Digitaler Wandel bedeutet eine Transformation der Schule
Einfach digitale Geräte im Unterricht einzusetzen, reicht nicht aus. Es braucht ein Umdenken in der Art, wie gelernt und gelehrt wird, aber auch in der Organisation der Schule und ihrer Kooperation und Kommunikation mit den Eltern.
Im Wochentakt höre ich von Volksschulen in der Schweiz, die auf eine sogenannte Eins-zu-eins-Ausstattung wechseln. Dies bedeutet, dass jedes Kind ein persönliches elektronisches Gerät erhält. Eigentlich ein Grund zur Freude, denn das heisst, dass die Digitalisierung in der Schule angekommen ist.
Aber so einfach ist es nicht. Beim genauen Hinschauen sind zwei Arten erkennbar, wie der digitale Wandel – innerhalb des gesetzlichen Rahmens – durch die Schulen interpretiert wird.
Der scheinbar einfache Prozess der Integration digitaler Geräte stellt die Schulen bereits vor grosse Herausforderungen.
Der auf den ersten Blick einfachere (und meist gewählte) Weg ist die Integration: Der Unterricht läuft ähnlich weiter wie bis anhin. Die digitalen Geräte ersetzen im Klassenunterricht herkömmliche Werkzeuge. Rechenaufgaben werden auf dem Tablet gelöst; die Kinder erhalten nun unmittelbares Feedback. Die Englischwörter werden digital geübt; neu ist, dass die Kinder die Wörter beim selbständigen Üben anhören können und sich somit die Aussprache richtig einprägen können. Zudem bestimmt ein cleverer Algorithmus, welches Wort wann wiederholt werden muss. Vielleicht steht die Klasse sogar im Austausch mit einer englischsprachigen Klasse und kommuniziert mit dieser per Mail.
Die Geräte werden meistens nur dann genutzt, wenn die Lehrperson dazu auffordert. Ansonsten bleiben sie oft unter dem Tisch verstaut. Einige Lehrpersonen legen ihre Unterrichtsmaterialien auf dem gemeinsamen Server ab, andere nicht.
Dieser scheinbar einfache Prozess der Integration stellt die Schulen bereits vor grosse Herausforderungen: Die Geräte und die gesamte Infrastruktur müssen funktionieren, ein effektiver Support (technisch und pädagogisch) muss vorhanden sein. Die Lehrpersonen müssen sich einigermassen sicher in der digitalen Welt bewegen.
Erst die nächste Stufe, die ich leider bislang selten erlebe, kann man meines Erachtens als digitalen Wandel bezeichnen. Dabei steht einerseits die Unterrichtsentwicklung im Vordergrund; andererseits wird die ganze Organisation berücksichtigt.
Im Zentrum der Unterrichtsentwicklung stehen folgende Fragen: Was verstehen wir heute unter Lernen und Lehren, unter Bildung? Wie können wir gewährleisten, dass die Kinder lernen, sich unter den heutigen Voraussetzungen sicher zu bewegen? Wie können wir ihre Sozialkompetenz und ihre Empathiefähigkeit stärken? Sind Stundenpläne, in denen jede Dreiviertelstunde das Fach gewechselt wird, noch zeitgemäss? Ergibt das Lernen in alterssortierten Klassen noch Sinn? Ist es nicht eine grundlegende Kompetenz, dass die Kinder selbst entscheiden und reflektieren, wann sie mit einem digitalen Gerät arbeiten und wann nicht?
Diese Fragen lassen sich nicht auf die Schnelle beantworten oder von oben verordnen. Sie benötigen eine intensive Auseinandersetzung der Lehrpersonen und anderer Beteiligter mit ihrem Berufsverständnis und die Bereitschaft, sich ernsthaft und selbstkritisch mit den eigenen Werten und Haltungen auseinanderzusetzen. Die Kultur im Team wird zentral: Wie entsteht an einer Schule ein gemeinsames Mindset, das derart tragfähig ist, dass auch Unsicherheiten und Rollenwechsel ausgehalten werden?
Viele Eltern halten an ihrem eigenen Bild von Schule fest
Bei einer solchen agilen digitalen Transformation, wie sie sich in der Wirtschaft oft abspielt, hat zudem die Fehlerkultur einen hohen Stellenwert. Genau hier jedoch zeichnet sich für die Schule ein Paradox ab: Kann und darf es sich eine Schule leisten, Fehler zu machen, wenn es um die Schülerinnen und Schüler geht?
Genauso wichtig wie die Entwicklung des Unterrichts ist es, die ganze Organisation einer Schule zu betrachten. Zentrale Themen dabei sind die Kommunikation und die Kooperation. Viele Schulen, die sich auf den Weg des digitalen Wandels machen, vernachlässigen die Kommunikation mit den Eltern und der Öffentlichkeit. Das ist leider oft verheerend: Alle Menschen in der Schweiz haben eine eigene Schulkarriere hinter sich und halten oft an ihrem Bild der Schule fest, auch wenn sie selbst schlechte Erfahrungen damit machten.
Ist es nicht eine grundlegende Kompetenz, dass die Kinder selbst entscheiden, wann sie mit einem digitalen Gerät arbeiten und wann nicht?
Die Bevölkerung muss abgeholt und mitgenommen werden, damit ein Wandel stattfinden und gelingen kann. Die Zusammenarbeit erachte ich als immer wichtiger werdenden Aspekt: Mitarbeitende in der Schule, seien es Lehrpersonen, Schulleitungen oder Therapiepersonal, müssen lernen, stärker und intensiver miteinander zu arbeiten – innerhalb der eigenen Schule wie auch in einem weiteren Umfeld von Beteiligten.
Wieso aber habe ich eingangs gesagt, dass ich die Integration der digitalen Geräte nur auf den ersten Blick als einfacher erachte? Ganz einfach: Weil dieses System auf Dauer nicht funktionieren wird. Die Reibungsflächen zwischen Lehrpersonen und Schülerinnen und Schülern oder zwischen Eltern und Schulleitungen werden kontinuierlich zunehmen. Denn Eltern und Schülerinnen und Schüler leben längst in einer anders funktionierenden Welt. Diese Dissonanz werden sie nicht allzu lange akzeptieren.
Ein Wandel, der auf allen Ebenen der Schulentwicklung stattfindet, ist zwar anstrengend und braucht Zeit. Aber: Er lohnt sich.
Die Plattform BOLD, eine Initiative der Jacobs Foundation, hat sich zum Ziel gesetzt, einer weltweiten und breiten Leserschaft näherzubringen, wie Kinder und Jugendliche lernen. Spitzenforscherinnen wie auch Nachwuchswissenschaftler teilen ihr Expertenwissen und diskutieren mit einer wissbegierigen Leserschaft, wie sich Kinder und Jugendliche im 21. Jahrhundert entwickeln und entfalten, womit sie zu kämpfen haben, wie sie spielen und wie sie Technologien nutzen.
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