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Was Lehrpersonen dafür tun können, dass Kinder Mitschülerinnen und Mitschüler akzeptieren, die Verhaltensauffälligkeiten zeigen, und ihnen mitfühlend begegnen.
Für junge Heranwachsende mit Verhaltensproblemen oder schulischen Schwierigkeiten kann die Schule ein hartes Pflaster sein. Viele dieser Kinder werden von Gleichaltrigen eher ausgeschlossen als normal entwickelte Kinder.
Sich mit einer Klassenkameradin anzufreunden ist zwar eine persönliche Entscheidung, doch die aktuelle Forschung zeigt, dass im Klassenzimmer geltende Normen dabei eine Rolle spielen. Sie können beeinflussen, wie Kinder Inklusion wahrnehmen und ob sie diese als vorteilhaft oder als unnötig empfinden. Somit beeinflussen Klassennormen ganz allgemein auch die Haltung von jungen Heranwachsenden gegenüber Kindern mit Verhaltensproblemen oder schulischen Schwierigkeiten.
Während eines Jahres nahmen 1209 Kinder aus 61 Schweizer Schulklassen an einer Studie der Pädagogischen Hochschule Luzern teil. Die Studie analysierte die Auswirkungen inklusiver Klassennormen auf das Mitgefühl und die inklusive Haltung gegenüber hyperaktiven Klassenkameraden. In allen Klassen erhielt mindestens ein Kind zusätzliche Unterstützung durch eine Lehrperson mit einer sonderpädagogischen Ausbildung. Bis zu sieben Kinder pro Klasse hatten die Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS).
Die Studie hatte zwei Messzeitpunkte: am Ende der 5. Klasse und ein Jahr später am Ende der 6. Klasse. Zu beiden Messzeitpunkten präsentierten die Forscherinnen den Schülerinnen und Schülern eine hypothetische Geschichte mit einem hyperaktiven Protagonisten. Danach wurden die Schülerinnen und Schüler gebeten, einen Fragebogen auszufüllen, der ihr Mitgefühl mit dem Protagonisten bewertete und die Wahrscheinlichkeit einschätzte, wie sie dieses Kind in ihre sozialen Aktivitäten einbeziehen würden.
Kinder aus inklusiveren Klassenzimmern bringen eher Verständnis für hyperaktive Gleichaltrige auf.
Um die Klassennormen zu evaluieren, wurden den Schülerinnen und Schülern anschliessend sechs weitere Fragen gestellt. Sie mussten sagen, wie ihrer Meinung nach ihre Klassenkameraden und -kameradinnen auf Situationen reagieren würden, in denen der hyperaktive Protagonist ausgeschlossen würde. Eine Frage lautete etwa: «Wie viele Kinder in deiner Klasse würden Klaus/Maria – das heisst die hyperaktive Figur in der Geschichte – in ihre Arbeitsgruppe aufnehmen?» Die Antwortmöglichkeiten reichten von 1 = «Keines» bis 4 = «Alle».
Die subjektive Wahrnehmung aller Schülerinnen und Schüler über das Verhalten des Klassenkameraden wurde anschliessend zusammengefasst, um ihre gemeinsame Einschätzung des Klassenumfeldes und daraus dessen Normen abzuleiten. Die Forschenden stützten ihre Annahmen dabei auf frühere Studien, indem Sie die Inklusivität der Normen von jedem einzelnen Klassenzimmer auf einer Systemebene beurteilten und die verschiedenen Klassenzimmer auf einer Skala verglichen.
Kompetitive Normen fördern die Ausgrenzung
Die Studie kam zum Ergebnis, dass Kinder aus inklusiveren Klassenzimmern eher Verständnis für hyperaktive Gleichaltrige aufbringen und allgemein eine inklusive Haltung gegenüber Kindern mit Verhaltensproblemen entwickeln. Weiter ergab die Studie, dass die Art und Weise, wie einzelne Kinder das inklusive Verhalten ihrer Klassenkameradinnen wahrnehmen, einen grossen Einfluss darauf hat, wie wahrscheinlich es ist, dass sie mit hyperaktiven Gleichaltrigen mitfühlen und diese in ihre Aktivitäten einbeziehen.
«Inklusive Normen in Klassenzimmern sind wertvolle Bezugspunkte für Kinder, die einen positiven Effekt auf deren Verhalten gegenüber ihren hyperaktiven Klassenkameraden haben», erklärt Jeanine Grütter, Mitglied des Forschungsteams. Grütter ist an der Pädagogischen Hochschule Luzern tätig. Kinder mit eher kompetitiven Normen schliessen dagegen eher Gleichaltrige mit Verhaltensauffälligkeiten oder akademischen Schwierigkeiten aus. Insbesondere tendieren sie häufiger dazu, hyperaktive Kinder auszuschliessen, weil sie glauben, deren Verhalten sei Absicht und deshalb unverantwortlich.
Aus diesem Grund nehmen sie das Verhalten im schulischen Umfeld als besonders störend wahr.«Kinder verstehen oft nicht, was Hyperaktivität ist. Sie sind sich nicht bewusst, dass es sich dabei um eine schwer zu kontrollierende Störung handelt», sagt Grütter. In einem solchen Umfeld sind leistungsbereite und erfolgreiche Kinder ganz besonders anfällig dafür, Gleichaltrige mit Verhaltensproblemen oder schulischen Schwierigkeiten auszuschliessen. Damit stellen sie sicher, dass ihre Gruppe weiterhin effektiv funktionieren kann und sie ihre persönlichen Lernziele erreichen.
Akademische Leistung und Inklusivität müssen sich jedoch nicht gegenseitig ausschliessen. Tatsächlich sind jene Klassenzimmer schulisch erfolgreicher, deren Umfeld eine inklusive Haltung gegenüber Kindern mit Verhaltensproblemen oder schulischen Schwierigkeiten fördert.
Lehrpersonen spielen eine wichtige Rolle
«Dies ist eine Herausforderung, mit der Schulen im Allgemeinen konfrontiert sind, da sie versuchen, ihren Schülerinnen und Schülern die Fähigkeiten zu vermitteln, die sie für ihre Zukunft benötigen. Im Jugendalter entscheidet primär der akademische Erfolg über den Zugang zur höheren Bildung und somit ist Leistungsdruck untrennbar mit dem Klassenzimmer verbunden. Lehrpersonen können jedoch inklusive Normen auch in einem kompetitiven Lernumfeld fördern. Sie können zum Beispiel mit ihrer Klasse offen darüber diskutieren, dass jeder Schüler unterschiedliche Bedürfnisse hat und ein unterschiedliches Mass an Unterstützung benötigt. Sie können auch darauf hinweisen, dass die ganze Klasse erfolgreich sein kann, wenn sich die Schülerinnen gegenseitig helfen», erklärt Grütter. «Fairness, soziale Inklusion und eine effektiv funktionierende Gruppe schliessen sich nicht zwingend aus», fügt sie hinzu.
Laut Grütter sind sich Lehrpersonen jedoch häufig nicht bewusst, dass sie eine wichtige Rolle dabei spielen, wie sich die Beziehungen ihrer Schüler untereinander gestalten. Wenn Lehrpersonen beispielsweise alle Schülerinnen emotional unterstützen und sie fair behandeln, unterhalten diese eher eine gute Beziehung zu ihren Lehrpersonen und zeigen ein positives Verhalten in ihren Interaktionen mit Gleichaltrigen. «Wenn Lehrpersonen Schüler mit ADHS häufig vor ihren Klassenkameraden tadeln oder negativ über sie sprechen, wirkt sich das darauf aus, wie diese von ihren Mitschülerinnen behandelt werden», erklärt Grütter.
Erst seit Kurzem beinhaltet die Lehrerausbildung auch nützliche Strategien, um Diversität und Inklusion im Klassenzimmer anzuleiten und zu fördern.
Jeanine Grütter
Wenn aber Lehrpersonen ihren Schülern im Klassenzimmer häufiger die Gelegenheit geben, sich über gemeinsame Interessen auszutauschen, fördern sie die Bildung von gruppenübergreifenden Freundschaften, was wiederum eine inklusive Haltung der Heranwachsenden begünstigt.
Grütter und ihr Team arbeiten zurzeit an Wegen, die Lehrpersonen helfen sollen, die Inklusivität unter Gleichaltrigen im Klassenzimmer aktiv zu fördern. «Lehrpersonen erhalten ein intensives Training in der Klassenführung. Doch erst seit Kurzem beinhaltet die Lehrerausbildung auch nützliche Strategien, um Diversität und Inklusion im Klassenzimmer anzuleiten und zu fördern. Das ist ein wichtiges Thema in der Ausbildung angehender Lehrpersonen», setzt Grütter hinzu.
Dieser Text erschien zuerst in englischer Sprache auf BOLD – Blog on Learning and Development.
Die Plattform BOLD, eine Initiative der Jacobs Foundation, hat sich zum Ziel gesetzt, einer weltweiten und breiten Leserschaft näherzubringen, wie Kinder und Jugendliche lernen. Spitzenforscherinnen wie auch Nachwuchswissenschaftler teilen ihr Expertenwissen und diskutieren mit einer wissbegierigen Leserschaft, wie sich Kinder und Jugendliche im 21. Jahrhundert entwickeln und entfalten, womit sie zu kämpfen haben, wie sie spielen und wie sie Technologien nutzen.
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