehlt, sollten darüber hinaus niemals in Kopfnähe eingesetzt werden, da sie Impulsgeräusche von über 100 Dezibel verursachen können.» Dasselbe gelte für Silvesterfeuerwerk und Knallfrösche.

«Beim Kauf von Kopfhörern, die oft über Stunden am Tag verwendet werden, kann man ebenfalls auf Modelle mit Drosselung achten», sagt die Pädakustikerin. «Sinnvoll sind auch sogenannte Kapselkopfhörer oder Kopfhörer mit zusätzlicher Lärmdämpfung, die störende Umgebungsgeräusche vermindern oder ausblenden.»

Wie wir unser Gehör schützen können

Um Teenager und Jugendliche für das Thema Lärmbelastung zu sensibilisieren, haben sich Lautstärke-Apps fürs Smartphone bewährt, die jederzeit verlässliche Auskunft darüber geben, wie laut die aktuellen Umgebungsgeräusche sind.

«Beim Besuch von sehr lauten Orten wie Indoorspielplatz, Kartbahn, Open-Air-Konzert oder Club hilft es zudem, vor Ort kurze Pausen in ruhigeren Bereichen einzulegen, beispielsweise an der Bar oder im Aussenbereich, und den Ohren im Anschluss viel Stille zur Erholung zu gönnen», empfiehlt Hörakustikerin Kampus. Nicht zuletzt könne man seine Ohren mit einem mechanischen Gehörschutz vor lauten Umgebungsgeräuschen schützen.

Weitere Infos:

Die Broschüre «Musik und ­Hörschäden» der Suva mit vielen Hintergrund­informationen und Praxisbeispielen finden Sie hier.

Informative Website von Cercle Bruit Schweiz, der Vereinigung kantonaler Lärmschutzfachleute: www.laermorama.ch

Lautstärke-Apps fürs Smartphone zum ­kostenlosen Download im Playstore:
Für Android: z. B. NoiseCapture
Für iOS: z. B. SPL Pro

«Die günstigste Variante sind Gehörstöpsel aus Schaumstoff, die Lärm um etwa 10 Dezibel dämpfen. Sie kosten ein paar Franken, bieten allerdings wenig Tragekomfort und verzerren den Klang», weiss Kampus. «Deutlich komfortabler sind lamellenförmige Ohrstöpsel aus Silikon, die mehrfach wiederverwendet werden können und bis zu 20 Dezibel Dämmwirkung erzielen.» 

Für Kinder und Jugendliche, die regelmässig hohen Aussengeräuschen ausgesetzt sind, weil sie in einem Orchester oder einer Band spielen, gern in Clubs und auf ­Konzerte gehen oder gar in einer Musik-Bar jobben, lohne sich die Anschaffung eines professionellen Gehörschutzes, sagt Kampus: «Das sind relativ hochpreisige, individuell angefertigte Ohrstöpsel, die durch den Einsatz von Filtern eine lineare Dämpfung mit ausreichend Schutz und gutem Klang ermöglichen.» Alles in allem lassen sich Hörschäden durch Lärm also relativ leicht vermeiden, ohne auf angesagte Veranstaltungen, intensiven Musikgenuss und Spass am Feiern verzichten zu müssen.

Anja Lang
Anja Lang ist langjährige Medizinjournalistin. Sie ist Mutter von drei Kindern und lebt mit ihrer Familie in der Nähe von München.

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