Wie drücken Kinder mit einer Sprachstörung ihre Gefühle aus?
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Wie können Kinder mit einer Sprachstörung ihre Gefühle ausdrücken?

Lesedauer: 3 Minuten

Kinder mit Sprachstörungen brauchen Unterstützung, um ihre Emotionen zu bewältigen. Was Eltern und Lehrpersonen tun können.

Text: Sarah Griffiths
Bild: Adobe Stock

Wie fühlt sich ein Kind, wenn es in der Schule einen schlechten Tag hatte? Um das herauszufinden, drängt sich die einfache Frage auf: «Möchtest du darüber reden?» Doch sind alle Kinder in der Lage, eine solche Frage auch zu beantworten? Was, wenn ein Kind beispielsweise eine Sprachstörung hat? Solche Störungen können die Fähigkeit eines Kindes beeinträchtigen, mithilfe von Sprache Gefühle so auszudrücken und zu bewältigen, wie Erwachsene es üblicherweise tun. 

Ein wirksames Mittel zur Emotionsregulation sind Selbstgespräche. Sie können dabei helfen, sich von negativen Ereignissen zu distanzieren. Wenn man beispielsweise in einem Test versagt, sagt man sich vielleicht: «Dieses Resultat spielt langfristig keine Rolle.» So kann man ein Ereignis relativieren, was einem hilft, sich besser zu fühlen. 

Dieser Effekt konnte in mehreren Studien belegt werden. So wurden beispielsweise in einer amerikanischen Studie aus dem Jahr 2020 den Teilnehmenden verstörende Bilder gezeigt. Die Teilnehmenden, die distanzierende Selbstgespräche führten, waren danach weniger erschüttert, als diejenigen, die keine Selbstgespräche führten. Sie fühlten sich besser, wenn sie seltener in der ersten Person (ich, wir) sprachen und weniger Verben im Präsens verwendeten. Je stärker sie sich mithilfe dieser Sprachtechniken distanzierten, umso besser ging es ihnen. 

Nun wissen wir aber, dass Kinder bei Weitem nicht so erfolgreich sind wie Erwachsene, wenn es darum geht, solche Sprachstrategien zur Emotionsregulation anzuwenden. Eine wirksame Technik zur Emotionsregulation ist das «temporale Distanzieren». Das heisst, gegenwärtige negative Ereignisse werden aus der Sicht des zukünftigen Ichs betrachtet.

Strategien zur Regulation der Emotionen

Meine Kollegen und ich wollten mehr über die Fähigkeit von Kindern erfahren, diese Technik anzuwenden. Zu diesem Zweck baten wir eine Gruppe von zehn- bis zwölfjährigen Kindern und eine Gruppe junger Erwachsener, sich ein negatives Szenario wie «du fällst in einer wichtigen Prüfung durch» vorzustellen. Danach sollten sie ihre Gefühle bewerten – einmal in dem Moment, in dem dieses Szenario geschieht und einmal, nachdem sie sich selbst viele Jahre später vorgestellt hatten.

Im Vergleich zu Erwachsenen wiesen Kinder einen geringeren Unterschied im Stressniveau zwischen dem gegenwärtigen und dem späteren Moment auf. Daraus schliessen wir, dass Kinder ihre Emotionen weniger gut über temporale Distanzierung regulieren können als Erwachsene. Das könnte daran liegen, dass Erwachsene besser darin sind, sich durch Selbstgespräche zu distanzieren. 

Kinder lernen Strategien zur verbalen Emotionsregulation wie temporale Distanzierung von Betreuungspersonen über die verbale Kommunikation. Für Kinder mit Kommunikationsschwierigkeiten ist es aber besonders herausfordernd, die Anwendung verbaler Regulationsstrategien zu erlernen. In England leiden im Schnitt in jeder Klasse zwei Kinder an einer oft nicht diagnostizierten Sprachentwicklungsstörung (SES).

Charakteristisch für SES sind Schwierigkeiten, sich verbal auszudrücken oder gesprochene Sprache zu verstehen. Nicht dazu zählen biomedizinische Diagnosen wie Gehörlosigkeit oder Autismus. Kinder mit SES erleben doppelt so häufig psychische Probleme wie Angststörungen und Depressionen als Kinder mit einer typischen Sprachentwicklung. Dies könnte zum Teil daran liegen, dass es für sie schwierig ist, verbale Strategien zur Emotionsregulation zu nutzen.

Verbale Strategien zur Emotionsregulation können ebenso von Vorbildern wie Eltern und Lehrpersonen erlernt werden.

In unserer vorher erwähnten Studie sollten die Kinder über ihre emotionalen Zustände reflektieren und sich dazu äussern sowie sich die Zukunft vorstellen. Ein Viertel der Kinder mit einer Sprachstörung konnte diese Aufgabe zur temporalen Distanzierung nicht zu Ende führen, weil sie Schwierigkeiten hatten, die Instruktionen zu verstehen. Diese Kinder könnten es ähnlich herausfordernd finden, sich im realen Leben über Emotionen zu unterhalten. Das macht es für sie schwierig, von traditionellen Angeboten wie Gesprächen mit Pädagogen oder Schulsozialarbeitern zur Unterstützung ihrer psychischen Gesundheit zu profitieren.

Um Kindern mit Sprachstörungen dabei zu helfen, ihre psychische Gesundheit aufrechtzuerhalten, könnten Lehrkräfte und Betreuungspersonen ihnen gezielt die Sprache beibringen, welche die Emotionsregulation unterstützt. Dazu gehören sowohl ein Vokabular der Emotionen als auch eine Syntax, das heisst ein Satzbau, die beziehungsweise der Ereignisse mit Gefühlen verbindet. Zum Beispiel: «Ich bin traurig, weil ich in der Schule zurechtgewiesen wurde.»

Vokabular ist entscheidend

Verbale Strategien zur Emotionsregulation wie distanzierende Selbstgespräche können ebenso von Vorbildern wie Eltern und Lehrpersonen erlernt werden. In unserer Studie waren Kinder mit SES, welche die Instruktionen der Aufgabe befolgen konnten, bei ihrer Emotionsregulation erfolgreich. Das weist darauf hin, dass Kinder mit SES ihre Emotionen wirksam bewältigen können, sobald sie über das notwendige Vokabular und geeignete Syntax verfügen.

Das gezielte Unterrichten eines Vokabulars der Emotionen und verbaler Regulationsstrategien kann Kindern dabei helfen, ihre Emotionen auszudrücken und zu bewältigen, und zwar unabhängig davon, ob sie an einer diagnostizierten Sprachstörung leiden oder nicht. Mit diesen Fähigkeiten ausgerüstet kann ein Kind, das einen schlechten Tag in der Schule hatte, darüber sprechen, sich davon distanzieren und sich schlussendlich besser fühlen. 

Dieser Text erschien zuerst in englischer Sprache auf der Plattform BOLD.

BOLD

Die Plattform BOLD, eine Initiative der Jacobs Foundation, hat sich zum Ziel gesetzt, einer weltweiten und breiten Leserschaft näherzubringen, wie Kinder und Jugendliche lernen. Spitzenforscherinnen wie auch Nachwuchswissenschaftler teilen ihr Expertenwissen und diskutieren mit einer wissbegierigen Leserschaft, wie sich Kinder und Jugendliche im 21. Jahrhundert entwickeln und entfalten, womit sie zu kämpfen haben, wie sie spielen und wie sie Technologien nutzen.

Mehr lesen: www.bold.expert

Sarah Griffiths
Ist Dozentin in der Abteilung Sprache und Kognition des Bereichs Psychologie und Sprachwissenschaften am University College London UCL. Sie ist Mitglied des LiLac Lab, das die Studie «Surrey Communication and Language in Education» durchführt, eine zehnjährige Längsschnittstudie zur Sprachentwicklung bei Kindern und damit zusammenhängenden Auswirkungen. Sie hat einen Doktortitel in Psychologie der Universität Bristol, wo sie Emotionserkennung bei Menschen mit Autismus-Spektrum-Störungen erforscht hat.

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