Ruhe jetzt! - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Ruhe jetzt!

Lesedauer: 4 Minuten

Ein hoher Lärmpegel stresst Lehrende wie Lernende. So kommen Kinder in der Schule und zu Hause zur Ruhe.

Ich habe für meine zwei von ADHS betroffenen Schüler einen Gehörschutz gekauft, damit sie sich bei der Still­arbeit weniger ablenken lassen», erzählte eine Lehrerin bei einer Weiterbildung. «In den darauffolgenden Wochen kamen immer mehr Kinder auf mich zu und wollten ebenfalls einen Pamir haben. Am Ende sassen alle ausser einer mit Gehörschutz im Klassenzimmer. Das hat mir zu denken gegeben.»

«Kinder sind halt laut», ent­gegnen Eltern gerne, wenn der Geräusch­pegel der Kinder zur Sprache kommt. Dabei geht vergessen, dass Lärm nicht nur für die Erwachsenen, sondern auch für die Kinder zu einer grossen Belastung werden kann. 

Ein Siebenjähriger trifft den Nagel auf den Kopf: «Lärm ist nur toll, wenn man ihn selber macht. Sonst nervt er.»

Je nach Studie geben zwischen 50 und 90 Prozent der Lehrpersonen im deutschsprachigen Raum an, dass Lärm für sie ein zentraler Stressfaktor bei der Arbeit ist. Am stärksten leiden Primarlehrerinnen und -lehrer unter dem hohen Geräusch­pegel. 

Kinder reagieren auf Lärm mit einer erhöhten Ausschüttung von Stresshormonen, welche den Puls und den Blutdruck in die Höhe schnellen lassen. Sie können sich schlechter konzentrieren, wirken zerstreut und haben Probleme, sich Inhalte zu merken. Manche Studien weisen sogar nach, dass Lärmbelastung die Entwicklung im Sprechen, Hörverstehen und Lesen hemmt. 
Auf der emotionalen Ebene reagieren Kinder und Jugendliche mit einer höheren Reizbarkeit und Aggressivität. Manche ziehen sich in ihre Innenwelt zurück im Versuch, den Lärm auszublenden.

Räumliche Anpassungen, Musik, Naturgeräusche

Heute fehlt vielen Schülerinnen und Schülern zudem die Möglichkeit, sich über den Mittag ausreichend von der Lärmbelastung zu erholen, da sie das Mittagessen vielleicht im Hort oder in einer grossen Mensa einnehmen, wo sie wieder im Trubel sitzen. 

Kinder und Jugendliche reagieren mit einer höheren Reizbarkeit und Aggressivität auf Lärm. Manche ziehen sich in ihr Inneres zurück.

Natürlich ist absolute Ruhe in der Schule eine Illusion, aber es lässt sich einiges tun, um die Lärmbelastung wenigstens ein Stück weit zu reduzieren.

Manche Schulen behelfen sich mit Filzgleitern unter den Stuhl- und Tischbeinen, Schallabsorbern aus Schaumstoff und Korkwänden oder montieren eine Akustikdecke, damit es weniger hallt. Das kann einen spürbaren Effekt haben: In einer Messung des Instituts für interdisziplinäre Schulforschung konnte gezeigt werden, dass die Herzfrequenz von Lehrpersonen in schallsanierten Räumen um zehn Schläge pro Minute niedriger war als in normalen Klassenzimmern. 

Mehrere Lehrpersonen haben uns von positiven Erfahrungen mit ruhiger Hintergrundmusik berichtet. Während der Stillarbeit dürfen die Schüler/innen leise Instrumentalstücke hören. Weil die Lernenden der Musik lauschen möchten, sprechen sie beispielsweise bei Partnerarbeiten automatisch leiser. Studien zeigen zudem, dass Kinder mit Konzentrationsschwierigkeiten bei leiser Hintergrundmusik fokussierter arbeiten können. Geeignete Musik findet man unter dem Suchbegriff «Konzentrationsmusik» im Internet. Wichtig ist dabei: nicht zu schnell, zu rhythmisch oder abgehackt, nicht zu laut – und ohne Gesang.

Auch Naturgeräusche – etwa Wasserrauschen, Urwaldgeräusche oder Vogelgezwitscher – können nachweislich die Aufmerksamkeit steigern, das sympathische Nervensystem beruhigen und dadurch Stress reduzieren, die Stimmung heben – und für mehr Ruhe im Klassenzimmer sorgen. 

Ich freue mich immer, wenn ich bei Spaziergängen im Wald nahe unserer Wohnung auf Lehrpersonen treffe, die einzelne Schulstunden mit ihrer Klasse im Grünen abhalten. So viele zufriedene und aufmerksame Gesichter! 

Gemeinsam mit den Schülerinnen für mehr Ruhe sorgen

«Jetzt seid mal leise!», «Ruhe bitte!» – meist muss die Lehrperson alleine für Ruhe sorgen und die Lernenden müssen sich anpassen. Wer mithelfen möchte und sich als Schüler mit einem «Psst!» zu seinen Klassenkameraden umdreht, wird schnell als Streber abgestempelt. 

In ­schallsanierten Räumen ist die Herzfrequenz von Lehrern um zehn Schläge pro Minute niedriger als in normalen Klassenzimmern.   

In dieser Dynamik bemerken die Lernenden meist gar nicht, dass der Lärmpegel auch sie selbst stört und sich viele Mitschülerinnen und Mitschüler ebenfalls nach mehr Ruhe sehnen.  

Oft ist es bereits hilfreich, die Klasse für das Thema zu sensibilisieren. Gemeinsam kann darüber gesprochen werden, warum es schön ist, stille Momente zu geniessen und möglichst ungestört arbeiten zu können. Vielleicht findet die Klasse kreative Ideen, wie mehr Ruhe Einzug halten könnte? 

Möglichkeiten wären:

  • Eine Lärmampel, die den Dezibelwert misst und mittels eines grünen, orangefarbenen und roten Lichtsignals anzeigt, ab wann es zu laut wird. So erhalten die Schülerinnen und Schüler eine unmittelbare Rückmeldung, ohne dass sich die Lehrperson den Mund fusslig reden muss. Die neueren Lärmampeln lassen sich sogar individuell einstellen.
  • Eine kurze Achtsamkeitsübung am Morgen oder nach der grossen Pause, um zu sich zu kommen und sich zu sammeln. Für einen Moment dem eigenen Atem folgen, sich auf den Klang eines Gongs fokussieren oder bewusst den eigenen Körper wahrnehmen – es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten.
  • Ein- bis zweimal pro Lektion eine kurze, ein- bis zweiminütige Minipause, in der die Fenster geöffnet werden und vielleicht sogar der Blick aus dem Fenster ins Grüne oder auf ein Naturbild schweifen kann. Eine Studie aus Bremen konnte zeigen, dass regelmässiges zweiminütiges Lüften den Lärmpegel nicht nur unmittelbar, sondern auch langfristig verringert. 

Dem Bedürfnis nach Ruhe und Stille kann auch innerhalb der Familie bewusst Rechnung getragen werden. Je nach Familiensituation eignen sich dazu unterschiedliche Rituale. Ein kurzes Schläfchen über Mittag oder nach der Schule hilft dabei, die Batterien wieder aufzuladen. ­An­dere bevorzugen einen Spaziergang an der frischen Luft. Eine Familie mit drei Kindern zwischen sieben und dreizehn Jahren hat nach dem Abendessen eine «Ruhestunde» eingeführt, in der alle Familienmitglieder lesen oder mittels Kopfhörer ein Hörbuch hören, für sich etwas spielen oder einfach ihren Gedanken nachhängen können. Schon bald wurde dies für die ganze Familie zu einer liebgewonnenen Gewohnheit und für die Eltern zu einer wertvollen Pause. Wie ist das bei Ihnen? Wie finden Sie in Ihrer Familie oder Ihrem Klassenzimmer zu ruhigen Momenten?


Zur Autorin: 

Stefanie Rietzler ist Psychologin und Autorin («Geborgen, mutig, frei – wie Kinder zu innerer Stärke finden», «Erfolgreich lernen mit ADHS», «Clever lernen»). Gemeinsam mit Fabian Grolimund leitet sie die Akademie für Lerncoaching, ein Beratungs- und Weiterbildungsinstitut mit Sitz in Zürich: www.mit-kindern-lernen.ch, www.biber-blog.com. Stefanie Rietzler lebt mit ihrem Mann in Zürich. 

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  • «Du gehst jetzt raus, bis du dich wieder beruhigt hast»
    Oft sind Kinder so gefangen in ihrer Wut, dass sie andere mit ihren Ausrastern ängstigen. Viele Eltern und Lehrpersonen verordnen dem tobenden Kind dann eine «Auszeit». Dabei wäre es förderlicher, sich in das Kind hineinzufühlen und ihm zu helfen, seine Wut in Worte zu fassen.
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