Zankapfel Hausaufgaben – unverzichtbar oder überholt? -
Merken
Drucken

Zankapfel Hausaufgaben – unverzichtbar oder überholt?

Lesedauer: 3 Minuten

Warum bergen Hausaufgaben so viel Zündstoff und sind der Anlass für unzählige kontroverse Debatten? Ein Erklärungsversuch.

Text: Dagmar Rösler
Bild: Adobe Stock

Woran haben Sie gedacht, als Sie den Titel dieses Artikels gelesen haben? An Ihre eigene Schulzeit, während der Sie erst nach Erledigung der Hausaufgaben spielen gehen durften? An den Stress, wenn das falsche Heft eingepackt wurde? Oder an den ersten Schultag, als Sie noch darauf brannten, endlich Husi machen zu dürfen? Oder sind Ihnen Ihre eigenen Kinder in den Sinn gekommen, die nach einem bereits dichten Schultag zu Hause noch Franz- oder Englischvokabeln büffeln, einen Vortrag vorbereiten oder für einen Test lernen müssen?

Wie stehen Sie zum Thema Hausaufgaben? Sind diese Ihrer Meinung nach eine unverzichtbare Lernaktivität oder ein überholtes pädago­gisches Ritual?

Klar ist zunächst, dass die Vergabe von Hausaufgaben vor allem während des Primarschul­alters sowohl unter Lehrpersonen als auch in der Elternschaft stark polarisiert. Befürworter begründen Hausaufgaben mit der Notwendigkeit zusätzlicher Lernzeit. Als Argument wird angeführt, dass die Wieder­holung von Lernstoff zu besserer Erinnerung desselben führt. Hausaufgaben förderten die Entwicklung des selbständigen Arbeitens, der Problemlösefähigkeiten und der Selbsteinschätzung, heisst es.

Eltern, die Hausaufgaben befür­worten, geben immer wieder an, dass diese einen regelmässigen Einblick in den Schulalltag ihrer Kinder ermög­lichen und oft als eine Art «Fenster in die Schule» betrachtet werden.

Studien liefern widersprüchliche Erkenntnisse

Kritiker von Hausaufgaben führen an, dass diese unfair sind, da nicht alle Kinder Unterstützung von zu Hause erhalten können. Ausserdem hätten die Hausaufgaben keinen direkten Einfluss auf die Lernleistung der Schülerinnen und Schüler. Die zusätzliche Belastung für die Kinder und ihre Eltern führe hingegen oft zu Spannungen und Streit in der Familie.

Es erstaunt also wenig, dass auch die Wissenschaft zu ähnlich kontro­versen Haltungen kommt. Unter­suchungen zeigen allgemein sehr widersprüchliche Erkenntnisse. Erst eine weltweite Untersuchung über das Lernen des neuseeländischen Pädagogen und Wissenschaftlers John Hattie («Visible Learning – Lernen sichtbar machen») hat die Lernwirksamkeit von Hausaufgaben belegt. Hattie hat auf der Basis einer grossen Zahl von Einzelunter­suchungen eine Kriterienliste für wirksamen Unterricht erstellt. Von seinen 130 möglichen Kriterien ergibt sich für die Hausaufgaben ein mittlerer Wert (Rang 88).

Hausaufgaben sind dann sinnvoll, wenn mit ihnen bereits Gelerntes vertieft werden kann.

Hausaufgaben können dem­gemäss lernwirksam sein. In welchem Masse, hängt aber stark davon ab, wie sie eingesetzt werden. Fünf bis zehn Minuten hätten die gleiche Wirkung wie eine oder zwei Stunden. Die schlechteste Lösung aus Sicht Hatties: den Kindern Projekte als Hausaufgaben geben, mit denen sie sich etwas Neues erschliessen sollen. Die beste Lösung: die Hausaufgaben als Vertiefung von etwas bereits Gelerntem einsetzen.

1993 fasste das Bildungsdepartement des Kantons Schwyz den Beschluss, Hausaufgaben als Schulaufgaben in die Unterrichtszeit zu integrieren. Die Wochenstundenzahl wurde dafür um eine Stunde erhöht. Die Begleitstudie «Integrierte und traditionelle Hausaufgaben an der Primarschule – ein Vergleich bezüglich Leistung, Belastung und Einstellung zur Schule» (Hascher & Bischof, 2000) brachte beim Vergleich von über 800 Schülern und Schülerinnen der 4. und 6. Klasse Erstaunliches zu Tage: Kinder mit integrierten Hausaufgaben fühlten sich zeitlich weniger belastet und erbrachten gleichzeitig keine schlechteren Leistungen als die Vergleichsgruppe mit traditionellen Hausaufgaben. Ausserdem hatte die Gruppe mit den integrierten Hausaufgaben eine positivere Einstellung gegenüber der Schule.

Für viele Familien eine Belastung

Schade, dass aufgrund politischen Drucks, ausgeübt durch konservative Kreise, das Experiment abgebrochen und die Hausaufgaben 1997 wieder eingeführt wurden.

Nicht nur Wissenschaftler und Eltern treibt die Thematik immer wieder um. Auch die Schulen, Lehrerinnen und Lehrer stecken in Bezug auf die Vergabe von Hausaufgaben in verschiedenen Dilemmata. So ist beispielsweise bekannt, dass mit den ungleichen Betreuungs­si­tuationen zu Hause die Chancengerechtigkeit nicht gegeben ist. Wie die Studie der Erziehungswissenschaftlerin Sandra Moroni von 2016 bestätigt, stellen Hausaufgaben für viele Familien eine Belastung dar.

Vielerorts haben Schulen darauf reagiert: Statt Hausaufgaben gibt es nun Schulaufgaben, die – wie der Name es sagt – in der Schule erledigt werden können. Unter dem Aspekt der Chancengerechtigkeit erhalten Schülerinnen und Schüler die ­Möglichkeit, Aufgaben betreut im Anschluss an den Unterricht in der Schule zu bearbeiten (beispielsweise als Teil von Tagesstrukturen), während andere Schulen die Bearbeitung von Aufgaben vollständig in den Unterricht integrieren (inte­grierte Übungseinheiten).

Es geht dabei nicht um die Abschaffung von Hausaufgaben, sondern um eine Verlagerung von Zeit, Ort und Betreuung. Damit Erziehungs­berechtigte weiterhin ein «Fenster in die Schule» haben, setzen manche Schulen Lerntagebücher oder Portfolios ein.

Neue Modelle sollen Abhilfe schaffen

Lehrerinnen und Lehrer machen es sich nicht einfach, wenn es darum geht, ob, wie und welche Hausaufgaben vergeben werden sollen. Sie probieren verschiedene Formen aus, reagieren in der Regel auf Schwierigkeiten von Seiten Schülerschaft und auf Rückmeldungen der Eltern.

Viele Schulen versuchen mit neuen Modellen den Herausforderungen entgegenzutreten oder sprechen an Elternabenden die Thematik an und brechen gemeinsam zu neuen Ufern auf.

Bei den Hausaufgaben braucht es zwischen Elternhaus und Schule eine Begegnung auf Augenhöhe.

Trotzdem stecken Schulen und Lehrpersonen zuweilen zwischen den verschiedenen Erwartungshaltungen der Eltern, den unterschiedlichen Voraussetzungen ihrer Schülerinnen und Schüler und der Notwendigkeit, den im Lehrplan vorgegebenen Stoff in angemessener Zeit zu vermitteln, fest. Will man auch in Zukunft weiterhin mit herkömmlichen Hausaufgaben arbeiten und die viel zitierte Brücke zwischen Elternhaus und Schule bauen, so braucht es auch hier eine Begegnung auf Augenhöhe und einen sach­lichen Austausch mit gegenseitiger Achtung der verschiedenen Sichtweisen.

Für Lehrpersonen darf die Vergabe von Hausaufgaben nicht zu einem organisatorischen Kraftakt verkommen und für Eltern sollen sie tatsächlich eine entspannte Sicht auf die Schule ermöglichen.

Dagmar Rösler
ist Primarlehrerin in Bellach SO und Präsidentin des Dachverbandes Lehrerinnen und Lehrer Schweiz LCH.

Alle Artikel von Dagmar Rösler

Lesen Sie mehr zum Thema Hausaufgaben

Schulanfang: Übertritt in die Primarschule. Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Schule
Schulanfang: 12 Fragen zur ersten Klasse
Einiges ändert sich für Kinder und Eltern mit dem Übertritt in die Primarschule. Antworten auf die wichtigsten  Fragen zum neuen Schulalltag.
Advertorial
Einzigartige Familienmomente mit Center Parcs
Center Parcs bieten Abenteuer und Spass für die ganze Familien mit tollen Unterkünften mitten in der Natur. Jetzt profitieren vom Frühbucherrabatt!
Schule wir kommen
Kindergarten
Schule – wir kommen!
Mütter und Väter spielen beim Übertritt in die erste Klasse eine wichtige ­Rolle. So können Sie Ihr Kind ­achtsam dabei begleiten.
Elternbildung
«Noah muss es selbst ausbaden, wenn er morgens zu spät kommt»
Verleger Ronny Spiegelberg und sein Teenager-Sohn sind ein eingespieltes Team – auch was den Umgang mit stressigen Situationen angeht.
Wie helfe ich meinem Kind in Mathe?
Erziehung
Wie helfe ich meinem Kind in Mathe?
Ihr Kind steht bei den Mathe-Hausaufgaben an und kommt nicht weiter. Frust macht sich breit und Ihr Kind bittet Sie um Hilfe.
Wie wird mein Kind selbständiger?
Erziehung
Wie wird mein Kind selbständiger?
Nervt es Sie manchmal, wenn Ihr Kind Sie ständig um Hilfe bittet und – beispielsweise – bei den Hausaufgaben nichts alleine macht?
5 Konflikte und wie Eltern hier sinnvoll Grenzen setzen
Erziehung
5 Konflikte und wie Eltern hier sinnvoll Grenzen setzen
Psychologin Sarah Zanoni kommentiert 5 typische Konfliktsituationen und sagt, wie Väter und Mütter darauf reagieren können.
Erziehung
5 Tipps gegen Stress mit Hausaufgaben
Die Schule ist Streitthema Nummer eins zwischen Eltern und Kindern. Welches Verhalten im Konfliktfall angebracht ist, sagt Jolanda Hohl, Primarlehrerin, Lern- und Familiencoach.
Elternbildung
Hilf mir, es selbst zu tun
Hausaufgaben sorgen in vielen Familien regelmässig für Streit. Sie sollten und können jedoch für Eltern eine Brücke zur Schule sein – und das Kind beim Lernen unterstützen.
Elternbildung
«Eltern können die Einstellung ihrer Kinder gegenüber der Schule positiv beeinflussen»
Die Psychologin Sharon Wolf ist der Frage nachgegangen, wie sehr Eltern in der Schule ihres Kindes präsent sein sollen. Sie erläutert ein Programm, das die Beziehung zwischen Schule und Elternhaus verbessern soll.
Lernen
«Wir strengen uns gerne an, wenn uns der Stoff interessiert»
Bildungsforscher Ulrich Trautwein über die Lust am Lernen, was Eltern undLehrpersonen tun können, wenn es an Motivation mangelt, und warum Kindernicht zum Büffeln verdonnert werden sollten.
Elternbildung
Muss ich mich wirklich um die Ufzgi meines Kindes kümmern?
Hausaufgaben sind in vielen Familien ein ständiger Brennpunkt. Welche Rolle soll man dabei als Mutter oder als Vater einnehmen?
Elternbildung
Wie motiviere ich mein Kind für Hausaufgaben?
Hausaufgaben sorgen in vielen Familien für Konflikte. Welche Rolle soll man dabei als Mutter oder als Vater einnehmen? Wir haben ein ganzes Dossier zu diesem Thema.
Verträumte Kinder unter Druck
Entwicklung
Verträumte Kinder unter Druck
Sich konzentrieren, zuhören, selbständig arbeiten: Manchen Schulkindern bereitet das grosse Mühe. Warum neigen Kinder zum Tagträumen?
Das grosse Abschiedsinterview von Beat W. Zemp
Gesellschaft
«Es gibt keinen Lehrermangel»
Seit 30 Jahren präsidiert Beat W. Zemp den Dachverband der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer LCH. Diesen Juli scheidet er aus dem Amt. Das grosse Interview.
Ist unser Schulsystem krank?
Gesellschaft
Daniel Burg, woran krankt unser Schulsystem?
Schulleiter Dani Burg hat das System zweier Sekundarschulen umgekrempelt. Er sagt: Unser Schulsystem ist krank. Er erklärt uns weshalb.
Leser fragen Fabian Grolimund zum Thema Lernen mit Kindern
Gesellschaft
«Mutige Eltern filmen sich selbst bei der Hausaufgaben-Hilfe!»
Live-Video-Interview: Eltern fragen den Psychologen Fabian Grolimund, wie sie Ihren Kindern beim Lernen helfen können.
Wenn Schüler die Hausaufgaben selbst wählen
Gesellschaft
«Hausaufgaben sollen den Kindern Freude machen»
3 Fragen an Achim Arn, Lehrer in Wil. Bei ihnen bestimmen die Schülerinnen und Schüler die Menge und das Niveau der Hausaufgaben selbst. Wie funktioniert das?
Herr Urs Moser
Gesellschaft
Wie gerecht ist das Schweizer Bildungssystem?
Ob es ein Kind aufs Gymnasium schafft, hängt in den meisten Fällen noch immer von seiner Herkunft ab, sagt Bildungsexperte Urs Moser.
Ein Lehrer berichtet: Das ist mir bei den Hausaufgaben wichtig
Gesellschaft
Was habe ich als Lehrer mit den Hausaufgaben nur angerichtet?
Sek-Lehrer Samuel Zingg macht sich Gedanken darüber, wie sinnvolle Hausaufgaben aussehen.
Was sagen Kinder zum Thema Hausaufgaben?
Gesellschaft
Emilia (10) über Hausaufgaben: «Wörtli lerne ich gern»
Was sagen Kinder selbst zum Thema Hausaufgaben? Wir haben Emilia, 10, und ihren Bruder Giacomo, 8, gefragt, ob sie gerne zuhause Aufgaben machen.
Nie mehr Hausaufgaben?
Gesellschaft
Nie mehr Hausaufgaben?
Hausaufgaben sind ein hoch-emotionales Diskussionsthema. In Familie und Gesellschaft. Ihr Sinn ist umstritten. Also einfach abschaffen? Eine Annäherung.
«Hausaufgaben sind reine Zeitverschwendung»
Gesellschaft
«Hausaufgaben sind reine Zeitverschwendung»
Der deutsche Lehrer und Journalist Armin Himmelrath hat die wissenschaftlichen Grundlagen von Hausaufgaben untersucht. Seine Bilanz ist vernichtend.
Tipps gegen Konflikte bei Hausaufgaben
Gesellschaft
Neun Tipps gegen Knatsch bei den Hausaufgaben
Antwort auf neun Fragen, wenn die Hausaufgaben zu Hause ein Reizthema sind – von STEP-Kursleiterin Liselotte Braun.
Interview Oskar Jenni Entwicklung Primarschule Lernen individuelles Lernen
Gesellschaft
Herr Jenni, können Eltern den Schulerfolg beeinflussen?
Wenn Kinder in die Schule kommen, sollten Eltern wie Lehrer ihre Erwartungen an die Möglichkeiten des Kindes anpassen, fordert Oskar Jenni.