Akupunktur ohne Nadeln für Kinder
Bei Akupunktur werden viele Menschen skeptisch. Nadeln im Körper? Bitte nicht! Und schon gar nicht für Kinder. Doch es gibt eine sanfte Alternative: Shōnishin. Die Heilmethode kommt ganz ohne Piekser aus, ist aber nicht weniger wirksam als die Behandlung mit Nadeln.
Gehören Sie zu den Menschen, die bei einer Blutentnahme beim Arzt die Augen schliessen, sobald sich die Nadel nähert? Dann sind Sie nicht allein. Ich bin mindestens so ängstlich wie Sie. Oder noch ängstlicher. Deshalb kam Akupunktur für mich nie in Frage – bis ich Christina Aubert traf.
Die Therapeutin in Traditioneller Chinesischer Medizin (TCM) aus Zürich war buchstäblich meine letzte Rettung, als meine Schwangerschaftsübelkeit (im Fachjargon «Hyperemesis gravidarum» genannt) so heftig war, dass ich nachts deswegen aufwachte.
Meine allererste Begegnung mit Akupunktur habe ich nie vergessen. Nach der Anamnese und der Pulsmessung musste ich Christina Aubert meine Zunge herausstrecken – was in unserer westlichen Welt schon Kleinkindern untersagt ist, ist in der chinesischen Medizin ein Muss für die Diagnose.
TCM-Therapeuten sehen in der Zunge das Spiegelbild des Körpers, eine Art Gegenstück zu den bildgebenden westlichen medizinischen Mitteln. Störungen im körperlichen Mechanismus manifestieren sich in der Zunge in den fünf Aspekten Farbe, Form, Belag, Feuchtigkeit sowie Geist.
Eine gesunde Zunge, so heisst es, ist frei beweglich, zittert nicht, ist leicht feucht und glänzend, sie hat einen dünnen, weissen, gleichmässigen Belag, weist keine Flecken auf und der Zungenkörper hat eine schöne, leicht rötliche Farbe. Meine Zunge sah, man kann es sich vorstellen, ganz anders aus: weisslich, schlaff und rissig, kurz: aus dem Lot. Die TCM-Fachfrau hatte diesen berühmten Blick, von dem man ahnt, dass er nichts Gutes verheisst. Ihr Urteil: «Oje.» Mein Körper war nicht im Gleichgewicht. In der TCM-Fachsprache heisst das: Yin und Yang in Disharmonie.
Wenn die Wärme fehlt
Yin und Yang sind Bezeichnungen für universelle Ordnungsprinzipien. Beide müssen im Gleichgewicht sein. Sind sie es nicht, manifestieren sich Beschwerden und Krankheiten. Yin besteht nicht ohne Yang, alles, was existiert und sich verändert, so die Philosophie dahinter, entsteht im Zusammenspiel von Yin und Yang. In der chinesischen Lautschrift stellt Yin einen Hügel mit Schattenseite dar, das Yang einen Hügel mit Sonnenseite. Obwohl Yin und Yang Gegensätze charakterisieren (Schatten / Licht, Kälte / Hitze, Wasser / Feuer), schliessen sie sich nicht aus, sondern ergänzen sich.
Störungen von Yin und Yang bilden das Fundament der TCM. Hat der oder die Betroffene zu wenig Yang, friert die Person und braucht als Ausgleich viel Wärme – auch und vor allem in Form von warmen statt kalten Mahlzeiten. Da ich genau darunter litt, musste ich meine Ernährung umstellen. Also Suppe statt Salat zum Lunch und Porridge statt Birchermüesli zum Frühstück, dazu ein spezieller Kräutertee. Sport auch nur sehr dosiert.
Eine Besserung trat schon nach der ersten Behandlung auf.
Stifte statt Nadeln?
Als Erwachsene wöchentlich mit Nadeln behandelt zu werden, ist das eine. Kinder nadeln zu lassen, das andere. Für Kinder ab Neugeborenen- bis Jugendalter (und auch für nadelängstliche Erwachsene) gibt es eine sanfte Alternative: die japanische Kinderakupunktur Shōnishin. Shōnishin leitet sich aus den zwei japanischen Wörtern shōni = Kind und shin = Nadel / Nadelung ab.
Shōnishin wird auch in der Schweiz von TCM-Therapeuten mit entsprechender Aus- und Weiterbildung praktiziert – zum Beispiel von der Bernerin Beatrice Barmettler. Sie sagt: «Shōnishin ist eine Form der Kinderakupunktur, wie sie in Japan seit Jahrhunderten praktiziert wird.» Dort habe sie eine lange Tradition. Shōnishin werde dort als Immunisierung, Selbststärkung und Gesundheitsprophylaxe gleich nach der Geburt angewendet oder als Geschenk frischgebackenen Eltern überreicht, erklärt Beatrice Barmettler. «Dahinter steht der Gedanke, dass das Kind erst auf der Welt ankommen und seinen Platz ausserhalb des Mutterleibs finden muss. Shōnishin ist ein Mittel dazu.»
Wie funktioniert Shōnishin?
Anders als die Akupunktur für Erwachsene ist Shōnishin nicht-invasiv. Die Kinder werden stattdessen mit verschiedenen Instrumenten, darunter ein kleines Stäbchen mit rundem Kopf, behutsam gestreichelt.
TCM-Therapeutin Beatrice Barmettler bearbeitet damit bestimmte Reflexzonen, Meridianabschnitte und Akupunkturpunkte auf der Hautoberfläche. Sie streichelt, klopft oder drückt ganz leicht bestimmte Punkte, damit wie in der klassischen Erwachsenen-Akupunktur die Lebensenergie Qi (sprich «Tschi», wörtlich übersetzt: «Speisedampf») fliesst, das vegetative Nervensystem harmonisiert und Yin und Yang ausbalanciert werden.
Alles, damit die Lebensenergie Qi, die in unsichtbaren Bahnen durch den Körper gleitet, wieder störungsfrei fliessen kann. Die Leitbahnen dieser Energie sind die Meridiane. Sind sie gestört, spricht man von Disharmoniemustern im Körper. Weil gemäss TCM die Meridiane das Körperinnere mit dem Äusseren verbinden, geht man davon aus, dass eine Störung in den Leitbahnen von aussen korrigiert werden kann.
«Es fühlt sich an, als ob die Haut ganz leicht gestreichelt würde.»
Beatrice Barmettler arbeitet als TCM-Therapeutin
Ähnlich wie Osteopathie?
Traditionell schulmedizinisch werden KiSS-Babys manualtherapeutisch behandelt – mittels Chiropraktik, Osteopathie oder Craniosakral-Therapie. «Bei etwa 20 bis 25 Prozent der Babys konnte man ein Wiederauftreten dieser Blockierung nach zwei bis vier Wochen beobachten», sagt Thomas Wernicke. «Erst nachdem vor etwa zehn Jahren zusätzlich zur manuellen Behandlung die japanische Kinderakupunktur Shōnishin in das Behandlungskonzept integriert wurde, konnte eine Abnahme der Rückfallrate registriert werden.» In der Folge untersuchte Wernicke 40 sechs bis zwölf Wochen alte Babys mit KiSS-Syndrom und behandelte sie allein mit Shōnishin.
57,5 Prozent der behandelten Babys wiesen nach dreimaliger Shōnishin-Behandlung im Wochenabstand keine Blockierung mehr im Kopfbereich auf, rund 75 Prozent der vorher schiefen Babys zeigten keine Asymmetrie mehr und es kam zu einer Besserung der vegetativen Begleitsymptome wie exzessives Schreien oder Schlafstörungen. «Dies lässt den Schluss zu», sagt Wernicke, «dass Shōnishin eine wirksame Behandlungsmethode darstellt.»
Schnelle Besserung nach wenigen Behandlungen
Von der Wirksamkeit überzeugt ist auch Beatrice Barmettler. Sie sei immer wieder überrascht, wie gut und schnell Kinder auf Shōnishin reagierten. «Kinder benötigen nur sanfte Reize, um den Körper gezielt zu stimulieren. So reichen oft drei Grundbehandlungen aus, fast allen Kindern geht es aber schon nach einer einmaligen Behandlung markant besser.» Bei hartnäckigen Beschwerden seien manchmal, so Barmettler, mehrere Sitzungen notwendig.
Wenn sich die Beschwerden mit Grundbehandlungen nicht oder zu wenig verbessern, wird gezielt mit Meridianumläufen behandelt oder ein oder mehrere Punkte je nach Beschwerdebild gezielt behandelt. In der TCM gibt es rund 365 Akupunkturpunkte auf den verschiedenen Meridianen, und jeder Punkt besitzt eine eigene therapeutische Bedeutung. Manche Kinder erhalten zusätzlich auch Sprays mit einer Kräutermischung.
Wer spricht auf eine Shōnishin-Behandlung an?
Nicht nur Babys und Kleinkinder, auch Schulkinder und Teenager können mit Shōnishin behandelt werden, sagt Beatrice Barmettler. Diffuse Ängste, Prüfungsangst oder generelle Schulangst komme häufig vor. Kinder, die unter Stress stehen, haben laut TCM oft eine Leber-Qi-Stagnation und sind angespannt. Diese Anspannung führt zu Muskelverspannungen, aber auch zu einer Hitze im Herzmeridian – der wiederum gemäss TCM für die geistige Kraft und deren Koordination zuständig ist. Die Folge: Das Kind kann sich schwer konzentrieren und schläft schlecht. Auch das sogenannte «Shen», der Geist im Herz, ist beeinträchtigt.
Je nach weiterem Beschwerdebild würde eine Behandlung also das Leber-Qi beruhigen und die Hitze ausleiten. Gleichzeitig muss oft auch die Nierenenergie gestärkt werden, um die Herzachse auszugleichen und die Mitte aufzubauen. «Um all dies genau festzustellen, ist eine ausführliche Anamnese sehr wichtig», erklärt Beatrice Barmettler.
In der TCM wird eher qualifiziert als quantifiziert.
Diese TCM-Sprache hört sich für viele seltsam an. Während für die westlichen Wissenschaften und die Medizin Mathematik und Physik massgebend sind, wird in der TCM eher qualifiziert denn quantifiziert, statt mit Zahlenskalen zu messen, wird beobachtet und werden Entsprechungen bei Naturgesetzen gesucht.
Genau deshalb stellen TCM-Kritiker gerne die Wirksamkeit dieser Therapien in Frage, kritisieren die fehlende Ratio oder argumentieren, dass Akupunktur nur bei akuten Schmerzzuständen wirke und bei psychischen Problemen eine Art Placebo-Wirkung habe.
Andere, vorwiegend deutsche Stimmen halten dem entgegen – etwa Ulrich O. H. Frieling, Arzt für Innere Medizin und TCM-Therapeut. Gerade bei Prüfungsangst wirke die Akupunktur gemäss seinen Beobachtungen deutlich, sagt er.
Wirkt Akupunktur auch bei ADS und ADHS?
Die deutsch-chinesische Kinderärztin und TCM-Spezialistin Helen Wai-Ngan Schreiber behandelt in ihrer Praxis ADS /ADHS-Kinder alternativ mit Akupunktur und kann die Wirksamkeit in einer Beobachtungsstudie belegen.
Die sogenannte Hyperaktivität ist ein Beschwerdebild, das die Chinesen Unruhe des Geistes und Unruhe des Körpers nennen. Es gehe dabei, so Helen Wai-Ngan Schreiber, darum herauszufinden, an welcher Stelle das grösste Ungleichgewicht entstanden sei, um dort einen Impuls zum Ausgleich zu setzen. Sie behandelt mehrere Kinder, die zuvor Psychopharmaka nahmen und bei denen durch die TCM-Behandlung nach ihren Angaben eine Besserung eintrat.
Und im New Yorker Lincoln Hospital wurden bereits 1999 in einer Pilotstudie ADHS-Kinder mit kleinen magnetischen und vergoldeten Stahlkügelchen («Perlen») behandelt, die in Form von Heftpflastern auf die Rückseite beider Ohren geklebt wurden – eine einfache Form von Akupressur. Diese Pflaster wurden nicht stimuliert und wöchentlich ausgetauscht. Die Mütter wurden in die Behandlung miteinbezogen.
Bereits nach wenigen Wochen sahen die Psychiater bei den Kindern erhebliche Effekte bezüglich verminderter Unruhe, besserer Konzentration und besserer Testergebnisse.
Die Tuina-Massage
Bei manchen Kindern kommt auch die Tuina-Massage in Frage. Diese wird seit mehr als 2000 Jahren angewandt und ist wie die Akupunktur und die chinesische Kräutermedizin Teil einer jahrtausendealten Erfahrungsmedizin. Tuina setzt sich zusammen aus den chinesischen Wörtern «tui« (schieben, drücken) und «na» (greifen, ziehen), da diese manuellen Techniken ohne Nadeln auskommen. Eine spezielle Form der Tuina findet sich in der Kinderheilkunde.
Wie erfolgreich TCM-Therapien gerade bei ADHS sind, muss in evidenzbasierten Studien noch gezeigt werden. Insgesamt ist es jedoch nicht falsch, von einem Boom in der Anwendung von komplementärmedizinischen Behandlungen zu sprechen.
Laut Institut für Komplementärmedizin in Bern ist die Anzahl der registrierten TCM-Forschungsarbeiten in den letzten Jahren stark gestiegen. Allein im Jahr 2011 wurden zum Thema Akupunktur bis Ende November 148 Artikel in Zeitschriften der medizinischen Datenbank Pubmed gelistet.
- Wenn die Eltern der Akupunktur gegenüber positiv eingestellt sind, haben auch die Kinder keine Angst.
- Vor dem ersten Besuch sollte ein rund 20-minütiges Telefongespräch stattfinden, in welchem eine Anamnese sowie allfällige Probleme besprochen werden – dies, um bei der Behandlung nicht über das, sondern mit dem Kind sprechen zu können.
- Sätze wie «es tut nicht weh» oder «habe keine Angst» unbedingt vermeiden – diese Worte verursachen im Kind Angst und Unsicherheit.
Der geheilte Journalist
«Der Westen liebt die TCM», resümiert der Sinologe und Kenner der Originalliteratur der chinesischen Medizin, Paul Unschuld. Das ist insofern bemerkenswert, als die TCM in der westlichen Welt erst seit 1971 bekannt ist. Der Legende nach soll ein Journalist namens James Reston den damaligen Sicherheitsberater Henry Kissinger anlässlich einer Reise in China begleitet haben. Reston erlitt eine Blinddarmentzündung und musste operiert werden, schreibt Paul Unschuld in seinem Buch «Was ist Medizin?».
Als Reston aufwachte, sah er, wie die Ärzte seinen postoperativen Schmerz mit Akupunktur behandelten. Das hat ihn so beeindruckt, dass er wenig später einen Artikel schrieb, den die «New York Times» am 26. Juli 1971 unter dem Titel «Now, about my operation in Peking» veröffentlichte – auf der ersten Seite. Das war, so Unschuld, der Auslöser der Faszination für die Traditionelle Chinesische Medizin im Westen.