«Schüler profitieren, wenn sie mehr Verantwortung erhalten»
Teenager könnten viel von Gleichaltrigen lernen und Lehrpersonen müssten lernen, sich zurückzuhalten, sagt Lehrerin Renée Lechner im Interview.
Was hat Sie dazu bewogen, Ihre Schülerinnen Workshops für jüngere Schüler anbieten zu lassen?
Während meines Sabbaticals bei Microsoft in den USA wurde mir klar, wie rückständig wir in der Schweiz bezüglich der Anwendung digitaler Technologien sind. Meine Schülerinnen bereiten sich auf eine Berufskarriere vor. Es spielt keine Rolle, wohin sie nach ihrem Schulabschluss gehen, sie werden überall direkt oder indirekt mit Digitalisierung zu tun haben. Aus der Entwicklungspsychologie wissen wir, dass Teenager eher auf Gleichaltrige hören und von ihnen lernen, als von Erwachsenen. Vor diesem Hintergrund schien es mir sinnvoll, meine Schüler Workshops zu Themen der Digitalisierung für leicht jüngere Schülerinnen organisieren zu lassen.
Wie passt das in den Lehrplan?
Als Schule, die die Schüler auf eine Karriere in der Wirtschaft vorbereitet, bieten wir die Möglichkeit, praktische Erfahrungen mit der Gründung eines Unternehmens zu sammeln. Früher mussten unsere Schülerinnen ihre eigenen kleinen Unternehmen gründen, Produkte herstellen und diese an ihre Mitschüler verkaufen. Doch das hat mit der realen Wirtschaft wenig zu tun. Dieses Projekt verlangt von meinen Schülerinnen, dass sie sich mit anderen Menschen auseinandersetzen und ihnen helfen, Fähigkeiten für das Berufsleben zu entwickeln.
Es ist nützlich für sie, nicht nur von Lehrpersonen zu lernen, sondern von anderen Menschen. Über das Start-up-Netzwerk Startfeld in St. Gallen konnten die Schüler bei der Planung ihrer Workshops mit anderen Leuten zusammenarbeiten. Mit Leuten, die zum Beispiel ein Smart-Home-Start-up hatten oder über Erfahrung in Robotik verfügten.
Die Schülerinnen nutzten auch digitale Kanäle und professionelle Tools und eigneten sich das Wissen über die entsprechenden Programme an. Sie entwickelten einen Businessplan, fanden Möglichkeiten, ihre Workshops zu bewerben und entwarfen Flyer und Werbematerial.
Wir gründeten eine Gesellschaft nach Schweizer Recht, unter deren Namen die Workshops durchgeführt wurden. Damit erhielten die Schüler Einblick in die entsprechenden Gesetze und die Strukturen, die es zur Gründung einer solchen Gesellschaft braucht.
Im Projekt «Digitalisierung: Peer-to-Peer-Learning» haben die Schüler mit Beraterinnen aus Start-ups zusammengearbeitet, um die Workshops über digitale Technologien wie «Smart Home», Robotik und die Geschichte der Informationstechnologie zu entwickeln. Die Schüler budgetierten, vermarkteten und präsentierten ihre Workshops an Schülerinnen der 6. bis 9. Klasse.
«Digitalisierung: Peer-to-Peer-Learning» ist eines von zehn Projekten in der Schweiz, die von der Stiftung Educreators in der Ausschreibung «Shapers of the Future 2020» prämiert wurden. Die Siegerprojekte nutzen die digitale Transformation als Gelegenheit, um inspirierende Lernumgebungen zu schaffen. Die Initiative ist eine Zusammenarbeit zwischen der Gebert Rüf Stiftung, der Jacobs Foundation, der Stiftung Mercator Schweiz, der Beisheim Stiftung und Movetia.
Wie ist die erste Serie von Workshops gelaufen?
Wir starteten das Projekt vor zwei Jahren als Pilotprojekt ohne jede Finanzierung. Meine Klasse mit 19 Schülerinnen bekam sechs Monate Zeit, um die Workshops von null aufzubauen. Sie mussten zuerst die Ideen entwickeln, Ratschläge von Experten einholen und ein Budget für das benötigte Material erstellen.
Sie vermarkteten die einzelnen Veranstaltungen, schrieben zum Teil hunderte E-Mails an Lehrpersonen, hielten Testveranstaltungen ab und überarbeiteten die Inhalte. Das Interesse war riesig: Wir boten zehn Workshops über zehn Wochen an und waren nach zwei Wochen komplett ausgebucht.
Dann kam die Covid-19-Pandemie, welche meine Schülerinnen vor enorme Herausforderungen stellte. Sie mussten ihre Workshops auf ein Online-Format umstellen und Material für den Versand an die Schulen vorbereiten. Wie wir alle waren sie in dieser schwierigen Zeit frustriert, wenn die Workshops wegen technischer Probleme nicht perfekt waren. Doch wir haben es geschafft, und die Schüler haben wirklich einen grossartigen Job gemacht.
Zwei unserer Klassen mit insgesamt 38 Schülerinnen organisierten Workshops für das Schuljahr 2020/2021, die allerdings wegen der anhaltenden Pandemie nicht einfach waren. Es gab Beschränkungen hinsichtlich der Schülerzahl pro Raum, und die Workshops waren jeden Tag anders. Aber so lernten die Schülerinnen, flexibel zu sein, was eine gute Erfahrung für sie war.
Dieses Schuljahr werden wir nun endlich das Programm so durchführen, wie es ursprünglich geplant war. Die Workshops werden als Teil des regionalen Programms von Smartfeld zur Förderung der digitalen Bildung angeboten. Interessierte Lehrpersonen können für ihre Klassen bei meinen Schülern einen Workshop bestellen.
Was nehmen Ihre Schülerinnen aus dieser Erfahrung mit?
Zu Beginn der Ausbildung habe ich sehr positive Rückmeldungen von Arbeitgebern erhalten. Die Schülerinnen, die am Projekt «Peer-to-Peer-Learning» teilgenommen haben, können viel besser mit Menschen umgehen, als diejenigen, die nicht teilgenommen haben. Im Alter von 16 oder 18 sind sie es bereits gewohnt, sich mit Erwachsenen auszutauschen, und sie sind selbstsicherer geworden. Sie werden als Partner betrachtet und haben die nötigen Fähigkeiten erworben, ihre Arbeit wirkungsvoll zu präsentieren.
Der BOLD Blog, eine Initiative der Jacobs Foundation, hat sich zum Ziel gesetzt, einer weltweiten und breiten Leserschaft näherzubringen, wie Kinder und Jugendliche lernen. Spitzenforscherinnen wie auch Nachwuchswissenschaftler teilen ihr Expertenwissen und diskutieren mit einer wissbegierigen Leserschaft, wie sich Kinder und Jugendliche im 21. Jahrhundert entwickeln und entfalten, womit sie zu kämpfen haben, wie sie spielen und wie sie Technologien nutzen.
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