Die zwiespältige Seite des Lobens
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Die zwiespältige Seite des Lobens

Lesedauer: 4 Minuten

Um das Selbstbewusstsein von Kindern zu stärken, ist Lob nicht das wirkungsvollste Mittel. Im Gegenteil. Es gibt bessere Methoden, sie in ihrer Entwicklung zu fördern.

Text: Eddie Brummelman
Bild: Adobe Stock

In den 1960er-Jahren begann die westliche Gesellschaft, das Selbstbewusstsein als wichtige Grundlage für die Entwicklung eines Kindes zu betrachten. Auch wenn Selbstbewusstsein – also das Gefühl eines wertvollen Selbst – kein Allheil­mittel ist, hat es doch einen mode­rat positiven Effekt auf das Wohl­befinden, die sozialen Beziehungen und die schulischen Leistungen von Kindern. Wenn Kinder sich selbst als wertvoll empfinden, können sie besser mit den Herausforderungen des Lebens umgehen.

Es überrascht daher nicht, wenn Eltern und Lehrpersonen das Selbstbewusstsein von Kindern stärken wollen. Oft wird angenommen, dass das Selbstbewusstsein von Kindern wächst, wenn man sie mit Lob überschüttet. Viele glauben, dass Kinder Lob brauchen, um sich selbst gut zu fühlen – etwa so, wie Pflanzen Wasser und Sonnenlicht brauchen, um zu wachsen.

Kinder brauchen ein realistisches Feedback, damit sie ihre Fähigkeiten verbessern können.

Viele würden der amerikanischen Mutter zustimmen, die Forschenden erzählte: «Lob ist notwendig, es ist ein Muss. […] Man kann das Selbstbewusstsein eines Kindes nur aufbauen, indem man es ­ständig an die guten Dinge erinnert, die es tut.» (Veröffentlicht in einem Beitrag in der Oxford University Press.)

Überhöhtes Lob kann das Gegenteil bewirken

Trotz des weitverbreiteten Glaubens an den Nutzen von Lob zeigen jahrzehntelange empirische Forschungen, dass Lob nicht immer von Vorteil ist. Natürlich freuen sich Kinder über Lob, wenn sie eine neue Fähigkeit üben, denn sie erfahren dabei, was sie gut machen. In anderen Fällen könnte Lob aber anders wirken als beabsichtigt. In den Worten des Pädagogen Alfie Kohn ausgedrückt: «Die hervorstechendste Eigenschaft eines positiven Urteils ist nicht, dass es positiv ist, sondern dass es ein Urteil ist.»

Im Bestseller «Between Parent and Child» des Autors Haim G. Ginott lesen wir von der 12-jährigen Linda, deren Vater sie lobt, als sie das dritte Level in ihrem Videospiel erreicht. «Du bist grossartig», sagt er, «du hast eine perfekte Koordination! Du bist auf Expertenniveau.» Daraufhin verliert sie sofort das Interesse an dem Spiel. Ihr Gedankengang dabei: «Mein Vater glaubt, ich sei eine grossartige Gamerin, aber ich bin nicht auf Expertenniveau. Ich bin nur mit Glück auf das dritte Level gekommen. Das nächste Mal schaffe ich es vielleicht nicht einmal auf das zweite Level. Es ist also besser, aufzuhören, wenn ich so weit vorne bin.»

In unserer Forschung haben meine Kolleginnen und ich diese Ideen getestet. Wir konnten aufzeigen, dass Eltern und Lehrpersonen, die das Selbstbewusstsein der Kinder stärken wollen, oft ein Lob aussprechen, das die persönlichen Qualitäten der Kinder betrifft – «Du bist so klug!» –, sowie überhöhtes Lob, das übertrieben positiv ist: «Das hast du unglaublich gut gemacht!»

Auch wenn es gut gemeint ist, diese Art von Lob kann nach hinten losgehen. Wenn Kinder persönliches Lob erhalten, kann es für sie wichtig werden, anderen gegenüber als klug zu erscheinen. Dies wiederum kann dazu führen, dass sie sich einfache Aufgaben aussuchen, die es ihnen ermöglichen, ihre Klugheit zu demonstrieren. Dabei vermeiden sie herausfordernde Auf­gaben, bei denen sie riskieren, doch nicht ganz so schlau zu erscheinen. Es kann sein, dass sie schummeln, um voranzukommen. Und wenn ihnen eine Aufgabe Mühe bereitet, könnten sie ihre Fähigkeiten anzweifeln und aufgeben.

Bevor wir ein Kind loben, sollten wir sorgfältig darüber nachdenken, welche Botschaft wir damit senden.

Etwas Ähnliches passiert, wenn Kinder überhöhtes Lob erhalten. Sie fühlen sich vermutlich erst stolz und ermutigt: «Vielleicht bin ich ja unglaublich!» Doch mit der Zeit könnten sie Angst bekommen, dass sie dem Lob nicht gerecht werden. Wenn sie Mühe haben oder Rückschläge erleben, könnten sie das Gefühl bekommen, dass sie die Erwartungen nicht erfüllen, und ein schwaches Selbstbewusstsein entwickeln.

Eine Lehrerin erzählte mir von einem Jungen in ihrer Klasse, der zu Hause für seine Zeichnung mit Lob überschüttet worden war. Eines Tages sagte der Junge zu ihr: «Ich bin kein grossartiger Zeichner. Meine Mutter sagt zwar, dass ich das sei, aber ich weiss, dass andere besser sind als ich.»

Die drei Pfeiler für ein gesundes Selbstbewusstsein

Wie können denn Eltern und Lehrpersonen das Selbstbewusstsein von Kindern auf gesunde und wirksame Weise stärken? Basierend auf Forschungen in Entwicklungspsychologie und Erziehungswissenschaften haben meine Kollegen und ich drei Pfeiler für ein gesundes Selbstbewusstsein ausgemacht, die zu Hause und in der Schule verstärkt werden können:

  • Wachstum: Kinder haben von selbst den Wunsch, sich zu verbessern. Wenn man ihnen hilft, zu erkennen, wie sehr sie sich über die Zeit verbessert haben, kann das ihr Selbstbewusstsein stärken, ihren Lernwillen fördern und ihnen das Gefühl von Fortschritt und Erkenntnis geben.
  • Realismus: Kinder brauchen ein realistisches Feedback über ihre Leistungen, Anstrengungen und Strategien, damit sie ihre Fähigkeiten verbessern und ihr Selbstbewusstsein entwickeln können. Insbesondere wenn Kinder in einer Sache wirklich gut sind, profitieren sie wahrscheinlich von konstruktiver Kritik mehr als von unterschiedslosem Lob. Wenn wir konstruktive Kritik üben, müssen wir hohe Standards setzen. Und wir müssen zeigen, dass wir an die Fähigkeit der Kinder glauben, diese Standards erreichen zu können.
  • Robustheit: Wenn Kinder scheitern oder Fehler machen, haben sie häufig Angst, dass andere sie nicht mehr akzeptieren oder wertschätzen. Indem wir Kindern vermitteln, dass wir sie bedingungslos akzeptieren und wertschätzen, können wir ein robustes Selbstwertgefühl kultivieren, das bei Rückschlägen nicht sofort zusammenbricht. Wenn Kinder ihre Ziele nicht erreichen, sollten wir nicht ihre Fähigkeiten infrage stellen, indem wir beispielsweise sagen: «Es ist okay, nicht alle können gut in Mathematik sein.» Vielmehr sollten wir weiterhin unser Vertrauen ausdrücken, dass sie das Potenzial haben, zu lernen, und das Scheitern als Gelegenheit zum Lernen werten.

Wenn wir wollen, dass Kinder mit sich selbst glücklich sind, loben wir sie reflexartig. Doch Lob ist unter Umständen nicht das wirkungsvollste Mittel, um das Selbstbewusstsein zu stärken. Bevor wir ein Kind loben, sollten wir innehalten und sorgfältig darüber nachdenken, welche Botschaft wir damit senden. Wollen wir, dass es Kindern wichtig ist, wie wir sie beurteilen? Oder wollen wir, dass sie aus sich heraus neugierige Lernende werden, welche die Herausforderung suchen und bei Rückschlägen nicht aufgeben?

Dieser Text erschien zuerst in englischer Sprache auf BOLD – Blog on Learning and Development.

BOLD

Die Plattform BOLD, eine Initiative der Jacobs Foundation, hat sich zum Ziel gesetzt, einer weltweiten und breiten Leserschaft näherzubringen, wie Kinder und Jugendliche lernen. Spitzenforscherinnen wie auch Nachwuchswissenschaftler teilen ihr Expertenwissen und diskutieren mit einer wissbegierigen Leserschaft, wie sich Kinder und Jugendliche im 21. Jahrhundert entwickeln und entfalten, womit sie zu kämpfen haben, wie sie spielen und wie sie Technologien nutzen.

Mehr lesen: www.bold.expert

Eddie Brummelman
ist ausserordentlicher Professor an der Universität Amsterdam, Jacobs Foundation Research Fellow 2021–2023 und Mitglied bei The Young Academy der Royal Netherlands Academy of Arts and Sciences. Brummelmans Forschung ist am Schnittpunkt von Entwicklungspsychologie und Erziehungs­wissenschaften angesiedelt. Er forscht zum Thema des sich entwickelnden Selbst.

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