Diagnose ADHS - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Diagnose ADHS

Lesedauer: 5 Minuten

Teil 7 der ADHS-Serie: Für Betroffene kann die Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit- Hyperaktivitätsstörung (ADHS) eine Erleichterung darstellen oder Schwierigkeiten mit sich bringen. Das führt zur Frage, ob eine Diagnose dieses Störungsbildes überhaupt sinnvoll und im Interesse des Kindes ist.

Text: Jacqueline Esslinger
Illustration: Partner & Partner

Eine Diagnose ist die Feststellung und Beurteilung einer körperlichen oder psychischen Krankheit. Sie hat zum Ziel, eine Erklärung für die Probleme oder Schwierigkeiten einer Person zu finden, und bildet die Basis für eine Behandlung.

Die Einordnung von Merkmalen (Klassifikation) soll Abgrenzung schaffen. Das heisst: Eine Gruppe von Symptomen wird einem bestimmten Störungs- oder Krankheitsbild zugeschrieben und nicht einem anderen. Im Rahmen des diagnostischen Prozesses werden die dafür relevanten Informationen erhoben, wie zum Beispiel die Symptome und die jeweilige Vorgeschichte einer Person.

Unklar, ob ADHS-Diagnose immer gerechtfertigt

Diese Art des Herangehens ist wünschenswerterweise wissenschaftlich, das heisst systematisch, nachvollziehbar und wiederholbar. Jedoch ist jeder Mensch anders und zeigt nicht immer die gleichen Symptome. Um allgemeingültige Diagnosekriterien zu definieren, ist ein langer Beobachtungsprozess der Vorkommnisse nötig.

AD(H)S steht für ein uneinheitliches Störungsbild und Überschneidungen mit anderen Krankheitsbildern. Hinzu kommt, dass die meisten Menschen in unserer Gesellschaft manchmal AD(H)SSymptome zeigen. Es herrscht Unklarheit, was mit AD(H)S gemeint ist; nicht selten wird gefragt: «Gibt es das überhaupt?». Fragt man betroffene Familien und ihre Kinder, lautet die Antwort in den meisten Fällen ganz klar ja.

Fachpersonen, die diese Meinung teilen, benutzen Diagnosekriterien und AWMF-Leitlinien (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften, zurzeit in Überarbeitung), um Anzeichen von AD(H)S genauer eingrenzen zu können. Allerdings bleibt unklar, ob die Diagnose bei jedem Kind gerechtfertigt ist und wie sich die in den letzten Jahren stark gestiegene Anzahl der Diagnosen erklären lässt.

Was als auffälliges Verhalten angesehen wird, ist abhängig von kulturellen Normen

Sicherlich haben sich zahlreiche Bedingungen in der Gesellschaft und damit auch die Anforderungen an die Kinder gewandelt. Gegebenenfalls hat sich auch die Wahrnehmung der Symptomatik in unserer Gesellschaft verändert. Denn bevor es zu einer Abklärung auf AD(H)S kommt, ist den meisten Eltern bereits bewusst, dass ihr Kind Probleme in Bereichen zeigt, in denen Altersgenossen nicht auffallen. Was jedoch als auffälliges Verhalten angesehen wird, ist abhängig von kulturellen Normen.

So scheint es im Tessin im Vergleich mit der Romandie und vor allem der Deutschschweiz zu weniger AD(H)S-Diagnosen pro Jahr zu kommen. Im Europavergleich gibt es laut Statistik in Italien weniger Kinder mit AD(H)S als in Deutschland. Das Verständnis der Norm, also was als normal gilt und was als auffällig, fällt mancherorts sehr viel breiter aus, ebenso die Toleranz für Abweichungen von dieser Norm.

Die Gründe für eine unterschiedlich hohe Anzahl an Fällen sollen weiter untersucht werden. Deshalb widmet sich beispielsweise ein neues Forschungsprojekt (siehe Box unten) dem Phänomen AD(H)S in allen drei grossen Sprachregionen der Schweiz und erhofft sich neue Einblicke.

Um AD(H)S diagnostizieren zu können, müssen Verhaltensauffälligkeiten im Bereich der Aufmerksamkeit, Impulsivität und eventuell auch der Hyperaktivität schon im Vorschulalter und über mindestens sechs Monate hinweg bestehen.

Und diese Auffälligkeiten müssen in verschiedenen Lebensbereichen, also etwa in der Schule und zu Hause, sichtbar werden. Kinder können sich zu Hause ganz anders verhalten als im Klassenzimmer und ebenfalls bei verschiedenen Lehrern. Dies ist begründet durch unterschiedliche Anspruchshaltungen, die Anwesenheit vieler anderer Kinder und auch durch die Tageszeit.

Psychische und körperliche Störungen müssen zuerst ausgeschlossen werden

Im Sinne des multimodalen Ansatzes benötigen Fachpersonen zum Erstellen einer Diagnose neben den Schilderungen der Eltern auch Wahrnehmungen und Beobachtungen von Bezugspersonen aus anderen Umfeldern des Kindes. Dies sind in der Regel die Lehrpersonen. Zusätzliche Beobachtungen von Grosseltern oder Leitern aus einem (Sport-)Verein können die Abklärung ergänzen.

Die Berücksichtigung der Entwicklungsgeschichte des Kindes gehört bei der Einschätzung genauso dazu wie das gründliche Einholen von Informationen über die Familie. Solche Auskünfte sind nützlich, da man von einer erblichen Komponente von AD(H)S ausgeht. Das bedeutet, dass Kinder aus einer Familie, in der bereits ADHS aufgetreten ist, ein erhöhtes Risiko haben.

Studien zeigen jedoch, dass sich lediglich die Wahrscheinlichkeit für Symptome erhöht. Das heisst jedoch, dass eine Weitervererbung keineswegs immer der Fall ist. Somit hat nicht jeder von ADHS betroffene Erwachsene auch ein Kind mit ADHS, und nicht alle Kinder mit ADHS haben ebenfalls betroffene Eltern oder Verwandte.

Neben der Durchführung von speziell entwickelten psychologischen Tests, welche sich auf das Verhalten des Kindes und seine Begabungen konzentrieren, sollte ausserdem immer eine medizinische Untersuchung erfolgen.

Dabei wird zunächst ausgeschlossen, dass Konzentrations- und Leistungsprobleme tatsächlich durch eine Verminderung des Hör- und Sehvermögens, durch Schlafstörungen, durch Stoffwechselstörungen (z. B. Schilddrüse) oder durch Mangelerscheinungen (z. B. Magnesium) verursacht werden. Auch müssen andere psychische und körperliche Störungen (wie Ängste, Depression oder Autismus) ausgeschlossen werden können.

Was ist ADHS?

Für manche ist es die Modediagnose unserer Zeit, für andere die häufigste psychische Störung im Kindes- und Jugendalter: ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) bzw. ADS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom). Betroffen sind rund 5 bis 6 Prozent aller Kinder. Jungen deutlich öfter als Mädchen. Diagnostiziert wird die Krankheit aber weitaus häufiger.

Diese zehnteilige Serie entsteht in Zusammenarbeit mit dem Institut für Familienforschung und -beratung der Universität Freiburg unter der Leitung von Dr. Sandra Hotz. Die Juristin leitet zusammen mit Amrei Wittwer vom Collegium Helveticum das Projekt «Kinder fördern. Eine interdisziplinäre Studie», an dem auch die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW beteiligt ist. Das Projekt wird von der Mercator Stiftung Schweiz unterstützt.

Eine zusätzliche neuropsychologische Untersuchung erlaubt Rückschlüsse darauf, ob und wo das Kind Funktionsstörungen haben könnte, etwa hinsichtlich des Arbeitsgedächtnisses oder seiner Wahrnehmung. Noch gibt es keine Methode, um AD(H)S anhand von rein biologischen Merkmalen festzustellen. In sogenannten bildgebenden Verfahren wie der Magnetresonanztomografie (MRT) wird zwar sichtbar, welche Hirnareale aktiv sind und wie sich diese Aktivierung bei Menschen mit oder ohne AD(H)S unterscheidet.

Doch beim einzelnen Patienten kann so noch keine Diagnose gestellt werden. Diese bildgebenden Verfahren rücken aber immer mehr ins Zentrum der Forschung, so wie auch die Theorie, dass die Ursache für AD(H)S ein Mangel des Neurotransmitters Dopamin zwischen den Nervenzellen ist. Durch weitere Erkenntnisse könnte die verhaltensbasierte Testung in Zukunft noch zuverlässiger durch biologische Indikatoren ergänzt werden.

Vor Diagnose muss immer auch eine medizinische Behandlung erfolgen

Auch ohne körperliche Tests kann heute schon eine für das Kind zutreffende Diagnose gestellt werden. Damit das Risiko einer falschen Einschätzung minimiert wird, benötigt es ein sorgfältiges Vorgehen entsprechend den Kriterien. Die Leitlinien, welche die Diagnosekriterien der Klassifikationssysteme DSM-5 und ICD 10 umrahmen, lassen viel Interpretationsspielraum zu und vertrauen auf die subjektive Einschätzung des Klinikers.

Das wird oft kritisiert, es besteht der Wunsch nach mehr Eindeutigkeit. Dieser Spielraum für den Kliniker kann aber auch gut sein, damit nicht immer eine Diagnose vergeben werden muss, wenn der Klient dadurch Nachteile hätte, oder damit eine Diagnose vergeben werden kann, wenn sich dadurch eine Beeinträchtigung vermindern lässt.

Da aber alle Symptome wie die drei Hauptanzeichen bei ADHS, Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität, bei unterschiedlichen Personen verschieden stark ausgeprägt sind, wird das Vorgehen im Praxisalltag auch für Fachpersonen zur Herausforderung.

Die abklärende Fachperson sollte deshalb spezialisiert sein im Kinder-/Jugendbereich und sich mit AD(H)S gut auskennen. Dies trifft in der Schweiz auf Personen aus unterschiedlichen Disziplinen zu (z. B. Kinderärzte, Psychologen). Diese sollten im Rahmen einer ganzheitlichen Abklärung möglichst mit anderen Fachpersonen interdisziplinär zusammenarbeiten.

Wichtig ist, eine kompetente Fachperson zur Seite zu haben, welche auf Fragen und Bedenken eingeht, sich Zeit nimmt und das Kind auf seinem Weg begleitet. Ob eine Diagnose angemessen und auch im Interesse des Kindes ist, muss in jedem Einzelfall sorgfältig beurteilt werden.

Eventuelle Nachteile wie Diskriminierung oder Nebenwirkungen einer Therapie können nur dann gerechtfertigt sein, wenn das Kind und seine Familie Unterstützung erhalten und das Kindeswohl so langfristig gesichert wird.

Jacqueline Esslinger
ist Psychologin und Doktorandin an der Universität Freiburg. Sie leitet eine Studie zur Regulation bei Kindern mit ADHS und aggressivem Verhalten.

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