Gene entscheiden über den Schulerfolg – aber anders, als wir denken
Jasmin Wertz ist Entwicklungspsychologin und erforscht, wie Erziehung und genetische Anlage die Entwicklung von Kindern beeinflussen. Sie arbeitet in der Abteilung für Psychologie und Neurowissenschaften an der Duke University in Durham, North Carolina (USA).
Vor zwei Jahren bin ich Mutter geworden. Bereits während meiner Schwangerschaft und seit der Geburt meiner Tochter haben mich Familienmitglieder, Kinderärzte und Zeitungsartikel mit Ratschlägen überhäuft, wie ich die Entwicklung meiner Tochter optimal fördern kann.
Wenn ich viel mit ihr spreche, wenn ich ihr regelmässig vorlese, wenn ich mit ihr Museen und Büchereien besuche – so lautet der Rat –, erhöhe ich ihre Chancen, erfolgreich durchs Leben zu gehen. Hinter diesen Empfehlungen steckt der verbreitete Glaube, dass Eltern durch ihr Verhalten die Entwicklung ihrer Kinder beeinflussen.
Neben meiner Rolle als Mutter bin ich Forscherin. In meiner Arbeit beschäftige ich mich mit dem Einfluss von Erziehung und genetischer Anlage auf die Entwicklung von Kindern. Deshalb weiss ich, dass Erziehung nicht der einzige Weg ist, auf dem Eltern die Entwicklung ihrer Kinder beeinflussen. Ein weiterer Faktor sind Erbanlagen. Eltern vererben ihren Kindern einen Teil ihrer Gene, und diese haben einen Einfluss darauf, wie Kinder sich entwickeln – vom Schulerfolg bis zum Risiko für Verhaltensstörungen.
Die Bedeutung der Gene wurde erstmals durch Adoptiv- und Zwillingsstudien bekannt, in denen zum Beispiel gezeigt wurde, dass getrennt adoptierte eineiige Zwillinge trotz ihrer unterschiedlichen familiären Umfelder beachtliche Gemeinsamkeiten in ihrem Verhalten aufwiesen. Seit einigen Jahren ist es ausser dem möglich, Varianten im Erbgut direkt zu messen und ihre Rolle für menschliches Verhalten zu unter suchen.
Wie spielen Gene und Umfeld zusammen?
Wenn öffentlich debattiert wird, ob nun Erziehung oder Gene stärker wirken, stellt man die beiden Faktoren oft als Konkurrenten dar: Erziehung versus Gene. Die Realität sieht ganz anders aus. Es ist wahrscheinlich, dass das familiäre Umfeld und die genetischen Anlagen die Entwicklung eines Kindes in engem Zusammenspiel beeinflussen.
Die vorherrschende Sichtweise auf die Rolle der Gene für die Entwicklung ist einseitig: Oft wird vermutet, dass Gene ihren Einfluss ausüben, indem sie nur die Biologie und das Verhalten desjenigen Menschen beeinflussen, der die Gene geerbt hat. Ein Beispiel dafür wäre, dass die Gene meiner Tochter die Entwicklung ihres Gehirns beeinflussen und dies Konsequenzen für ihr Verhalten hätte.
Anlage und Umwelt sind eng miteinander verwoben
Neueste Studien zeigen uns aber, dass Gene auch einen indirekten Einfluss ausüben, indem sie das Verhalten der Menschen beeinflussen, die ein Kind umgeben. Meine eigenen Gene beispielsweise beeinflussen mein Verhalten gegenüber meiner Tochter auf eine Art und Weise, die ihre Entwicklung prägt. Sprich, Gene und Erziehung üben ihren Einfluss in einem komplexen Zusammenspiel gemeinsam aus.
Um mehr über dieses Zusammenspiel von Genen und Verhalten der Eltern zu erfahren, habe ich kürzlich mit meinen Kollegen eine Gruppe von 860 britischen Müttern und Kindern untersucht. Unser Team besuchte diese Familien regelmässig, beginnend im fünften Lebensjahr der Kinder bis hinein ins frühe Erwachsenenalter.
Während der Kindheit wurden umfassende Daten über das Verhalten der Mütter gegenüber ihren Kindern gesammelt, etwa darüber, ob die Mütter ihre Kinder geistig förderten, zum Beispiel durch das Vorlesen von Büchern, und ob sie sich ihren Kindern gegenüber sensibel und liebevoll verhielten, beispielsweise durch in den Arm nehmen. Als die Kinder das 18. Lebensjahr erreicht hatten, sammelten wir Informationen über ihren bisherigen Schulerfolg.
Zusätzlich zu diesen Daten massen wir Genvarianten im Erbgut der Mütter und Kinder. Wir konzentrierten uns auf eine Kombination von mehreren Millionen Varianten, die in vorherigen Studien mit dem Bildungserfolg von Menschen in Verbindung gebracht worden waren: Die Studienteilnehmer mit einer grösseren Anzahl dieser Genvarianten erzielten einen höheren Schulerfolg – zwar war ihr Vorsprung gering, aber klar messbar.
Mütter, die genetisch eine höhere Veranlagung für Bildungserfolg trugen, förderten auch ihre Kinder in
einem grösseren Ausmass.
Die Ergebnisse unserer Analysen zeigen eine enge Verzahnung von Erziehung und Genen, die gemeinsam den Schulerfolg von Kindern beeinflussen. Die Mütter, die genetisch eine höhere Veranlagung für Bildungserfolg trugen, zeigten auch in ihrem Verhalten geringe, aber messbare Tendenzen, den Schulerfolg ihrer Kinder zu begünstigen.
Dies zeigte sich besonders darin, dass sie ihre Kinder in grösserem Ausmass geistig förderten. Dies hatte Folgen für den späteren Schulerfolg: Die Kinder dieser Mütter besuchten die Schule länger und hatten etwas bessere Noten. Bemerkenswert daran war, dass der Einfluss der mütterlichen Gene auf den Schulerfolg der Kinder unabhängig davon erfolgte, ob Kinder diese Gene von ihren Müttern auch geerbt hatten.
Anders ausgedrückt: Kinder von Müttern, deren Gene den Bildungserfolg begünstigten, hatten einen Vorteil, der über das Erben dieser Gene hinausging, weil sie zusätzlich in einem förderintensiveren Familienumfeld aufwuchsen.
Welche Erkenntnisse bringt diese Studie?
Zusammengefasst können wir zeigen, dass Gene das Verhalten von Kindern nicht nur durch die bekannten Prozesse der Vererbung beeinflussen, sondern auch indirekt über das Umfeld, zum Beispiel das Verhalten der Eltern. Es ist aber bekannt, dass das Umfeld der Kinder auch durch ergänzende fördernde Massnahmen positiv beeinflusst werden kann, beispielsweise durch qualitativ hochwertige externe Kinderbetreuung, Schulhilfen und Elternkurse. Ein Fazit unserer Studie ist daher, dass es wichtig ist, solche Angebote allen Familien leicht zugänglich zu machen, um Chancengleichheit für jedes Kind sicherzustellen, unabhängig vom genetischen Hintergrund.
Eine weitere Schlussfolgerung unserer Studie ist, dass Anlage und Umwelt sehr viel enger miteinander verwoben sind, als oft angenommen wird. Um die Entwicklung von Kindern besser zu verstehen, ist es daher wichtig, beide Faktoren gemeinsam zu untersuchen.
Die Plattform BOLD, eine Initiative der Jacobs Foundation, hat sich zum Ziel gesetzt, einer weltweiten und breiten Leserschaft näherzubringen, wie Kinder und Jugendliche lernen. Spitzenforscherinnen wie auch Nachwuchswissenschaftler teilen ihr Expertenwissen und diskutieren mit einer wissbegierigen Leserschaft, wie sich Kinder und Jugendliche im 21. Jahrhundert entwickeln und entfalten, womit sie zu kämpfen haben, wie sie spielen und wie sie Technologien nutzen.
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