Legasthenie: Förderung bereits im Kindergarten notwendig
Mithilfe von Gehirnscans untersucht Neurowissenschaftler John Gabrieli, was Kinder mit einer Lese-Rechtschreib-Störung von anderen unterscheidet. Das könnte den Weg für neue Interventionen ebnen.
Herr Gabrieli, was weiss die Neurowissenschaft über Legasthenie und wie hat sich das Wissen über die Jahre verändert?
Die Ursachen für die Legasthenie oder Lese-Rechtschreib-Störung, die in verschiedenen Ausprägungen zehn bis zwölf Prozent aller Kinder betrifft, sind noch nicht restlos geklärt. Man glaubte früher, das Hauptproblem bestehe in der Einführung einer visuellen Komponente der Sprache: Schliesslich lernt ein betroffenes Kind zu Hause problemlos sprechen, hat dann jedoch in der Schule Schwierigkeiten mit der geschriebenen Sprache.
Und heute?
Heute ist man sich weitgehend einig, dass das Auftreten einer Legasthenie in der Regel etwas mit der Verarbeitung der gesprochenen Sprache zu tun hat. So verfügen manche Kinder über mangelnde phonologische Bewusstheit, eine Fähigkeit, durch die wir explizit verstehen, dass ein Wort aus mehreren Lauten besteht. Kinder, die diese Kompetenz nicht entwickeln, haben Schwierigkeiten, Laute mit geschriebenen Buchstaben und ihnen bekannten Wörtern in Verbindung zu bringen.
Geht diese mangelnde phonologische Bewusstheit mit wahrnehmbaren Unterschieden in der Struktur oder Funktionsweise des Gehirns einher?
Es gibt einige Hinweise darauf, dass mindestens zwei für das Lesen wichtige Hirnbereiche bei Kindern mit schwacher Lesekompetenz anders funktionieren, was sich nachteilig auswirkt. Beide Bereiche befinden sich in der linken Gehirnhälfte, die unter anderem für die Sprachkompetenz zuständig ist und mit zunehmender Erfahrung fürs Lesen immer wichtiger wird. Ein Teil des linken Temporallappens ist für das Erkennen geschriebener Sprache zuständig, ein Bereich im Parietallappen für die Verbindung von Laut und Schrift.
Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass diese Hirnbereiche bei Kindern und Erwachsenen mit Legasthenie anders funktionieren. Ausserdem wurde nachgewiesen, dass sich die Anatomie des Gehirns bei legasthenischen Kindern in manchen Aspekten von anderen unterscheidet. Diese Unterschiede treten schon vor dem Schuleintritt auf, teils bereits im ersten Lebensmonat.
Ihr Forschungslabor hat kürzlich eine Studie zur Gehirnplastizität bei Menschen mit Legasthenie veröffentlicht. Was haben Sie herausgefunden?
Bei Personen mit normaler Lesefähigkeit verarbeitet das Gehirn wiederholt Gesehenes oder Gehörtes immer effizienter. Bereits nach der zweiten, dritten oder vierten Wiederholung erkennt man diese Effizienz an einer niedrigeren Gehirnaktivierung als Reaktion auf die entsprechenden Reize.
Und bei Personen mit einer Leseschwäche?
Mithilfe von Magnetresonanztomografie (MRT) konnten wir sehen, dass das Gehirn von legasthenischen Erwachsenen und Kindern auf wiederholte auditive oder visuelle Reize viel weniger anpassungsfähig reagiert. Das lässt auf mehr Rigidität und weniger Plastizität schliessen. Zu diesen Reizen zählten auch gesprochene und geschriebene Wörter. Man kann davon ausgehen, dass eine weniger effiziente Verarbeitung solcher Informationen für das Lesenlernen von Nachteil ist.
Überrascht hat uns, dass die geringere Plastizität auch Aspekte betraf, die mit dem Lesen nichts zu tun haben, wie das Erkennen von Gesichtern und Objekten. Da man Menschen mit Legasthenie bisher nicht mit Schwierigkeiten bei der Gesichts- oder Objekterkennung in Verbindung gebracht hat, ist uns dieses Resultat ein Rätsel.
Ein Jahr zuvor haben Studien gezeigt, dass Legastheniker es schwieriger finden, Stimmen zu erkennen. Hat das ebenfalls mit einer geringeren Gehirnplastizität zu tun?
Ja. Und dieses Forschungsergebnis hat den Anstoss für die neue MRT-Studie gegeben. Wir fanden heraus, dass Legastheniker im Vergleich zur Kontrollgruppe Stimmen schlechter erkennen, und wollten wissen, wie es sich mit der Gehirnplastizität verhält, die den Lernprozess unterstützt.
Welche Frühinterventionen gibt es für Kinder mit Legasthenie?
Es gibt Leseprogramme in Kleingruppen mit einer speziell dafür ausgebildeten Lehrperson. Dort geht es um die Wahrnehmung der einzelnen Sprachlaute und um die Verbindung zwischen Laut und Schrift. Das ist also ein recht direkter Ansatz. Fast alle Kinder lernen das ohnehin in der Schule als Teil des Lehrplans, aber manche brauchen eben ein bisschen mehr Hilfestellung.
Leider ist es in unserem Schulsystem üblich, erst zu reagieren, wenn es zu spät ist.
Helfen diese überhaupt?
Es gibt überzeugende Hinweise darauf, dass Interventionen dieser Art am wirksamsten sind, wenn sie im Kindergarten oder in der 1. Klasse eingesetzt werden. Mit jedem weiteren Schuljahr helfen sie den Schülern weniger. Je schneller wir Legastheniker identifizieren und unterstützen, desto besser ist das für sie. Leider ist es in unserem Schulsystem üblich, erst zu reagieren, wenn es zu spät ist.
Wohlmeinende Lehrer können sich nicht entscheiden, ob ein Schüler tatsächlich ein Leseproblem hat, bis er so weit hinterherhinkt, dass das Problem zur Krise wird. Das ist tragisch, denn so verpassen diese Kinder nicht nur die Chance auf frühzeitige Unterstützung, sondern bekommen auch das Gefühl, in der Schule zu versagen. Schüler, die weit hinter der Leistung ihrer Klassenkameraden zurückliegen und mit dem Unterrichtsstoff kämpfen, verlieren ihren Optimismus und ihr Selbstvertrauen in Bezug auf die schulische Leistungsfähigkeit.
Glauben Sie, dass Ihre Forschungsergebnisse zu einer Verbesserung der aktuellen Interventionen beitragen könnten?
Wenn wir künftig Unterschiede im Gehirn bereits kurz nach der Geburt feststellen, sind wir in der Lage, ganz neue Interventionen zu entwickeln, die bereits zu Hause eingesetzt werden könnten. Das wäre zwar zunächst nur ein Versuch, doch womöglich bekämen Kinder dann bereits vor der Einschulung Unterstützung.
An Tieren erforscht man derzeit die spannende Möglichkeit, Medikamente zur Förderung der Plastizität zu entwickeln – das ist allerdings für den Einsatz beim Menschen noch nicht geeignet. Es ist schwer vorstellbar, dass es einmal Arzneimittel geben könnte, die sich direkt auf die Sprachkompetenz auswirken, doch Medikamente zur Förderung der Plastizität sind durchaus denkbar. Bevor eine derartige Behandlung beim Menschen in Betracht gezogen werden kann, müssten allerdings zunächst einige ethische Fragen geklärt werden.
Dieser Text erschien zuerst in englischer Sprache auf BOLD – Blog on Learning and Development.
Die Plattform BOLD, eine Initiative der Jacobs Foundation, hat sich zum Ziel gesetzt, einer weltweiten und breiten Leserschaft näherzubringen, wie Kinder und Jugendliche lernen. Spitzenforscherinnen wie auch Nachwuchswissenschaftler teilen ihr Expertenwissen und diskutieren mit einer wissbegierigen Leserschaft, wie sich Kinder und Jugendliche im 21. Jahrhundert entwickeln und entfalten, womit sie zu kämpfen haben, wie sie spielen und wie sie Technologien nutzen.
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