Soforthilfe für ADHS-betroffene Familien
Der Alltag mit ADHS stellt Familien vor besondere Herausforderungen. Was hat sich in den letzten Jahren im Umgang mit ADHS verändert und welche Fragen beschäftigen Eltern in der aktuellen Corona-Ausnahmezeit am meisten? Wir haben bei der Fach- und Beratungsstelle elpos nachgefragt.
Die Stimme von Lisbeth Furrer ist herzlich und tiefenentspannt: «Es sind nicht mehr hauptsächlich Eltern von auffälligen Buben, sondern zunehmend auch von stillen Mädchen sowie Erwachsene, die uns im Zusammenhang mit einer möglichen oder bestehenden Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS)-Diagnose kontaktieren», sagt die Leiterin von elpos Zentralschweiz bei unserem Telefongespräch.
Die 57-Jährige arbeitet seit 2013 für elpos Zentralschweiz, einem Regionalverband unter dem Schweizer Dachverband für ADHS elpos Schweiz. Als Mutter war sie selbst mit einem ADHS-betroffenen Kind in der Familie unterwegs.
Dank den unterstützenden Inputs von elpos konnte sie gestärkt durchs Leben navigieren. In ihrer Funktion als Fachstellenleiterin und ADHS Coach icp möchte sie die vielseitigen Erfahrungen und das breite ADHS-Fachwissen an andere Familien, Betroffenen und deren Umfeld weitergeben.
Frau Furrer, Sie beraten Familien seit bald zehn Jahren rund um das Thema ADHS. Welche Fragen beschäftigen Eltern am meisten?
Wir erhalten nach wie vor viele Anfragen zur ADHS-Diagnose und den verschiedenen Therapiemöglichkeiten. In den letzten Jahren und gerade auch aktuell in den letzten Monaten mit Corona erreichen uns aber zunehmend Anrufe aus einer Notsituation heraus. Bei den betroffenen Familien liegt ein akutes Problem vor und sie wissen nicht mehr weiter. Oder anders gesagt: Die Anfrage nach Sofort-Hilfe und Strategien für den Familienalltag hat stark zugenommen.
Können Sie uns ein Beispiel nennen?
Nehmen wir das Thema Hausaufgaben. ADHS-Betroffenen fällt es schwer, sich längere Zeit zu konzentrieren. Sie sind rasch abgelenkt, träumen vor sich hin oder können plötzlich ausrasten oder sich nicht dafür motivieren. Die täglich anfallenden Hausaufgaben können zum Dauerkonflikt führen.
Wie lässt sich die Situation entschärfen?
In unseren telefonischen Beratungsgesprächen hören wir zunächst einfach zu. Wir nehmen uns bis zu 60 Minuten Zeit. In einem ersten Schritt hilft es den meisten schon sehr, wenn sie ihre Sorgen aussprechen und sich jemandem anvertrauen können. Dann schauen wir uns die Situation genauer an: Was ist das Thema? Welche Regeln gelten? Sind diese hilfreich? Wie könnten gemeinsam Regeln erarbeitet werden? Was braucht es, damit die Umsetzung gelingt? Und was gilt, wenn diese nicht eingehalten wird?
Eltern sehen oft nur noch die Schwächen des Kindes. Ich frage dann immer: Was läuft gut? Und lasse sie eine Plus-Minus-Liste erstellen. Dann sehen sie, dass es meist viel mehr Positives hat, als ihnen bewusst ist.
Könnten Sie das am Thema Hausaufgaben aufzeigen?
Ganz wichtig ist, dass das betroffene Kind stets miteinbezogen wird und man nicht über seinen Kopf hinweg bestimmt. Sonst machen Regeln keinen Sinn. Folgende Fragen können weiterhelfen: Welche Zeit eignet sich für die Hausaufgaben am besten? An welchem Ort kann sich das Kind gut konzentrieren und welche Hilfsmittel und Strukturen braucht es, um die Aufgaben zu erledigen? Gibt es einen Rückzugsort für das Kind, wo es zur Ruhe kommt, wenn es mit den Hausaufgaben nicht klappt oder einen Boxsack, um einen möglichen Wutanfall abzufangen? Dies gilt es in einem ruhigen Moment zu besprechen. Mitten in einem Wutanfall bringen Gespräche nichts.
Zurück zur Zunahme nach Sofort-Hilfe. Sehen Sie einen Zusammenhang mit Corona, dass verschiedene Kontakte oder Kontrollmechanismen immer noch vermindert stattfinden und sich Probleme akuter und gezielter in der Familie zeigen?
Die lange andauernde und ständig mit vielen Wechseln belastete Pandemie-Phase fordert das Familiensystem und unsere ganze Gesellschaft sehr. Viele sind mit Ängsten und Konflikten konfrontiert, welche neu sind. Zum Glück wird Hilfe in Anspruch genommen, wenn die Not gross ist. Die Nachfrage hat das bestehende Angebot an die Grenzen gebracht. Da die Anspannung sehr breit ausgeprägt ist und Eskalationen schneller und heftig sind, braucht es sofort eine Anlaufstelle. Lange Wartezeiten sind da schwierig. Hier können wir echte Hilfe leisten und vieles abfedern.
1. Positiv denken
Lassen Sie am Abend jedes Kind erzählen, was an diesem Tag besonders schön war. Führen Sie eine Liste mit erfreulichen Ereignissen. Lächeln. Suchen Sie sich Weggefährtinnen und Weggefährten, die Sie verstehen. Die Zeit und Begleitung, welche Sie Ihren Kindern schenken, ist eine Investition in die Zukunft.
Lesen Sie hier die weiteren Tipps der ADHS-Organisation elpos.
Welche Tipps oder Strategien haben Sie sonst noch für Eltern in Not?
Eltern sehen oft nur noch die Schwächen des Kindes. Ihr Kind stört in der Schule oder auch in seinem sozialen Umfeld, ist aggressiv, nervt oder ist zu verträumt. Ich frage dann immer: Was läuft gut? Und lasse sie eine Plus-Minus-Liste erstellen. Dann sehen sie schwarz auf weiss, dass es meist viel mehr Positives hat, als sie sich bewusst sind. Das entlastet und motiviert bei etwas Schwierigerem anzusetzen.
Manchmal fehlt es den Betroffenen auch an Geduld. ADHS kann Menschen ein Leben lang begleiten. Es ist nicht mit zwei Sitzungen bei der Kinesiologin erledigt.
Es tut auch den betroffenen Kindern gut, wenn nicht nur auf ihren Schwächen herumgeritten wird.
Auf jeden Fall, wie jedem Menschen. ADHS-betroffene können grossartige Stärken haben. Sie sind oftmals äusserst ideenreich, kreativ, empathisch, verfügen über einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn oder können sehr leistungsfähig, enthusiastisch und charmant sein.
- Entlastung: ADHS ist erklärbar und niemand ist «schuld».
- ADHS ist mittlerweile gut erforscht und damit hat sich eine grosse Bandbreite an Unterstützungsmöglichkeiten entwickelt.
- Sie als Eltern können das Kind in der Entwicklung positiv begleiten und auch für sich, als Paar und/oder für Geschwisterkinder Freiräume gestalten.
- Im schulischen Umfeld ergeben sich mit einer Diagnose konkrete Unterstützungsangebote für das betroffene Kind.
In Ihren Standortgesprächen bieten Sie auch Beratungen zu den verschiedenen Therapiemöglichkeiten an. Wie gehen Sie dabei vor?
Uns ist wichtig, dass wir die Therapieformen neutral und fundiert erklären. Dabei motivieren wir auf eine massvolle multimodale Therapiewahl, welche auf die betroffene Person sowie auf das Umfeld abgestimmt ist. Wir helfen Ängste abzubauen und versuchen die Neugierde auch für Alternativen sowie eine bewegungsfreundliche Freizeitgestaltung zu wecken. Im Vordergrund steht eine Analyse der aktuellen Situation. Was wurde bereits gemacht und wo besteht Handlungsbedarf? Mal da und mal dort etwas auszuprobieren, ist eher problematisch. Manchmal fehlt es den Betroffenen auch an Geduld. ADHS kann Menschen ein Leben lang begleiten. Es ist nicht mit zwei Sitzungen bei der Kinesiologin erledigt.
Der Schweizer Dachverband für ADHS elpos bietet Mitgliedern kostenlose Beratungen, günstige Coaching-Angebote, informative Veranstaltungen und fundierte Lektüre rund um ADHS. Sie vermittelt Fachpersonen und organisiert verschiedene Ferienlager und sportliche Aktivitäten für ADHS-Kinder.
Weitere Informationen finden Sie hier.
Wie steht es um die Akzeptanz von ADHS? Hat sich da in den letzten Jahren etwas verändert?
ADHS ist mittlerweile gut erforscht und es gibt eine grosse Bandbreite an Unterstützungsmöglichkeiten. Die Diagnose schafft Klarheit und Entlastung: ADHS ist erklärbar und niemand ist «schuld». Man kann ADHS zwar nicht röntgen wie einen Beinbruch. Die Diagnose funktioniert nach einem sorgfältigen und aufwändigen Ausschlussverfahren durch eine Fachperson. ADHS-Betroffene können ganz unterschiedliche Ausprägungen zeigen. Mittlerweile sind es nicht mehr hauptsächlich die auffälligen Buben, sondern zunehmend auch die stillen Mädchen, die erkannt werden. Oft sind gute kognitive Fähigkeiten vorhanden, welche mit hilfreichen Therapien und Strategien zum Blühen gebracht werden können.