Hausaufgaben – die Beziehung zum Kind geht vor
Hausaufgaben seien eine Belastung für ihr Kind, sagen viele Eltern. Damit nicht genug: Wenn sie es dabei unterstützen wollen, endet das oft genug in Disharmonie. Mit diesen Tipps gelingt das Lernen zu Hause.
Matteo steht mit dem Walkie-Talkie am Fenster seines Kinderzimmers. Er hat einen wichtigen Detektivauftrag zu erfüllen. Durch das Funkgerät empfängt er von seiner Mutter die geheimen Lernwörter für sein Diktat. Konzentriert schreibt er mit einem Stift «Blumenzwiebel», «Frühlingsanfang» und «Veloklingel» auf die Fensterscheibe. Als seine Mutter «Genug für heute» sagt, ist Matteo ein bisschen enttäuscht. Er hätte gern noch weitergemacht.
Spiele wie dieses empfiehlt Nicole Fritzler Eltern, die sich genervt, verzweifelt oder ratlos an sie wenden, weil es zu Hause zu viel Stress und Streit rund um die Hausaufgaben gibt. Die Psychologin forscht an der Uni Bielefeld zur heimischen und schulischen Lernunterstützung, bietet Onlinetrainings an und teilt ihre alltagsnahen Tipps auch über ihren Instagram-Account.
Die Nachfrage ist gross, denn fast die Hälfte der Eltern empfindet Hausaufgaben als Belastung für ihre Kinder. Das geht aus einer Zusatzauswertung hervor, welche die Stiftung Mercator Schweiz im Februar zur Studie «Welche Schule will die Schweiz?» erstellen liess. Für die Studie wurden im Jahr 2022 mehr als 3000 Eltern schulpflichtiger Kinder befragt. Gerade jüngere Eltern bis 35 Jahre sowie Mütter würden demnach zumindest Primarschulkinder gern mehrheitlich von den Hausaufgaben befreien.
Es braucht elterliches Engagement
Keine Hausaufgaben, kein Streit: So einfach sieht Nicole Fritzler das nicht. «Ein Kind braucht während Jahren eine Umwelt, die selbstregulative Kompetenzen anregt. Nur so kann es ein eigenständiges und eigenmotiviertes Lernen entwickeln. Eltern kommen deshalb auch ohne Hausaufgaben nicht umhin, ihre Kinder beim Lernen zu unterstützen.» Positiv an Hausaufgaben findet sie, dass das häusliche Umfeld ein grosses Potenzial bietet, um Lerninhalte regelmässig und gezielt zu üben sowie individuell auf die kindlichen Bedürfnisse einzugehen.
Das Kind möchte Chef über seine Hausaufgaben bleiben und sich da kompetent erleben.
Nadine Fesseler-Besio, Kursleiterin für Elternbildung
Wie aber packt man das gemeinsame Lernen an, ohne dass Kinder wie Eltern dabei schlechte Laune bekommen, wütend werden und zu schimpfen oder weinen beginnen? «Bevor man loslegt, würde ich immer zuerst einen Stimmungscheck machen», sagt Nadine Fesseler-Besio. Sie ist Geschäftsleiterin und Referentin der Elternlehre in Bern, eines Vereins, der Eltern in ihrer täglichen Erziehungsarbeit unterstützt.
Wenn die Nerven beim Kind schon blank liegen, braucht es vielleicht erst eine Runde am Boxsack, bevor es bereit ist, sich in Ruhe an die Aufgaben zu setzen. Auch Eltern schauen entspannter in ein Mathebuch, wenn es ihnen nicht direkt nach der Arbeit unter die Nase gehalten wird, sondern eine Kaffeepause dazwischenliegt.
«Gerade unter Stress verfallen Eltern schnell in eine Problemorientierung und sehen nur noch: Da sind Hausaufgaben, die müssen erledigt werden, am besten möglichst schnell, denn es stehen ja noch andere Dinge an», sagt Nadine Fesseler-Besio. Dann würden häufig Tipps oder Ratschläge folgen, wie die Eltern die Matheaufgabe lösen oder den Aufsatz schreiben würden – was beim Kind zu zusätzlichem Druck und Stress führe, insbesondere dann, wenn eine Lehrkraft etwas anders erklärt habe. «Das Kind möchte Chef über seine Hausaufgaben bleiben und sich da kompetent erleben, das ist der Schlüssel zur Lernmotivation», sagt Nadine Fesseler-Besio.
Hausaufgaben sind Streit nicht wert
Ebenso wichtig für die Lernmotivation: eine gute Beziehung zwischen Eltern und Kind. «Keine Hausaufgabe der Welt ist es wert, dass man sich deshalb mit dem Kind streitet und die Beziehung aufs Spiel setzt», sagt Nicole Fritzler. Statt auf das Problem zu schauen (die Hausaufgaben müssen erledigt werden), empfiehlt sie Eltern, bedürfnisorientiert vorzugehen und zu überlegen, was das Kind braucht, damit es mit den Aufgaben weitermachen kann und sich wohl dabei fühlt.
Eltern sollten sich nicht zur Co-Lehrperson machen, sondern immer das Wohl ihres Kindes im Blick haben.
Nicole Fritzler, Psychologin
«Eigentlich muss man als Elternteil nur auf sein Bauchgefühl hören. Wenn ein Kind in der Küche hilft und ich merke, es kann noch keine Karotte klein schneiden, lege ich ihm eben eine Gurke hin», sagt Nicole Fritzler. Das Kind bleibe so motiviert, weil es helfen darf und man ihm etwas zutraut, ohne es dabei zu überfordern. «Oder wenn ein Kind beim Legobauen nicht weiterkommt, dann fragen wir nach, bei welchem Schritt es harzt und was es braucht, um gut weitermachen zu können», so Fritzler. Mit solchen Fragen motivieren Eltern ihr Kind dazu, die Situation als Lernmöglichkeit wahrzunehmen und daran zu wachsen.
Spielerisch lernt es sich besser
Was nun die Hausaufgaben anbelangt, empfiehlt sie Eltern, ähnlich vorzugehen. «Keinesfalls sollte man sich zur Co-Lehrperson machen. Eltern bleiben immer Eltern, die das Wohl ihrer Kinder und die Beziehung zu diesen im Blick haben», sagt Nicole Fritzler. Für sie bedeutet das auch beim gemeinsamen Lernen: Eltern haben eine gute Zeit mit ihrem Kind und berücksichtigen seine Bedürfnisse. Nach vielen nicht immer spannenden und spassreichen Stunden in der Schule sei die Lust mancher Kinder nach stumpfem Vokabellernen oder Rechenaufgaben nachmittags meist nicht mehr besonders gross. «Wenn man aber aus der klassischen Lernsituation herausgeht, ein Gesellschaftsspiel zum Lernspiel umfunktioniert, die Vokabeln mit Klebeband auf den Boden schreiben lässt oder das Lernen der Einmaleins-Reihen mit einer Rallye durchs Haus verbindet, haben in der Regel beide Seiten eine gute Zeit dabei», sagt Nicole Fritzler.
Für Eltern bedeute das vielleicht manchmal ein wenig mehr Vorbereitungszeit, um sich so etwas zu überlegen. Dafür klappe das gemeinsame Lernen dann aber meist schneller – und vor allem entspannter. Das Gehirn könne den Lernstoff deutlich effektiver verarbeiten, wenn das Kind Freude am Lernen empfinde. «Am besten setzt man sich schon am Wochenende gemeinsam hin und schaut, was in der kommenden Woche ansteht. Dann kann man auch gut zusammen planen, wann man wie für einen Vokabeltest oder ein Diktat üben möchte. Häufig reichen ja schon 15 Minuten am Tag aus», sagt Nicole Fritzler.
Bei Konflikten «Pause für die Beziehung» einlegen
Manchmal ist die Lernbeziehung zwischen Eltern und Kindern aber schon so angespannt, dass alle bereits beim Aufschlagen des Englischbuchs damit rechnen, dass es gleich wieder Streit gibt. In einem solchen Fall rät Nicole Fritzler, dem Kind bewusst zu zeigen, wie wichtig einem die gute Beziehung sei und dass das Lernen keinesfalls über dieser stehe. Sie empfiehlt, ein sogenanntes Herzglas einzuführen.
«Wann immer Eltern im Alltag etwas beobachten, was das Kind gut gemacht hat, oder wenn sie schöne gemeinsame Momente erleben, schreiben sie es auf einen Zettel und legen diesen in das Glas», so Fritzler. Wenn es beim gemeinsamen Lernen dann mal zu angespannten Momenten oder Konflikten komme, werde bewusst eine «Pause für die Beziehung» eingelegt und zwei, drei Zettel aus dem Glas gezogen. «Das Kind hört und spürt dann, dass es durchaus Dinge gibt, die es gut kann, dass die Eltern diese Sachen wahrnehmen und ihm zutrauen, auch diese Herausforderung zu meistern.» Zusätzlich hole es alle wieder zurück ins Hier und Jetzt und mache deutlich: «Die Lernsituation ist für uns beide gerade so sehr mit Anspannung verbunden, dass wir unsere Beziehung fast aus den Augen verlieren – das ist es mir nicht wert.»
Die Stiftung Mercator Schweiz hat gemeinsam mit dem Forschungsinstitut Sotomo Ende 2022 landesweit rund 7700 Erwachsene – ein Drittel davon Eltern von schulpflichtigen Kindern – gefragt, wie deren ideale Schule aussieht. Am wichtigsten ist den Befragten demnach, dass die Kinder gern zur Schule gehen, Freude am Lernen haben und in ihrem eigenen Tempo sowie individuell gefördert lernen können. Diesen Wunschvorstellungen stehen Dinge wie Prüfungen und Hausaufgaben als wichtigste Belastungsfaktoren gegenüber.
Mercator ist eine private, unabhängige Stiftung, die Handlungsalternativen in der Gesellschaft aufzeigen möchte, unter anderem im Bereich Bildung und Chancengleichheit.