Ruhe, bitte!
In Schulen und Kindergärten, aber auch zu Hause kann es empfindlich laut werden. Wie Lärm der Gesundheit von Kindern schadet und wie wir sie davor schützen können.
Ob Motorenlärm, dröhnende Musik bei Strassenumzügen oder das Gekreische der eigenen Geschwister und Kollegen: Kinder sind tagtäglich Lärm ausgesetzt.
Wie schädlich er ist, hängt davon ab, um welche Geräusche es sich handelt, wie laut sie sind und wie lange man ihnen ausgesetzt ist. Ein einziger Feuerwerkskörper, der in Ohrnähe explodiert, genügt, um das Gehör dauerhaft zu schädigen. Gleiches gilt für scheinbar harmlose Spielzeugpistolen, Trillerpfeifen und Luftballons: Ein Knall, Pfiff oder Platzen am Ohr und es ist im schlimmsten Fall taub. «Aurale Lärmwirkungen», sagen Expertinnen wie Maria Klatte dazu.
Ungesunde Dauerbelastung
«Das grössere Problem», sagt Klatte, «sind die extra-auralen Lärmwirkungen.» Diese Geräusche machen zwar nicht das Ohr kaputt, führen aber zu einer Stressbelastung, die sich auf Dauer negativ auswirken kann. Auf den Blutdruck zum Beispiel, auf den Schlaf oder auf die Fähigkeit, sich zu konzentrieren, etwas zu behalten und Sprache zu verstehen.
Klatte hat die Lesekompetenz von Schulkindern untersucht, die in der Nähe eines Flughafens wohnen und dort zur Schule gehen. Ein Ergebnis dieser sogenannten NORAH-Studie (Noise-Related Annoyance, Cognition, and Health) von 2017: Bei einer um 10 Dezibel höheren Fluglärmbelastung verzögert sich das Lesenlernen um etwa einen Monat. Bei 20 Dezibel sind es zwei Monate.
Bei 10 Dezibel mehr Fluglärm wird das Lesenlernen um einen Monat verzögert, bei 20 Dezibel um zwei Monate.
Warum ist das so? Weil man sich bei Lärm schlechter konzentrieren kann und schlechter versteht, was gerade gesagt wird. Kinder sind davon noch viel stärker betroffen als Erwachsene etwa in einem Grossraumbüro, weil sich die kognitiven Fähigkeiten in jungen Jahren erst entwickeln. Die Schüler lernen gerade, wie Buchstaben und Wörter klingen und Laute auseinanderzuhalten sind. Dabei sind Störgeräusche extrem hinderlich. «Je jünger die Kinder, desto gravierender wirkt Lärm auf das Sprachverstehen», sagt Maria Klatte. Das belegen Studien zur Akustik in Klassenräumen. «Erstklässler sind durch Lärm deutlich stärker beeinträchtigt als Drittklässler und diese deutlich stärker als Erwachsene.»
Und dafür braucht es nicht einmal Fluglärm. Auch in ruhiger gelegenen Schulen zeigen stichprobenartige Messungen, dass der Lärmpegel oft zu hoch ist. Vielerorts liegt die Nachhallzeit im Klassenzimmer über 0,6 Sekunden. Das ist jener Wert, den die auch in der Schweiz massgebende DIN-Norm 18041 für Schulräume eigentlich vorschreibt – und der offenbar zu selten eingehalten wird. «Dabei ist gute Akustik genauso wichtig fürs Lernen wie gutes Licht oder gute Luft.» Das sagt Kurt Eggenschwiler, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Akustik. 20 Jahre leitete der Ingenieur die Abteilung Akustik/Lärmminderung am Forschungsinstitut Empa in Dübendorf und weiss: «Wenn es in der Klasse lärmig ist, wird das Lernen behindert.» Kinder, die zu Hause eine andere Muttersprache sprechen, aber auch Kinder mit Lernschwierigkeiten oder Hörbeeinträchtigung trifft das besonders hart. Auch eine Fremdsprache erlernt sich schwieriger, wenn im Unterrichtsraum keine Ruhe herrscht.
Neubauten mit schlechter Akustik
Die meisten Störgeräusche kommen nicht durchs Fenster herein, sondern entstehen im Klassenzimmer selber. Das ist ganz normal: Stühle werden gerückt, jemand tuschelt oder scharrt unterm Tisch mit den Füssen, ein Schulthek fällt um. Problematisch wird dies nur, wenn der Raum keine gute Akustik hat. «In einem ordentlichen Klassenzimmer mit Akustikdecke und vielleicht sogar Akustikelementen an den Wänden, vielleicht auch noch einem Polstersofa, werden die Reflektionen gedämpft, die Sprache wird klarer, die Verständlichkeit besser», sagt Eggenschwiler.
Doch selbst bei Neubauten ist dies nicht selbstverständlich, im Gegenteil: «Wer wie heute üblich mit harten Oberflächen aus Glas und Beton baut, bekommt Hallräume mit schlechter Sprachverständlichkeit. Da drin wirds richtig laut, weil der Schall reflektiert wird», kritisiert Eggenschwiler. Kein guter Ort für eine Schule. Und wenn man ehrlich ist, auch kein idealer Platz für ein ruhiges Zuhause. In einer sparsam möblierten Grossraumwohnung mit nackten Wänden aus Glas und Stein mag es luftig und hell sein – aber wer erträgt dort einen Regentag mit spielenden Kindern?
Wie laut ist es bei uns zu Hause?
Läuft bei Ihnen ständig im Hintergrund das Radio oder kommen im Familienalltag auch Ruhepausen vor? Machen Sie den Lärm-Check. Ihre Antworten auf diese Fragen können dabei helfen, das eigene Verhalten zu überprüfen – und Sie vielleicht auf Ideen für einen ruhigeren Familienalltag bringen.
- Schalten Sie den Fernseher ein, sobald Sie nach Hause kommen?
- Läuft beim Essen immer Musik im Hintergrund?
- Benutzen die Kinder Kopfhörer mit Lautstärkebegrenzung?
- Haben Sie Kinderspielzeug, das laute Geräusche von sich gibt?
- Wenn Sie im Wohnzimmer in die Hände klatschen, gibt das einen unangenehmen Nachhall?
- Liegt im Kinderzimmer ein Teppich?
- Gibt es in Ihrem Zuhause bestimmte Räume, in denen alle leise sind?
- Wird Rücksicht genommen, wenn jemand gerade lernen oder Hausaufgaben machen will?
- Gehen Sie mit Ihren Kindern auf Veranstaltungen oder zu Indoor-Spielplätzen, die Ihnen eigentlich zu laut sind?
- Gönnen Sie Ihrer Familie im Alltag auch Ruhepausen?
- Gehen Sie regelmässig in die Natur?
- Geniessen Sie manchmal ganz bewusst die Ruhe, zum Beispiel im Wald?
- Lesen Sie vor dem Zubettgehen etwas vor oder singen gemeinsam ein Gutenachtlied?
Die Wohnung lässt sich nachrüsten
Wie laut ist es bei uns zu Hause? Auch diese Frage können sich Eltern einmal stellen und möglicherweise mit Schallabsorbern nachrüsten. Hinzu kommt, dass viele Kinder keinen eigenen Arbeitsplatz haben, wo sie ungestört Hausaufgaben machen können. Kleine Geschwister spielen im gleichen Zimmer, im Hintergrund läuft vielleicht noch der Fernseher oder Musik. «So etwas ist für Schulkinder sehr ungünstig», sagt die Entwicklungspsychologin Klatte, «denn sprachähnliche Geräusche lenken nicht nur ab, sondern dringen direkt ins Kurzzeitgedächtnis, das man fürs Kopfrechnen oder Lesen braucht.» Das Gehirn prüft selbst leise Gespräche unablässig auf uns betreffende Informationen. Dadurch werden Kapazitäten belegt, die eigentlich zum Lernen gebraucht werden. Neue Vokabeln finden keinen Platz.
Auch für jüngere Kinder ist ein lautes Zuhause nicht förderlich, unter anderem, weil Lärm sie beim Erlernen ihrer Muttersprache stört. Sie können ihre Eltern einfach nicht richtig verstehen, wenn nebenbei Kuscheltiere sprechen, Spieluhren dudeln und Kindertelefone klingeln. Lautes Spielzeug kann gar zu Hörschäden führen, wenn es nah ans Ohr gehalten wird. Am besten gar nicht erst kaufen oder die Lautstärke vorher am eigenen Ohr prüfen.
Das Gehirn prüft selbst leise Geräusche unablässig. Dadurch werden Kapazitäten belegt, die eigentlich zum Lernen gebraucht werden.
Es gibt noch mehr Möglichkeiten, um die Kinder vor Lärm zu schützen. Zunächst in der Schule: Natürlich sind die Schulleitungen in der Pflicht, für eine gute Raumakustik zu sorgen, aber als Elternteil kann und sollte man darauf drängen, dass die Akustik auch wirklich berücksichtigt wird, wenn die Schule saniert oder ein Neubau geplant wird. «Klassenräume sind Kommunikationsräume, und dafür müssen sie ausgestattet sein», sagt Klatte ganz deutlich. Auch in Gängen, Aula, Mensa und Sporthalle muss der Schall gedämpft sein, damit eine Atmosphäre entsteht, in der sich Kinder in Ruhe entwickeln können.
Gehörschutz ist keine Lösung
Seinem Kind einen Gehörschutz für die Hausaufgabenzeit mitzugeben, kann nur eine Übergangslösung sein, weil damit Kommunikation unterbunden wird. Das Kind schottet sich ab. «Eine gute Raumakustik ist keine Zauberei», betont die Lärmforscherin. In jedem normal gebauten Klassenraum lasse sich eine optimale Akustik erreichen. «Das Wissen ist da, nur oft nicht im Bewusstsein der Planer.» Bitten Sie darum, dass eine Messung durchgeführt wird und, falls nötig, eine Sanierung nach DIN 18041 erfolgt.
In der Verantwortung der Lehrkraft liegt es, den Unterricht so zu organisieren, dass sich die verschiedenen Arbeitsgruppen nicht stören. Sie oder er könnte zum Beispiel eine Lärmampel einsetzen, die der Klasse signalisiert, wenn es zu laut ist.
Zu Hause haben Eltern es selber in der Hand. Selbst wenn der Platz nicht für ein eigenes Zimmer reicht, können sie ihrem Kind eine ruhige Arbeitssituation ermöglichen. Dafür braucht es Familienregeln. Wenn Hausaufgaben gemacht werden oder für eine Klassenarbeit gelernt wird, sollte nebenbei kein Hörspiel laufen und nicht herumgeturnt werden. «Schützen Sie Ihre Kinder vor übermässiger Berieselung und vor lautem Spielzeug», rät Kurt Eggenschwiler. Geschwister müssen auch lernen, aufeinander Rücksicht zu nehmen. Mit der Playmobil-Feuerwehr spielen oder Klarinette üben können sie ja später wieder.
Eggenschwiler, Vater von vier Kindern, ist ein Fan von Ausgewogenheit: «Kinder sollen auch laut sein dürfen. Sie brauchen die Gelegenheit, sich zu bewegen, sich auszutoben, selber Lärm zu produzieren. Dann werden sie auch leise Situationen besser meistern.» Bei ihm wurde immer eine halbe Stunde Mittagsruhe gehalten. «Eine schöne Erholung für die ganze Familie. Kräfte tanken und danach kanns wieder richtig losgehen.» Fördern Sie das Bewusstsein für Stille. Das ist Maria Klattes Tipp. «Es geht nicht darum, mit erhobenem Zeigefinger zu sagen: ‹Pass auf, sonst gehen deine Ohren kaputt!› Wecken Sie lieber Begeisterung für dieses tolle Organ, das wir haben und mit dem wir vorsichtig umgehen müssen.» Wenn es ruhig ist, kann man andere Geräusche hören. Die Vögel im Innenhof. Klavierklänge von irgendwoher. Eine Fliege am Fenster. Den eigenen Atem.